Читать книгу Auf der Flucht - mein Leben als Hells Angel - Jørn Nielsen - Страница 4
ОглавлениеDie beiden Männer standen nur fünfundzwanzig Meter von uns entfernt und hatten uns noch nicht gesehen. Sie schienen sich nicht ganz wohl in ihrer Haut zu fühlen und sie hielten eifrig Ausschau, während die Menschen an ihnen vorübereilten.
»Die sind offenbar nervös«, meinte David Martin mit einem vielsagenden Lächeln. »Wir sind aber auch spät dran.« Ich nickte und folgte ihm durch die Menschenmenge.
Jetzt entdeckten die beiden Männer uns. Ihre Gesichter leuchteten auf und sie kamen sofort auf uns zu. Der Anwalt und ich waren ja wohl kaum zu übersehen. David Martin reichte mir nur kurz über die Schultern und bewegte sich gelassenen Schrittes über den Steinboden des Flughafengebäudes. Dunkelhaarig und in einen tadellosen Anzug gewandet. In der Hand hielt er die obligatorische Aktentasche.
Ich – ja, ich sah eben so aus, wie ich in den letzten drei oder vier Jahren ausgesehen hatte. Kurze Haare und kurzer Bart, wenn auch eine Spur länger als normal. Ich hatte mich so nach und nach auf hundert Kilo hinaufgeschlichen und wirkte neben dem schmächtigen Anwalt sicher wie ein ziemlicher Bär. Meine Sporttasche, die mit der Aktentasche des Anwalts um die Wette baumelte, enthielt all mein Hab und Gut. Mir war das nur recht so.
Mit energischen Schritten gingen wir auf die beiden offiziell aussehenden Herren zu. »Haben Sie sich schon Sorgen gemacht?« fragte mein Anwalt.
Beide Männer starrten mich neugierig an. »Ein wenig«, antwortete der eine. Er arbeitete in der Einwanderungsabteilung des kanadischen Justizministeriums. Seinem herzlichen Tonfall konnte ich entnehmen, daß David Martin ihm bereits von früher her bekannt war. Sein Begleiter kam von den Flughafenbehörden. Wir wurden einander vorgestellt und wünschten höflich guten Tag. Mir tat es gut, wieder ich selbst zu sein.
Vancouver International Airport – die Höhle des Löwen. Jetzt führte kein Weg zurück.
Beim Sicherheitsdienst des Flughafens wurden wir von weiteren Beamten erwartet. Alle waren höflich und korrekt, was nicht nur an der Anwesenheit meines Anwalts lag. Kanadische Polizeiangehörige verhalten sich eben auf andere Weise reif und professionell als dänische, überlegte ich.
Der Mann vom Justizministerium stellte mich meinem »Reisebegleiter« vor, einem Mann mittleren Alters, der der Homicide Division in Vancouver angehörte, der Mordkommission.
Wir hatten abgemacht, daß sie mich fotografieren und meine Fingerabdrücke nehmen würden. Die dänische Polizei wollte ganz sichergehen können, daß ihnen da wirklich Jönke geliefert wurde. Und die kanadischen Behörden wollten sich vermutlich eine up to date-identification sichern, um festzustellen, ob ich mich während meines Aufenthaltes in ihrem Land daneben benommen hätte.
In dem Raum, in dem Akten und Kameras aufbewahrt wurden, wimmelte es nur so von Polizei. Sie trugen Zivil und rochen schon aus der Ferne nach E-squad. Das war die spezielle Biker-Polizei, deren Aufgabe es war, die MC-Vereine in British Columbia zu überwachen, in Kanadas westlichster Provinz also.
Es war noch eine Stunde bis zum Abflug, und der Anwalt und ich wurden in ein Wartezimmer geführt. Der Mann von der Einwanderungsbehörde legte mir ein langes Dokument vor, es begann mit »I, Jorn Nielsen« und war ansonsten ein ziemlicher Unsinn. Ich überflog die vielen Seiten und schob sie dann dem Anwalt hin. Er fand das überhaupt nicht komisch. Natürlich wollten die Behörden sichergehen, daß ich das Land freiwillig verließ, aber ich wollte deshalb doch keinen ganzen Roman unterschreiben. David Martin, der Mann von der Einwanderung und ein hochrangiger Offizier der R. C. M. P. – der Royal Canadian Mounted Police – verließen den Raum, um das Dokument zu kürzen.
Übrig waren noch die beiden vom E-squad, der Vertreter der Flughafenbehörde und ich. Ich hatte Süßigkeiten in den Taschen und bot den Jungs ein Bonbon an. Bald lutschten wir alle um die Wette. Die drei saßen mir gegenüber, auf der anderen Seite einer niedrigen Schranke. Ansonsten herrschte Schweigen. Das hielt jedoch nicht lange vor, denn die Polizisten fingen an, unruhig hin und her zu rutschen. Ich konnte sehen, daß sie vor Neugier brannten. »Wir wissen ja, daß du nicht mit uns sprechen willst, aber kannst du uns nicht einfach kurz erzählen, wie lange du schon in Kanada bist?« fragte der eine versuchsweise.
Ich lächelte, gab aber keine Antwort. Alle drei erwiderten mein Lächeln, und der Schnüffelpuffel machte einen weiteren Versuch. »Gefällt es dir in Kanada?« Wieder lächelte ich – ein wenig breiter als beim ersten Mal.
Der kahle Schädel des Polizisten funkelte im Neonlicht. Er versuchte, seine Verärgerung zu verbergen, und fing an, in seiner Aktentasche herumzuwühlen. »Einer deiner Brüder aus Dänemark ist auch hier. Hast du den schon getroffen?«
Verdammt, natürlich hatte ich meinen Bruder gesehen. Wir hatten uns während der letzten zwei Tage teuflisch gut amüsiert. Guter Versuch, Bullenschnulli.
Der E-squad-Mann zog ein Papier hervor. »Hamster«, las er vor und ich hätte fast laut losgeprustet. Die Situation war aber auch wirklich komisch. Er schaute mich auffordernd an und machte einen letzten Versuch. »Ich kann ja verstehen, daß du nicht mit uns reden und uns nicht sagen willst, wo du gesteckt hast, aber wenn du eben bestätigen könntest, daß du noch immer Mitglied …«
»He da. Wir haben abgemacht, daß ihr ihn nicht ausfragt!« David Martin betrat den Raum. Aus den zehn Seiten waren zwei geworden. Ich las sie durch und unterschrieb.
Anwalt und Polizisten begleiteten uns bis zur Sicherheitskontrolle. Wir verabschiedeten uns und ich bedankte mich für alle Hilfe.
Niemandem im Flugzeug fiel auf, daß ich hier mit einem Sheriff zusammensaß. Wir sahen aus wie alle anderen Fluggäste und nahmen unsere Plätze ungefähr in der Mitte ein. Ich war meinem Begleiter gegenüber natürlich auf der Hut – und das galt auch umgekehrt. Während des ersten Teils der Reise wechselten wir kaum ein Wort. Ich ließ mich im Sessel zurücksinken und überlegte mir, was die Zukunft bringen würde. Ich war in guter Stimmung und freute mich auf das Wiedersehen mit meinen Brüdern und meinem Land. Ich hatte endlich den großen Schritt gewagt.
Wir setzten zur Landung in Calgary an. Der Polizist neben mir fragte, ob ich zu den Olympischen Spielen hiergewesen sei. Er bat sofort um Entschuldigung, als ihm aufging, daß er mich im Grunde nach meinem Aufenthaltsort gefragt hatte. Und deshalb erzählte er nun von Calgary, wo er geboren und aufgewachsen war.
Weitere Fluggäste stiegen zu. Ich hielt Ausschau nach Dänen unter ihnen. Die Olympischen Spiele waren eben erst zu Ende gegangen, und einen Teilnehmer kannte ich aus alten Zeiten. Wir starteten wieder, und bald darauf wurde das Essen serviert. Es gab frisches Krebsfleisch, garniert mit Tomate und Ei, danach gebratene Kalbskoteletts und Schinken. Das Essen brachte uns ein wenig Entspannung, und ich muß sagen, daß mir der Mann gefiel. Offenbar war er mit Horrorgeschichten über die Hells Angels vollgestopft worden. Eigentlich hätten mich zwei Polizisten über den großen Teich bringen sollen, aber nachdem sie festgestellt hatten, daß ich weder Vampirzähne noch Drachenklauen besaß, war einer eingespart worden.
Flughafen Schiphol, Amsterdam. Zusammen mit drei oder vier niederländischen Polizisten warteten auch zwei Angehörige der heimatlichen Mordkommission in der Ankunftshalle. »Du hast dich ja vielleicht verändert«, rief der eine bei meinem Anblick. Es war seltsam, wieder Dänisch zu hören. Nachdem ich mich an das kanadische Englisch gewöhnt hatte, kam Dänisch mir ungeheuer eintönig vor. Die Polizisten aus den drei Ländern tauschten Höflichkeiten und harmlose kleine Polizeisticheleien aus. Englisch war einwandfrei nicht die Stärke der dänischen Polizisten, aber immerhin konnten sie meinen Reisebegleiter fragen, ob ich unterwegs etwas erzählt hätte. Der Kanadier schüttelte den Kopf und sah mich verlegen an. Er mußte gleich wieder zurückfliegen. Wir schüttelten einander die Hand und wünschten alles Gute.
Jetzt änderte sich meine Bewachung. Ein niederländischer Flughafenangestellter führte uns durch den Terminal, und die multinationale Polizeitruppe hatte mich mehr oder weniger eingekesselt. Sogar, als ich aufs Klo mußte, wurde mir ein Blindenhund mitgegeben. Wir blieben vor einem Buchladen stehen. Ich wußte aus Erfahrung, daß mir jetzt allerlei »Wartezimmer« bevorstanden, und da wollte ich Vorsorge treffen. Ich kaufte zwei Spionageromane, ehe es weiterging.
Nachdem ich eine Weile in einem scheußlichen Wartezimmer eingeschlossen worden war, wurde ich abgeholt. Jetzt waren saure Gesichter angesagt. Vor allem der stellvertretende Leiter der dänischen Mordkommission hatte miese Laune. »Deine Kumpels haben der Presse gesagt, daß du nach Hause kommst.«
»Bist du sicher, daß das keiner von euch war?« scherzte ich. Das sei auf keinen Fall möglich, wehrte er ab und verdrehte die Augen. So etwas tuen Polizisten doch nicht. Das war die größte Lüge, die ich an diesem Tag gehört hatte, aber für diesen Fall war es doch die Wahrheit. Wir hatten die Presse ganz bewußt über meine Rückkehr informiert, um der Polizei keine Möglichkeit zu bieten, sich mit ihrer angeblich tollen Ermittlungsarbeit zu brüsten.
Der andere Polizist zog einen Satz eiserne Pulswärmer hervor. »Jetzt müssen wir dir Handschellen verpassen. Draußen wartet schon die Pressemeute.« Ich zuckte mit den Schultern. Handschellen oder nicht, was interessierte mich das. Wenn die Bullerei der Presse zu Ehren Theater spielen wollte, dann konnte ich auch nichts daran ändern. Die Bevölkerung sollte ja um keinen Preis den Eindruck gewinnen, ich sei nicht gefährlich. Um der vierten Staatsmacht zu entgehen, wurde ich kurz vor dem Abflug durch die Hintertür hinausgeschmuggelt. Zwei Vertreter vom Ekstra Bladet und noch einige andere waren jedoch umsichtig genug gewesen, denselben Flug zu buchen. An den Polizisten gekettet ging ich an Bord. Auf den ersten Blick entdeckte niemand, daß wir zusammenhingen. Unsere Jacketts bedeckten unsere Handgelenke, und die anderen Fluggäste waren damit beschäftigt, ihr Gepäck zu verstauen. Für mich begann nun die letzte Etappe einer langen Odyssee.
Kaum war das Schild »Fasten Seatbelt« erloschen, als auch schon die ersten Fotografen auftauchten. Die Leute vor uns verrenkten sich die Hälse, um zu sehen, was denn in fünftausend Meter Höhe unbedingt fotografiert werden mußte. Oha, da saß Jönke mit dem bösen Blick! Zwei Presseleute versuchten ihr Glück bei dem außen sitzenden Polizisten. Ob sie nicht kurz mit mir, der innen saß, ein paar Worte wechseln dürften. Das wünschten aber weder die Polizei noch ich. Die Presseleute gaben auf und die Fotografen beendeten die Knipserei.
Die KLM servierte das Frühstück. Das wurde aber auch Zeit … ich war schon kurz vor dem Verhungern. Der stellvertretende Leiter der Mordkommission hatte Probleme mit dem Magen und erbrach sich in die Tüte. Ich übernahm sein Brötchen, und bald wurde auch sein Kollege luftkrank. Guten Morgen, sage ich da.
Unter mir: Seeland, Amager, Kastrup, Kopenhagen. Dänemark, zum Henker! Der Himmel war grau, aber von mir aus hätte auch ein Schneesturm wüten können. Ich saugte durch das kleine Bullauge des Flugzeugs jede Einzelheit in mich auf.
Vor dem Flughafengebäude stand ein kleines Heer aus Journalisten und Fernsehleuten. Ich hatte mich für »Kein Kommentar« entschieden, aber es tat doch gut zu sehen, daß man vermißt worden war. »Es ist jetzt 9.42 Uhr, Jönke. Sie sind verhaftet«, teilte mein Bewacher feierlich mit. Ja, ja, da hatte er wohl recht. Wieder wurden mir Handschellen verpaßt. »Sitzt meine Frisur richtig?« konnte ich noch fragen, ehe wir den Flieger als letzte verließen. Wir hatten nun noch drei Mann zur Begleitung erhalten, und draußen wimmelte es nur so von uniformierten Gerts und Helges. Kameras und Mikros wurden mir unter die Nase gehalten. »Ist es schön, wieder zu Hause zu sein?« Das war es – und jetzt mußte die Zeit zeigen, ob es der Mühe wert gewesen war. In wildem Tempo brausten wir nach Kopenhagen. Unterwegs wurde nicht ein Wort gewechselt. Ich hatte den Eindruck, daß meine Beliebtheit bei der Mordkommission im Sinken begriffen war.
Das Polizeigebäude hatte sich nicht verändert. Es war groß, grau und klobig. Wir fuhren auf den Hinterhof der Arrestabteilung und stiegen bald die unangenehmsten Treppen im ganzen Land hoch. Ich wurde registriert und in eine Wartezelle gesteckt. Die Zellen waren noch immer pißgelb und verdreckt. Unglaublich, daß man freiwillig hierhin zurückkehrte.
Die Tür öffnete sich. »Du mußt zum Untersuchungsrichter, Jönke.« Sehr komisch. Alle waren mit mir auf du und du. Dafür hatten natürlich meine Flucht und mein Buch gesorgt. Noch hatte ich mich nicht daran gewöhnt, ein Medienereignis zu sein.
Anwalt Anders Boelskifte von der Kanzlei Jørgen Jacobsen erwartete mich in einem kleinen Raum hinter dem Untersuchungsgericht. Uns blieben zehn Minuten für ein kurzes Gespräch. Ich wollte weder mit der Polizei noch mit dem Untersuchungsgericht reden. Der stellvertretende Chef der Mordkommission hatte die unvermeidliche Frage gestellt, ob ich nicht lieber gleich ein wenig plaudern wollte. Aber nie im Leben. Es wäre einfach restlos schwachsinnig gewesen, vor der Polizei irgendwelche Aussagen zu machen.
Das Untersuchungsgericht war vollbesetzt mit Publikum. Meine Brüder waren da, ihre Ol’ladies, meine frühere Ol’lady und meine alten Freunde von der Telefilm, Ib und Leif. Wunderschön, sie alle zu sehen, obwohl wir das Wiedersehen leider überhaupt nicht feiern konnten.
Kaum hatte der Richter sich von meiner Identität überzeugen lassen, da legte der Staatsanwalt los. Ein älterer Mann aus der Abteilung A, der nervös und enthusiastisch zugleich wirkte. So richtig gut vorbereitet war er dagegen nicht, was aber auch nicht nötig war; mich ins Gefängnis zu bringen war so leicht, wie sich am Hintern zu kratzen.
»Jørn Nielsen … genannt Jönke«, fing er an. Ich nickte unmerklich. Vieles von dem, was jetzt kommen würde, würde übertrieben sein oder direkt gelogen, aber das war total gleichgültig. Die Schlacht sollte ja nicht hier und jetzt ausgefochten werden. »Sie werden von der Polizei des Mordes an Henning Norbert Knudsen bezichtigt, ausgeführt am 25. Mai 1984 vor dessen Wohnung …«