Читать книгу Auf der Flucht - mein Leben als Hells Angel - Jørn Nielsen - Страница 6

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Paris. Die Stadt der Liebe, aber mir war das alles umwerfend egal. Wir wichen dem Schnellstraßennetz um die Innenstadt aus und ruckelten durch die Vororte. Triste Mietskasernen und palastähnliche Bauten. Irgendwer entdeckte in der Ferne den Eiffelturm, und der Israeli neben mir bot Bonbons an. Mehrere von meinen Reisegefährten wollten mit mir durch die Stadt ziehen, aber das mußte ich ablehnen. Meine Guckapparate taten inzwischen dermaßen weh, daß ich nicht länger zur Tarnung einen Kater vorschützen konnte. Ich machte die starke französische Sonne für alles verantwortlich. Eine ziemlich bescheuerte Erklärung, aber sie war ja nicht zu widerlegen. Wir hielten vor allerlei Hotels und endlich kamen dann wir an die Reihe. Ich wurde mit einem von den Typen, die ich schon in Odense kennengelernt hatte, auf ein Zimmer gesteckt. Ehe wir nach oben gingen, bat ich den Portier, telefonieren zu dürfen. Ich wählte die Nummer und wartete. »Allo, allo«, sagte jemand. »Hello, my friend; I am arrived at the hotel.«

»Okay, I pick you up.«

Auf meinem Zimmer nutzte ich die Wartezeit, um mich von meiner zweitgrößten Plage zu befreien. Paris war heiß, und mein Anzug klebte inzwischen so fest wie Karlsons Kleister. Eine Runde Duschen und leichtere Bekleidung halfen. Fünfzehn Minuten nach meinem Anruf wurde vorsichtig an die Tür geklopft. Ich öffnete, und ein lächelnder Bruder trat ein. Wir umarmten einander. Nur wenige meiner französischen Brüder sprachen Englisch, aber glücklicherweise gehörte dieser dazu. Mein Zimmerkamerad kam vom Balkon herein, wir nahmen Abschied voneinander und ich verließ das Hotel.

Meine ersten zehn Tage in Paris verbrachte ich auf dem Rücken. Nachdem ich die Kontaktlinsen herausgepflückt hatte, explodierten meine Augen vor Schmerz. Die ersten beiden Tage waren die schlimmsten. Fast blind lag ich auf einem Sofa, während die Augentropfen aus der nächstgelegenen Apotheke ihre Wirkung taten. Dröhnende Kopfschmerzen und ein ununterbrochen rotzender Rüssel gaben sich alle Mühe, um die Lage noch zu verschlimmern. Die Wohnung, in der ich mich aufhielt, gehörte einem Bruder, der in Urlaub gefahren war. Sie war kühl und geräumig, die Fenster waren von breiten Blenden verdeckt. Die Brüder kümmerten sich wunderbar um mich. Sie brachten Lebensmittel und kochten für mich. Die ganze Zeit sorgten sie für Medizin und saubere Tücher. Zuerst wurde mein rechtes Auge normal und ich konnte es wieder ertragen, aufrecht zu sitzen. Das linke Auge war schwerer betroffen. Mein Bruder hatte einen großen, blasenartigen Knubbel entdeckt, als er die Linse herausgefischt hatte.

Nachdem ich wieder auf die Beine gekommen war, fing ich an, mich zu orientieren. Bisher war, abgesehen von den Brüdern, das Tag und Nacht laufende Radio meine einzige Verbindung zur Außenwelt gewesen. Ich hauste in einem großen modernen Wohnkomplex im Stadtteil Crimée. Die Wohnung lag im Erdgeschoß. Sie hatte nach hinten eine Terrasse und zur Straße hin einen Balkon. Es war ein sehr gut ausgerüstetes Nest, und nach den Dekorationen zu urteilen, schwärmte mein Bruder für den Wilden Westen. Cowboyhüte. Peitschen, Speere, Bogen und Bilder aus Dodge City und vom Little Big Horn schmückten die Wände. In einer Ecke standen zwei handgefertigte Sättel, für den Fall, daß man von Reitlust überfallen wurde. Was mir jedoch nicht passierte. Ich versuchte lieber, Französisch zu lernen. Ich konnte an die zehn Wörter, und nachdem ich mich vor den Fernseher gesetzt hatte, ging mir auf, wie wenig englischsprechende Menschen mir begegnen würden. Die Franzosen waren ein Volk, das auf seine eigene Sprache Wert legte.

Willkommen daheim«, rief ich vom Balkon. Mein Bruder war unten auf seiner Harley vorgefahren, und ich empfing ihn nun in seiner eigenen Wohnung. Er und seine Frau sahen müde aus, sie waren ohne Pause von Nizza hergefahren und hatten nicht einmal mehr die Kraft, ihr Gepäck ins Haus zu bringen. Alain und ich waren uns einmal im Ritz in New York City begegnet. »Du riechst nach Ziegen!«

»Was für einen Duft hast du denn nach so einer Fahrt erwartet?«

Ich begrüßte Alains Ol’lady, die, anders als er, soeben einem Rolls-Royce entstiegen zu sein schien. Eine tolle Frau mit einem tollen Namen. Sie hieß Martine. Alain und ich wurden unserem Schicksal überlassen und setzten uns ins Wohnzimmer. Ich holte zwei kalte Bier aus dem Kühlschrank, und dann gab es keine stumme Sekunde mehr. Alain gehörte zu den französischen Brüdern, die am besten Englisch sprachen. Er arbeitete seit vielen Jahren als DJ bei einem Radiosender.

Während die dänische Polizei nach mir suchte, nippte ich in den kleinen Straßencafés im Stadtteil Les Halles an meinem Pastis. Jeden Tag brachten meine Brüder mich an neue Orte und bescherten mir neue Erlebnisse. Ich wurde vor dem neuen und in meinen Augen entsetzlichen Centre Pompidou gezeichnet. Ich sah Triumphbogen, Champs-Élysées und Place de la Concorde. Paris war eine einzige große Sehenswürdigkeit. Abends standen Restaurantbesuche auf dem Programm. Meine Brüder schienen es sich in den Kopf gesetzt zu haben, mir alle Lokale der Stadt vorzuführen. Es gab jede Menge Sprachprobleme. Vor allem, wenn ich mit Leuten unterwegs war, die nur Französisch sprechen konnten oder wollten. Ein Problem war, daß ich Knoblauch nicht vertragen konnte. Anfangs war es für mich unmöglich, meine Zunge zu einem »Knoblauch? Nein danke« zu verdrehen. Statt dessen suchte ich mir ein Bild dieses tückischen kleinen Gewürzes. Ich schnitt es aus, malte einen roten Kreis darum und zog einen roten Querstrich hindurch. Mein privates Verbotsschild, das ich jedesmal vor meinen Teller auf den Tisch stellte. Die Kellner fanden es ungeheuer komisch, meine Brüder begnügten sich damit, die Augen zu verdrehen. »C’est difficile.« Schwierig oder nicht, ich genoß das Leben. Nach dem Essen gingen wir oft in die Disko.

Eins meiner Lieblingslokale war ein kleines gemütliches Restaurant namens El Grotto. Es lag im Keller an einem der vielen Plätze der Stadt, und die Atmosphäre war geprägt von spanischem Stuck und Kerzen. »Was darf ich Ihnen anbieten, Monsieur?« Es war die Wirtin, eine schmächtige kleine Frau in Schwarz, die mich auf französisch ansprach. Ich lächelte breiter als der breiteste Straßenkreuzer und fragte, ob sie Englisch spreche. Ich war zum ersten Mal in diesem Lokal, und meine Begleiter standen noch oben an der Treppe. Die Wirtin hieß Fafa, und sie sprach wirklich Englisch. Fast hätte ich auf dem Tresen Cancan getanzt.

»Ich sehe, du hast Pat schon kennengelernt«, sagte Alain, der jetzt hinter mir aufgetaucht war. Pat war mein französischer Spitzname.

Nachdem Fafa und Alain einander viermal auf die Wange geküßt hatten, wie es sich in Paris eben gehörte, wurde ich ausgiebig vorgestellt. Auch Fafas Freund war dabei. Er hieß Robert und war von Beruf Musiker. Die beiden wurden später zu meinen besten Freunden in Frankreich.

Ich hatte weder Zeit noch Lust, weiter an meinem Buch zu schreiben. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, neue Menschen kennenzulernen. Vor allem zu Hause bei Alain tauchten immer neue Gesichter auf. Er kannte wirklich Gott und die Welt, nicht zuletzt durch seine Arbeit als DJ. Die französische Sprache wurde mir immer vertrauter, und bald konnte ich mich verständigen. Alle, die mir begegneten, gaben sich jegliche Mühe, um mir ihre Sprache beizubringen. Wenn sie dieselbe Energie aufgewandt hätten, um Englisch zu lernen, dann wären sie darin bald perfekt gewesen. Auch Alains Familie war eine große Hilfe. Seine Ol’lady und sein dreizehnjähriger Sohn erklärten mir alles. Und dann gab es natürlich noch die Glotze. Fast alle Filme waren synchronisiert.

Der Sender, für den Alain arbeitete, sollte umstrukturiert werden. Das bedeutete, daß er immer später nach Hause kam. Selbst wenn ich bis spät in die Nacht hinein mit anderen Brüdern auf der Rolle war, war er noch nicht wieder da, wenn ich dann zu Hause erschien. Frau und Kind waren schon längst schlafen gegangen, während ich, der Bewohner des Wohnzimmers, mit einem Nachtjoint wartete. Ansonsten plauderten Alain und ich über die Ereignisse des Tages und alles, was sonst passiert war. Eines Nachts brachte er ein Demoband mit, das ich mir unbedingt anhören mußte. Ich sollte den Namen des Künstlers erraten, und nach zehn Sekunden kannte ich keine Zweifel mehr. Es war John Lennon. Alain lachte und spulte weiter. »Sind das irgendwelche neuentdeckten unveröffentlichten Aufnahmen?« mußte ich fragen.

»Nein, das ist sein Sohn, Julian. Seine erste LP wird bald veröffentlicht.«

»Scheint ja auch Zeit zu sein.«

Alain nickte und stand auf. »Gute Nacht.«

Ich knipste das Licht aus und fiel in mein Ausziehbett. Die neuen Lennon-Klänge drehte ich leise. Wieviel Zeit verging, ehe ich dann die ersten Geräusche hörte, weiß ich nicht. Die Rollos waren heruntergelassen, und im Zimmer war es stockdunkel. Ich drehte die Anlage aus und hörte zu. Ja, es stimmte schon, jemand machte sich an der Tür zur Terrasse zu schaffen. Was für eine Unverschämtheit! Konnte wirklich jemand blöd genug sein, in eine HA-Wohnung einbrechen zu wollen? Und noch dazu in eine, in der ich auf der Lauer lag! Ich schlich zum Fenster. Bei jedem Öffnungsversuch sah ich Licht, konnte aber keine Stimmen hören. Ich schlich ins andere Ende der Wohnung, um Alain zu wecken. Vorsichtig klopfte ich an seine Schlafzimmertür. Der Hund der Familie drehte einfach durch. »Irgendwer versucht einzubrechen!« Alain sah aus wie jemand, der lieber eine Anlage opfert als seinen Schlaf, aber er kam dann doch mit. Aus einer Schublade nahm er eine Taschenlampe und eine kleine Pistole.

Wir legten uns auf den Küchenboden und hielten Ausschau. Das Rollo war zerbrochen und konnte deshalb nicht ganz geschlossen werden. Trotzdem hatte der da draußen in der Nacht das Wohnzimmer vorgezogen. Nichts bewegte sich, und so vorsichtig das überhaupt nur möglich war, öffneten wir die Tür. Zuerst kroch Alain unter dem Rollo hindurch. Ich folgte ihm mit der Taschenlampe. Wir schlichen uns auf die Seite und überprüften die benachbarten Terrassen. Nichts. An dem leeren Grundstück, das sich hinter dem ganzen Baukomplex hinzog, konnten wir nichts ändern. Überall standen Büsche und Bäume. Wir bogen um die Ecke, um nachzusehen, ob dort jemand war. Es war wie bei Schulze und Schultze, und es fiel mir schwer, ein ernstes Gesicht zu behalten. Alains nackter Hintern leuchtete vor mir im Mondschein. Keiner von uns hatte Zeit gehabt, sich anzuziehen, und der Anblick Alains, der geduckt und mit gezückter Pistole dahinschlich, war mehr, als ich ertragen konnte.

»Bist du sicher, daß du nicht zuviel Hasch geraucht hast?«

»Ganz sicher«, flüsterte ich.

Unverrichteter Dinge krochen wir wieder ins Haus. Alain ging ins Bett, während ich mich anzog und auf die Lauer legte. Ich weiß, daß du da draußen bist, du Arsch! Die Küchentür war der perfekte Aussichtsposten. Ich hatte klare Sicht nach draußen, war aber aufgrund des Metallrollos von außen her nicht zu sehen. Zehn Minuten, und dann biß der Fisch an. Ein jüngerer Mann mit Zottelhaaren tauchte vom Garten her auf. Ich zog mich langsam zurück, um nicht vom Licht seiner Taschenlampe getroffen zu werden. Diesmal war Alain schneller, und der Hund Django hielt die Klappe. »Ich habe ihn gesehen, zieh dich an.« Der Typ war weg, kam dann aber wieder zum Vorschein. Hinter mir fluchte Alain. Er hatte in der Dunkelheit seine Gummischuhe nicht gefunden und gerade festgestellt, daß er die seines Sohnes erwischt hatte. Der Schleicher verschwand wieder aus unserem Blickfeld, vielleicht fühlte er sich ertappt. Rasch und lautlos schlich ich hinter ihm her. An der Hausecke wurde es eng. Balkon und Zaun aus Maschendraht. Ich sah, wie der Dieb hinüberkletterte, und folgte ihm in angemessener Entfernung. Auf der anderen Seite des Wohnkomplexes schloß Alain sich mir an. Hier lagen noch allerlei Gärten und Terrassen, der Dieb hatte also offenbar noch nicht aufgegeben. Mein Bruder gab mir ein Zeichen, ich sollte am Ende der Gärten warten. Er wollte sie alle durchsuchen. Mit eingezogenem Kopf schlich ich an der Mauer entlang. Die Terrassen lagen anderthalb Meter über dem Straßenniveau und hinter dem Zaun, deshalb konnte ich die Beute nicht sehen. Ich stellte mich in den Schatten und wartete. Bald tauchte der Einbrecher auf. Er schaute nervös in Alains Richtung. Jetzt war Rückzug angesagt. Er tat sein Bestes und landete genau vor mir. Ich packte ihn am Schlafittchen und knallte meine Stirn gegen seine Nase. Nur, um ihm einen kleinen Schock zu versetzen. Er wehrte sich nicht, redete aber drauflos. Auf französisch natürlich, und ich verstand keinen Mucks. Er hielt mich vermutlich für einen Bullen.

Alain landete neben uns und fing an, den Typen auszufragen. Der Trottel wurde gleich ruhiger, als ihm aufging, daß wir nicht von der Polizei waren, aber die Freude sollte ihm bald vergehen, als Alain ihn zusammenstauchte. Es waren ernsthafte Worte, das konnte ich hören, und ihnen folgten zwei Dröhner unters Auge.

Danach ging ich mit einem spuckenden und würgenden Alain zurück in die Wohnung. Am Vortag hatte sein Sohn ihm ein Kaugummi geschenkt. Das hatte er auf die Kommode im Flur gelegt und dann vergessen. Aber als er sich an die Verfolgung des Diebes gemacht hatte, hatte er es in den Mund gestopft. Was ja nicht weiter schlimm gewesen wäre, aber es war ein Scherz-Kaugummi mit Pfeffer. »Versuch du mal, mit diesem Dreck im Mund ernst zu bleiben«, lachte Alain. Er war überaus zufrieden. Der Wohnkomplex hatte schon seit einiger Zeit mit Einbrüchen Ärger, und eben »unser« Dieb hatte unter Verdacht gestanden. Er wohnte selbst dort, und Alain hatte ihm klargemacht, daß er besser umzog, falls noch ein einziger Einbruch passierte.

Los ging’s. Fünfzehn Bikes, gefolgt von zwei Autos. Wir machten einen Herbstausflug nach Nordfrankreich. Das Lager lag an einem Fluß, mitten in einem Wäldchen. Es war wirklich Indian Summer, und Shorts und Gänsehaut waren angesagt. Wir wärmten uns mit dem üblichen Pastis auf – einem Anislikör mit Eiswasser – und machten uns dann über die Steaks her. Wenn die Franzosen etwas konnten, dann kochen und fressen. Paté und frische Baguettes als Appetitanreger, danach ein reichhaltiger Salat, auf den das Hauptgericht folgte. Danach wieder Baguettes, diesmal zu einer Käseplatte. Und zum Abschluß jede Menge Melonen und andere Früchte. Selbst an Werktagen gab es niemals weniger als drei Gänge. »Was ist das für Fleisch?« fragte ich, nachdem ich einen nicht geringen Teil des vor mir liegenden Steaks verzehrt hatte. Hunger und Pastis hatten mich in einem unachtsamen Moment den sehr eigenen Geschmack vergessen lassen. Aldo, einer meiner Brüder vom Hells Angels MC Paris schaute mich nachdenklich an, dann deutete er mit den Handflächen auf der Tischplatte einen Galopp an.

O verdammt! Ich schob das Steak von mir weg. Der Teufel sollte mich holen, wenn ich freiwillig Pferdefleisch äße. Wenn es ums Essen geht, bin ich zutiefst wählerisch und erzkonservativ. Pferde sind dazu da, geritten, gestreichelt oder angesehen zu werden! Alle lachten sich kringelig, und ich bekam ein neues Steak, von einem Tier, das garantiert niemals gewiehert hatte. Pastis und Rotwein hatten uns schon ziemlich flambiert. Aldo und ich holten uns Korbsessel und setzten uns unter die Pappeln am Fluß. »La Fleche fährt am Montag nach Kopenhagen, zum Prozeß«, erzählte Aldo in seinem breiten Rock-and-Roll-Englisch.

Seit dem blutigen Zusammenstoß im Restaurant Søpromenaden, bei dem zwei Kuhfladen ums Leben gekommen waren, war fast ein Jahr vergangen. Jetzt stand der zweite Teil der Abrechnung auf dem Programm. Das System gegen Blondie sowie gegen Dirty und Hansi, die wegen Mitwirkung vor Gericht gestellt werden sollten.

Brüder aus ganz Europa waren zusammengeströmt, um den Prozeß zu verfolgen. Um Menschen, die in unserer Szene als Freiheitskämpfer betrachtet wurden, Unterstützung und Sympathie zu erweisen. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten schon in den Wochen vor der Verhandlung eifrig versucht, eventuelle Jurymitglieder energisch zu manipulieren. Die Staatsanwaltschaft hatte es bereits einmal, in einem Drogenfall, geschafft, anonyme Zeugen zu benutzen. Mit dieser Praxis wollten sie jetzt weitermachen, und das Parlament hatte noch kein Gesetz dagegen verabschiedet. Alles begann mit der Schlacht um die anonymen Zeugen, und die juristische Auseinandersetzung endete vor dem höchsten Gericht. Dort wurde die Erlaubnis erteilt, zwei Zeugen anonym aussagen zu lassen.

Blondie und sein Verteidiger gingen im Prozeß zum Gegenangriff auf die Behauptungen über Zeugenbedrohung über, die die Staatsanwaltschaft aufgestellt hatten. H. C. Abildtrup wollte nicht antworten, als Blondie fragte, wer denn irgendwelche Zeugen bedroht habe. Wenn die Behauptungen des Staatsanwalts zuträfen, warum seien dann gegen die Urheber der Drohungen keine Ermittlungen eingeleitet worden? Den Zeitungen gegenüber erklärte der Oberstaatsanwalt, sie hätten die Zeugen nicht noch weiteren Unannehmlichkeiten aussetzen wollen.

Der Prozeß fand unter massivem Polizeiaufgebot statt. Die Zuschauer wurden durchsucht und mußten eine mit einem Metalldetektor versehene Tür passieren. Auf den Straßen in der Nachbarschaft des Gerichts kam es zu mehreren Zwischenfällen, als Kuhfladen auftauchten, um zu demonstrieren und zu provozieren. Im Saal ging es friedlicher, aber nicht weniger dramatisch zu. Blondie und die anderen Brüder erklärten, wie sie die Schlacht im Søpromenaden erlebt hatten. Und dann kamen die vielen Zeugen an die Reihe. Während der Zeugenbefragungen mußten die Angeklagten und das Publikum den Saal verlassen. Die Angeklagten konnten in einem Nachbarraum über Lautsprecher verfolgen, wie über sie verhandelt wurde. Alle Zeugen wurden von der Verteidigung mehrmals gefragt, ob sie bedroht worden seien. Niemand war bedroht worden, aber mehrere hatten Angst vor einer Aussage, weil sie in den Zeitungen gelesen hatten, daß Grund zu solchen Ängsten bestehe.

Die überlebenden Kuhfladen, die im Søpromenaden dabeigewesen waren, waren ebenfalls vorgeladen worden. Als sie später das Gericht verließen, stießen sie auf eine kleine Gruppe ausländischer Engel, die gern eine Runde plaudern wollten. Die Kuhfladen nahmen die Beine in die Hand und suchten Zuflucht auf der Wache in der Store Kongensgade. Hells Angels jagen Zeugen stand am nächsten Tag in mehreren Zeitungen. Blödsinn! Die Leute, um die es ging, kamen aus der Szene und hatten sich selbst in den Konflikt eingemischt. Für uns waren sie keine Zeugen, sondern Feinde.

Die letzten Zeugen – die anonymen – wurden vernommen und witzigerweise brachten sie die extremsten Aussagen. Zum Beispiel wollten sie gesehen haben, wie Blondie mit Flaschen zuschlug, und das war eine glatte Lüge. Für den Fall bedeutete es nichts, denn Blondie hatte bereits ausgesagt, daß er die beiden Kuhfladen mit einem Messer erstochen hatte. Nach den letzten Vernehmungen und einem Besuch des Tatorts zog der Staatsanwalt die Behauptung eines vorher abgesprochenen Mordes zurück. Er setzte statt dessen alles dafür ein, Dirty und Hansi wegen Mitwirkung verurteilen zu lassen. Blondie wurde wegen zweifachen Mordes und Mordversuchs zu sechzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Dirty und Hansi bekamen vier beziehungsweise fünf Jahre. Diese harte Strafe hatten sie einer ziemlichen Erweiterung des Begriffs Beihilfe zu verdanken. Beide wurden der Körperverletzung mit Todesfolge für schuldig befunden. Ein keiner Schritt auf dem Weg zu der kollektiven Strafe, die Polizei und Staatsanwaltschaft so gern eingeführt hätten.

Nachdem ich mich in Paris drei Monate lang amüsiert hatte, kam ich langsam zur Ruhe. Es passierte immer noch genug, aber mein Dasein nahm doch mehr und mehr die Formen eines normalen Lebens an. Ich fing wieder an zu schreiben. Vor allem vormittags, wenn Martine zur Arbeit und der Kleine in die Schule gegangen waren, griff ich zum Griffel. Alain tauchte erst am späten Nachmittag aus dem Schlafzimmer auf. Wenn er sah, daß ich mit meinem Buch beschäftigt war, wandte er sich sofort seinem eigenen Hobby zu. Alain war ein ungewöhnlich begabter Lederarbeiter. Er stellte alles her, vom Gürtel bis zur Satteltasche. Seine Auftragsliste war so lang wie sieben magere Jahre, und daß jetzt ein Schriftsteller in seinem Wohnzimmer saß, spornte ihn zur Tat an. Wir genossen diese kreative Atmosphäre beide und konnten stundenlang arbeiten, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln. Wenn ich den Tag nicht am Schreibtisch verbrachte, wurde ich von Brüdern oder Prospects abgeholt. Wir hatten den Louvre besucht, um uns nach »Belphegore« umzuschauen, und hatten auch in Notre Dame vorbeigeschaut, um einen Blick auf den Glöckner zu werfen. Die Frauen meiner Brüder fuhren mit mir nach Versailles. Vor allem die gewaltigen Gärten, die das Schloß umgaben, beeindruckten mich. Die alten Sonnen-, Regen- und Schneematschkönige hatten es sich wahrlich gemütlich gemacht.

Auf einer meiner vielen Expeditionen fand ich ein kleines Stück Dänemark. Aldo hatte mir früher schon erzählt, daß es auf den Champs-Élysées ein dänisches Restaurant gab. Wir waren oft mit dem Auto die Champs-Élysées hinuntergefahren, aber eines Tages beschloß ich, zu Fuß zu gehen. Ich war zusammen mit einem Prospect, der ein brauchbares Englisch sprach. Mein Französisch wurde immer besser, aber es war doch gut, einen Ortskundigen bei sich zu haben. Nachdem wir uns die Nase an zahllosen Reisebüros und Boutiquen platt gedrückt hatten, stand ich plötzlich mit großen Augen vor Platten mit dänischem Smørrebrød, Kuchen und kleinen Wikingern. Es war alles andere als klug von mir, aber ich brauchte etwas Dänisches. Die Verkäuferin, eine junge Blondine, war eine waschechte Dänin. Sie erzählte mir, daß in der Gegend tatsächlich eine Menge Dänen wohnten. Hinter dem Laden gab es ein dänisches Restaurant und in einer Seitenstraße eine dänische Kirche. Ich kaufte zwei Kuchen und dankte für die Auskünfte. Der Prospect wurde ins Restaurant geschleppt. Zweimal Frikadellen mit brauner Soße und Kartoffeln.

Helle war gekommen und würde zehn Tage bei mir verbringen. Wir hatten uns schon lange darauf gefreut, Paris zusammen zu erleben, und jetzt war es soweit. Willkommensmahlzeit in der Gegend des Hotel de Ville. Der Kellner empfing uns mit Pastalächeln und hieß uns auf italienisch willkommen. Er bombardierte Helle mit charmanten Komplimenten, während wir unsere Mäntel ablegten. Hier gefiel es uns wirklich. Ich war schon einmal hier gewesen und wußte, daß dieses Lokal selbst die Schneekönigin zum Schmelzen gebracht hätte. Wie gut, daß Helle ohnehin schon Rehaugen hatte.

Alain und Martine waren mitgekommen, und am Tisch warteten Fafa und Robert. Bei einem netten Essen wollten wir über eine Wohnung reden. In Alains Wohnung wurde es doch etwas eng, und ich brauchte Luftveränderung. Ehe wir uns setzten, wurde vorgestellt und nach rechts und links herumgeküßt. Das war eine Sitte, an die ich mich noch immer nicht gewöhnt hatte. Jetzt war Helle diejenige, die der unmäßigen französischen Küsserei ausgesetzt wurde. Alain, der wie üblich mit irgendeinem Bekannten ins Gespräch gekommen war, kam dazu, und wir konnten bestellen. Fafa und Robert sprachen gut Englisch, deshalb hatte unser Mundwerk keine Ruhe. Das Essen war wunderbar, der eisgekühlte Rotwein ebenso. Die Regale vor den Restaurantwänden quollen vor Weinflaschen geradezu über. Die vielen Flaschen verstärkten das Glühen des Kaminfeuers, und sanfte italienische Musik im Hintergrund kündigte einen heißen Abend an.

Am nächsten Tag zogen wir bei Fafa und Robert ein. Wir lebten beide aus dem Koffer, und deshalb hatten wir den Umzug rasch hinter uns gebracht. Unser Weg führte uns vom Stadtrand ins Herz von Paris. Das Stadtviertel Les Halles war eine Gegend, wo alt und neu einander begegneten. Die alten Markthallen waren abgerissen und durch ein modernes Einkaufszentrum ersetzt worden. Von außen machte das nicht viel her, doch drinnen führte eine Treppe zu einer dreistöckigen Einkaufsmeile. Bei den oberen Treppen und Terrassenanlagen schossen neue Wohnkomplexe in die Höhe, keiner jedoch höher als sechs Stock. Helle Betonfassaden und jede Menge Glas, es sah wirklich nicht schlecht aus. Die vielen engen Straßen und Gassen mit ihren alten Häusern bohrten sich wie Keile in die Plätze und vertraten das Paris, das wir aus Geschichtsbüchern kannten. Die meisten Straßen waren für Autos gesperrt, trotzdem herrschte ein lebhafter Verkehr. Trotz ihrer weltberühmten Metro schwirrten Franzosen und Französinnen lieber mit dem Auto durch die Gegend, und die Stadt war ein einziges Verkehrschaos. Die Pariser waren Weltmeister in unmöglichem und verbotenem Parken. Was ihre Autos anging, so kannten sie keine Hemmungen. Sie parkten munter auf dem Bürgersteig, vor Hydranten, in Zweierreihen und mitten auf der Fahrbahn, falls sich das als notwendig erwies. Ein Heer aus Polizisten und Politessen gab sich alle Mühe, die Autofahrer in Schach zu halten, und überall sah man Autos mit blockierten Reifen.

Fafa und Robert wohnten dicht beim Forum des Halles. Ganz oben, in zwei Stockwerken mit umwerfendem Ausblick auf Paris. Die Wohnung war riesengroß und elegant eingerichtet. Sie hatten zwei Töchter, die fünfzehnjährige Emanuelle und die siebzehnjährige Isabella. Zwei tolle Mädels, die die Jungs im Hamdumdrehen ins Koma jagen konnten. Während Isabella in Dijon Ferien machte, besetzten Helle und ich ihr Zimmer.

Die Zeit mit meiner Liebsten verging natürlich zu schnell. Abends gingen wir ins Restaurant, tagsüber spielten wir in der Innenstadt Touristen. Vor allem die vielen Warenhäuser wurden für uns ein tägliches Ziel. Wie die meisten in Paris losgelassenen Frauen war Helle in Ekstase. Parfüm, freche Unterwäsche und luxuriöse Oberbekleidung waren unwiderstehlich.

Helle konnte sich kaum daran gewöhnen, daß wir einfach sorglos durch die Stadt schlendern konnten. Polizei war ansonsten mehr als genug vorhanden. Neben den Zivilbullen, die nicht immer leicht zu entdecken waren, wimmelte es nur so von Uniformierten. Sie erinnerten mich an die Comics von Tim und Struppi, und vielleicht konnte ich sie deshalb nicht ernst nehmen. Aber auch Paris hatte seine Unruhe-Polizei. Die lungerte auf den Straßen herum, neben Bussen, die als rollende Wachen fungierten. Vor allem in den Arabervierteln sah man sie schockweise. Sie waren immer mindestens zu fünft. Gewandet in Reitstiefel und blaue Overalls und immer bis an die Zähne bewaffnet mit Maschinenpistole, Revolver und Gummiknüppel.

Ehe Helle nach Hause fuhr, schmiedeten wir Zukunftspläne. Sie war verrückt nach Frankreich und hoffte, daß ich dort bleiben könnte. Zumindest in Südfrankreich, wenn die Großstadt sich als zu gefährlich erwies. Ich erzählte, daß ich früher oder später weiterziehen müßte. Frankreich lag zu dicht an Dänemark, wenn ich ein normales Leben führen und auf freiem Fuß bleiben wollte.

Noch näher an Dänemark lag Deutschland, und hier braute sich eine wilde Auseinandersetzung zwischen der Staatsmacht der BRD und dem Hells Angels MC Hamburg zusammen. Anderthalb Jahre zuvor waren sämtliche Mitglieder, außer denen, die sich gerade in den USA aufhielten, festgenommen und ins Gefängnis gesteckt worden. Die Ermittlungen in Hamburg hatten vorher siebzehn Monate in Anspruch genommen. Über hundert Personen waren in der ganzen Bundesrepublik verhaftet worden, unter ihnen auch viele Familienmitglieder und Ol’ladies. Die meisten waren einen Tag später wieder auf freien Fuß gesetzt worden, anderen war das in den folgenden Monaten passiert. Aber da hatte diese Riesenrazzia in der Bevölkerung schon ihre Spuren hinterlassen.

Jetzt – anderthalb Jahre später – saßen nur die sechzehn Hamburger Mitglieder auf der Anklagebank. Einigen wurden ganz normale Vergehen wie Körperverletzung, Zuhälterei, Erpressung und unbefugter Waffenbesitz zur Last gelegt. Die anderen standen aufgrund von Paragraph 129 des bundesdeutschen Strafgesetzes (dem Terrorismusparagraphen) unter Anklage. Angeblich gehörten sie einer kriminellen Vereinigung an. Keiner hatte ein Gesetz gebrochen, doch sie galten sozusagen als Mitschuldige, da sie Mitglieder des Hells Angels MC Hamburg waren. Einige Monate nach den Massenverhaftungen hatte der bundesdeutsche Innenminister in seinem Frust darüber, daß die Sache nicht weiterkam, den Hells Angels MC Hamburg verboten. Das Verbot wurde von vielen Juristen für unhaltbar befunden, galt jedoch bis auf weiteres. Die Lage war gelinde gesagt grotesk. Es war nicht die Rede von Gesetz und Ordnung, sondern davon, Hamburgs oberstem Polizeichef ein paar politische Punkte zu sichern. Außerdem war der Innenminister zu weit gegangen, und jetzt stand sein Prestige auf dem Spiel. Der Staat wollte um nichts in der Welt sein Gesicht verlieren, und deshalb war ein Riesenzirkus auf die Beine gestellt worden, an dem die bundesdeutsche Presse sich munter beteiligte. Da es um die entsetzlichen HA-Leute ging, war das Gericht für eine Million Kronen umgebaut worden. Kugelsichere Glaswände waren eingezogen worden, obwohl der schwerstwiegende Anklagepunkt der einer Wirtshausschlägerei war.

Aus fast ganz Europa strömten Brüder zusammen, um den Prozeß zu verfolgen, zusammen mit Brüdern vom anderen deutschen HA-Chapter in Stuttgart. Das Innenministerium und die Hamburger Polizei argumentierten, die Motorradfahrerei sei nur eine Tarnung, in deren Schutz die Mitglieder sich ihren kriminellen Aktivitäten widmen könnten. Daß hier unverschämt gelogen wurde, war das eine. Etwas anderes war, daß diese Behauptungen einfach unlogisch waren. Welche kriminelle Organisation würde denn etwas so Auffälliges wie Motorräder und Rückenpatches benutzen? Wenn die Mitglieder des Hells Angels MC Hamburg wirklich auf das große Geld aus gewesen wären, dann hätten sie als erstes natürlich die Bikes und die Westen an den Nagel gehängt.

Ehe der Prozeß richtig in Gang kam, wurde er wieder abgeblasen. Die Behörden hatten sorgfältig Schöffen ausgesucht, die ihnen in den Kram paßten. Die Verteidiger protestierten energisch und konnten die Richter überzeugen. Die Schöffen wurden für befangen erklärt und die Verhandlung wurde ausgesetzt. Das Verbot des Hells Angels MC Hamburg galt bis auf weiteres.

Bis dann«, rief ich hinter Isabella her. Sie drehte sich um und winkte. Roberts Tochter mußte zur Schule, und ich war früh aufgestanden, um ein wenig Kondition in meinen schlaffen Teigleib zu prügeln. Einer meiner Brüder war Europameister im Kickboxen, er leitete eine entsprechende Schule und hatte mich zwei Wochen zuvor zum Training mitgenommen. Ich hatte fast zehn Tage gebraucht, um mich wieder richtig bewegen zu können, und daran mußte ich etwas ändern.

An der Ecke der Rue St. Denis blieb ich stehen, um dem alten Kastanienverkäufer zehn Franc zu geben. Sein Gesicht verzog sich zu etwas, das Ähnlichkeit mit einem Lächeln hatte. Er war blind, erkannte mich aber jedesmal. »Bonjour«, sagte ich und lief weiter in Richtung Boulevard de Sébastopol. Daß irgendwer es über sich brachte, heiße Kastanien zu fressen, war mir ein Rätsel. Ich bezahlte gern, um mir das zu ersparen.

Meine Schulter fand eine Laterne und ich wartete. Der Verkehr war wüst, und ich mußte auf der Hut sein. Ein leichter Nieselregen klärte den Fall, und bald hielt Aldos Karre vor mir. Alain sprang heraus und öffnete die Tür zum Rücksitz. Ich ließ mich hineinfallen, in Paris kam eine Störung des Verkehrs fast einer Todsünde gleich. Wenn ich nicht rechtzeitig auf der Matte stand, gab es an diesem Tag eben kein Training.

Wir waren zu viert, was perfekt paßte. Alain und ich waren noch im Krabbelstadium, während die anderen seit Jahren Lauftraining absolvierten. Ich zog meine Socken hoch und nickte Pierre zu. »Ça va?«

»Ça va bien, et toi?« Pierre grinste mich vielsagend an und zeigte auf meine Socken, in denen ich zweihundert Franc versteckt hatte. »La bib la bab?« Unser Training fand im Bois de Boulogne statt, und wir hielten normalerweise beim Transvestitenstrich. Die meisten waren Brasilianer und hatten gewaltige Lippen. Egal. Ich hatte das Geld nicht mitgebracht, um mir einen blasen zu lassen, sondern als Sicherheitsmaßnahme für den Fall, daß ich von den anderen getrennt würde.

»C’est terrible«, rief Aldo lachend vom Fahrersitz.

Helle und ich telefonierten oft miteinander. Sie benutzte allerlei Telefonzellen in Dänemark. Sie nannte mir die Nummer, und ich rief sie zurück. Per Telefon erfuhr ich, daß die dänische Polizei wußte, wo ich war. Sie kannten meinen genauen Aufenthaltsort nicht, aber irgendwer hatte ihnen gesteckt, daß ich in Paris war. Ich hatte eine klare Vorstellung davon, wer dieser Jemand sein konnte. Als ich mit einem dänischen Bruder in der Stadt unterwegs gewesen war, hatte ich das Gefühl gehabt, von einem Kellner in einem arabischen Restaurant erkannt worden zu sein. Stig Jensen, der Kriminalredakteur vom Ekstra Bladet, hatte meinen Brüdern erzählt, daß ein Ehepaar versucht hatte, meinen Aufenthaltsort an seine Zeitung zu verkaufen. Die Zeitung hatte das Angebot abgelehnt, worauf das Ehepaar zur Polizei gegangen war. Die Verwandtschaft und ich diskutierten über diese neuen Informationen und handelten entsprechend. Raus aus Paris und sich bedeckt halten.

Mein neuer Aufenthaltsort war abgelegen und weit von Paris entfernt. Umgeben von Wald und Kanälen auf allen Seiten und deshalb nicht leicht zu erreichen. Ich sollte in einer Hütte wohnen – oder genauer gesagt in einem Schuppen mit papierdünnen Wänden. Auf einer Lichtung standen zwei Hütten. Eine zum Wohnen und eine zum Kochen. Das Klo stand dreißig Meter weiter an einem Hang, der einzige Wasserhahn der Umgebung war ebenso weit entfernt. Es gab Strom, ganz fehlte es also nicht an Zivilisation.

Ich sog zufrieden die frische Landluft in mich ein. In Frankreich war es noch immer heiß, und so ein kleiner Aufenthalt im Wald war nicht das Schlechteste. Meine Brüder hatten einen Koch angeheuert. Wenn ich etwas nicht konnte und nicht wollte, dann war es kochen. Der Koch empfing uns in Baskenmütze und Ballonhose. Er war ziemlich zahnlos und sah eher aus wie ein korsischer Gangster als wie ein Gourmet. Er hieß Pirot und stammte aus Südfrankreich. Er hatte Proviant mitgebracht, und auf uns wartete eine leichte Mahlzeit mit Paté und Käse. Die Getränke hatten ein Prospect und ich besorgt. Der Kofferraum war mit Rotwein vollgeladen. Ein Tonbandgerät und einen alten Fernseher hatten wir auch im Gepäck. Es sollte an nichts fehlen, wenn ich schon auf dem Land hausen mußte.

Der Ort war ideal für einen Schriftsteller. Ungestört konnte ich acht Stunden pro Tag an der Arbeit sitzen. Pirot kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten und Aufgaben. Abends machten wir es uns am Feuer oder in unserer Hütte gemütlich. Wir hatten nur zwei Zimmer und benutzten nur das hintere. Es gab ein großes Hochbett mit Leiter. Hier richtete ich einen Schlafplatz ein. Unter dem Bett standen zwei Sofas, ein Tisch und Stühle. Pirot war nicht das größte Sprachgenie, das mir bisher über den Weg gelaufen war, aber wir hatten keine Wahl. Er sprach nur Französisch, ich sprach Englisch und ein wenig Französisch. Unsere Sprachprobleme wurden durch Pirots südfranzösische Aussprache noch vergrößert. Wir machten uns an die Aufgabe, uns gegenseitig Unterricht zu erteilen.

Obwohl wir nur eine begrenzte Zahl an Beschäftigungen hatten, verging die Zeit problemlos. Ehe wir uns versahen, tauchte der wöchentliche Proviantwagen auf. Es waren fünfhundert Meter bis zum nächstgelegenen Haus – einer Entenfarm – und fünf Kilometer bis zum nächsten Laden, deshalb waren wir auf Versorgung von außen angewiesen. Es war wunderbar, vertraute Gesichter zu sehen, und sogar Pirot, der sonst nachts wachte und tagsüber schlief, kam aus den Federn, wenn der Automotor über den schmalen Waldweg dröhnte.

Aldo war fast jedesmal dabei. Wir umarmten einander und setzten uns in die Hüte. Ich zog die Klümpchen hervor und bastelte eine Pfeife. Wenn ich schrieb, rauchte ich nur abends, aber wenn Aldo kam, war den ganzen Tag Abend. »Laß mich mixen, hier ist Post für dich.« Aldo reichte mir einen Umschlag. Ich erkannte Helles Schrift und hielt ihn mir an die Nase. An Parfüm hatte sie wahrlich nicht gespart.

Zu Hause war alles beim alten. Ich wurde natürlich noch immer gesucht und die Polizei schaute sich um. Sie wußten, daß ich in Frankreich war, hielten aber trotzdem im Club und anderswo Razzien ab. Ich war ein guter Vorwand für einen Durchsuchungsbefehl. Meine Eltern hatten Helle besucht und sie fragte, ob sie ihnen sagen dürfe, wo ich war. Nix! David war zu drei Tagen Gefängnis verurteilt worden, weil er den Wagen gekauft hatte, den ich im Agerlandsvej benutzt hatte. Und ansonsten sollte sie von Leuten grüßen, die nicht wußten, ob Helle wußte, wo ich war, die das aber immerhin hofften. Zum Schluß – Liebe und Sehnsucht, der beste und schlimmste Teil des Briefes. Ich las ihn dreimal und schnupperte ein letztes Mal daran.

Aldo hielt den Joint schon bereit. Er beobachtete mich. »C’est bon, Pat?« Ich nickte. Alles war gut. Wir zogen uns den Joint rein.

Ein Monat verging. Weihnachten rückte näher, und Helle ebenfalls. Pirot und ich wurden zwei Tage vor dem Glokkenläuten abgeholt. In strahlender Laune wurden wir nach Paris verfrachtet. Ich hatte inzwischen über siebenhundert Seiten von »Big Run« geschrieben und konnte nun endlich ein Ende des Buches absehen. Jetzt war Romantik bis zum Gehtnichtmehr angesagt. Sechzehn Tage mit meinem Schmusemäulchen, was für eine schöne Aussicht!

Aufgrund der brisanten Lage sollten wir uns in einer geliehenen Wohnung aufhalten und durften nur ausgehen, wenn wir abgeholt wurden. Aber das hatte absolut keine Bedeutung. Wir waren uns selbst mehr als genug, und ich war fast wie elektrisiert, als ich vor der Tür stand. Helle war müde von der Reise gewesen und hatte sich auf ein Sofa fallenlassen. Sie wachte auf, als ich mich über sie beugte.

Uns wurden die letzten Instruktionen erteilt, dann waren wir allein. Und dann ging es ins Badezimmer. Ich hatte mich jetzt vier Wochen lang mit kaltem Wasser waschen müssen, wobei der Hahn unverschämterweise mitten auf einer Wiese gestanden hatte. Mit sehnsüchtigem Seufzer glitt ich in die warme Wanne. Helle ließ sich am anderen Ende nieder. Sie hatte Kerzen mitgebracht und ich eine Flasche Wein geöffnet. Und das Periskop war ausgefahren.

»Wie bist du hergekommen? Hat jemand dich verfolgt?« Abgesehen von Helle und mir hatte niemand es für eine gute Idee gehalten, uns Weihnachten zusammen verbringen zu lassen. Aber die Liebe hat einen weißen Stock und eine gelbe Armbinde, und ich hatte energisch darauf bestanden. Helle erzählte von ihrer Reise. Sie war mit dem Zug gefahren und hatte die Polizei erst in Paris auf dem Bahnhof bemerkt. Sie hatte aus dem Fenster geschaut, als der Zug in den Bahnhof eingefahren war. Sofort hatten drei Männer ihre Aufmerksamkeit erregt. Und richtig. Als sie aus dem Zug stieg und auf den Ausgang zuging, waren sie ihr in offener Formation gefolgt. Sie hatten sich eben noch miteinander unterhalten, aber komischerweise gaben sie jetzt vor, einander nicht zu kennen. Aus begreiflichen Gründen, aber zu Helles großem Ärger hatte sie dann eine halbe Stunde vor dem Bahnhof warten müssen. Dann war plötzlich ein kleiner Fiat aufgetaucht. Die Bremsen kreischten, ein Mann, den sie von früheren Besuchen her kannte, sprang heraus. Er nahm ihr Gepäck und öffnete für sie die Tür. Die drei Spitzel waren in wilde Panik verfallen, und ehe sie ihren Wagen überhaupt erreicht hatten, war Helle bereits über alle Berge.

Wir machten es uns gemütlich. Am Heiligen Abend wurden wir aus der Wohnung geholt. Und zwar mit eingezogenem Kopf und durch Tiefgaragen, und ich glaube, daß uns diese Spannung sogar gefiel. Bei Aldos Familie stand ein Festmahl bereit. Alle waren da, von der jüngsten Tochter bis zur ältesten Großmutter. Es war ein seltsames Gefühl, ganz normal Weihnachten zu feiern. Aldos Mutter wuselte immer wieder um Helle herum und erzählte ihr, wie hübsch sie sei und welches Glück ich hätte. Weil ich Knoblauch so haßte, hatten sie für Helle und mich gesondert Steaks gebraten. Helle war verrückt nach Knoblauch, wollte aber nicht riskieren, in der Weihnachtsnacht allein schlafen zu müssen. »Du mußt ja heiß verliebt sein«, erklärte Aldos Mutter und zwinkerte ihr zu. »Und du«, sagte sie und richtete einen anklagenden Zeigefinger auf mich, »du bist ein Tyrann!«

Den Silvesterabend verbrachten wir zu Hause. Es war davon die Rede gewesen, uns ins Clubhaus zu schmuggeln, wo ein großes Fest steigen sollte. Aber das wäre nicht der richtige Ort für einen von der Polizei gesuchten HA gewesen. An den Tagen nach Helles Eintreffen hatte die Polizei in Autos draußen gesessen und das Haus im Auge behalten. Damit war jetzt Schluß, aber trotz dieser scheinbar gleichgültigen Haltung der Polizei durfte man sich nicht in Sicherheit wiegen. Also kamen zwei von den Brüdern, die meinen Schlupfwinkel kannten, zu Besuch. Sie brachten Leckerbissen und Champagner mit, und wir waren am Ende reichlich flambiert. Ehe sie uns verließen, stießen wir auf mein Vierjähriges an. Ich gehörte seit vier Jahren dem besten Bikerclub der Welt an, und das war doch wirklich ein Grund zum Feiern. Zu Hause im Angels Place flogen jetzt sicher die Korken.

Weihnachten dauerte leider nicht bis Weihnachten. Als das neue Jahr eine Woche alt war, fuhr Helle nach Hause. Am nächsten Tag kehrte ich in den Schuppen in der Pampa zurück. Was für ein jäher Wechsel! Während Helle und ich uns in der Wohnung aufgehalten hatten, war es Winter geworden. Mir war zwar der Schnee draußen aufgefallen, aber erst, als wir den Landsitz erreichten, ging mir auf, wie kalt es wirklich war.

Pirot schlug sich die Arme um den Leib, als wir vor den Hütten vorfuhren. Wir gingen ins Haus und ich wollte schon die Leiter zu meinem »Hängeboden« hochsteigen. »Eine Nacht da oben, das überlebst du nicht!« Ich widersprach ihm nicht. Die Matratzen waren feucht, und die Wände fühlten sich an wie die Innenseite eines Kühlschranks. Ich kletterte wieder nach unten. Pirot erklärte mir, daß die Lage jetzt erträglich sei, da die Sonne noch schien. Nachts, wenn der Frost einsetzte, würden wir die Hölle erleben. Ich mußte lachen. Pirot kam mir vor wie ein Winzer, der seine gesamte Ernte eingebüßt hat. »Dann sollten wir Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.« Mit diesem Vorschlag war Pirot absolut einverstanden. Er hatte schon alle Lebensmittel und alle Töpfe aus der Küche in unseren Schuppen gebracht. Von nun an wollte er seine Kochkunst in der Schlafbaracke ausüben. Die leicht verderblichen Lebensmittel wurden im Vorderzimmer gelagert, das auch tagsüber als Tiefkühltruhe fungierte.

Wir hatten zwei Wärmequellen. Einen tragbaren Elektroofen mit Wackelkontakt und einen großen Gasbrenner, der vor allem einer Bombe ähnelte. Wir konnten überleben, aber dann mußten wir die Wärme konzentrieren. Als erstes holten wir die Matratzen vom Hochbett und lehnten sie an die Wände. Unsere beiden Sofas wurden einen Meter auseinander gestellt, so daß die Matratzen dahinter als Rückenlehne und als Frostschutz dienen konnten. Die Hüttenwände bestanden aus zwei Zentimeter dicken Furnierplatten, weshalb wollene Unaussprechliche hier wirklich angesagt gewesen wären. Decken hatten wir reichlich, und deshalb schlug ich vor, zwei davon über uns aufzuhängen. Wir konnten sie tagsüber hochklappen und vor dem Schlafengehen herunterlassen.

Der Abend kam und die Sonne verschwand. Pirot bereitete das Essen mitten in der Hütte zu, um den Frost erst einmal auszusperren, wozu zwei Flaschen Rotwein das ihre beitrugen. Wir legten uns vollständig angezogen unter einen Berg aus Steppdecken. Zwischen uns, auf einem Stuhl, stand die Gasflasche und zischte höhnisch. Die Decken waren noch hochgeschlagen, deshalb konnten wir fernsehen. Von Abendtoilette konnte kaum die Rede sein. Die Wasserrohre waren schon längst geplatzt, und niemand hatte Lust, sich mehr als einige Meter von der Hütte zu entfernen. Wir nahmen Schnee zum Zähneputzen und zu anderen wichtigen Dingen. Es war eine Scheißarbeit. Um eine Tasse Tee zu kochen, mußten wir einen ganzen Eimer mit Schnee füllen.

Nach drei oder vier Tagen in dieser Eishöhle wurde es kälter. Wir hätten nicht gedacht, daß es noch schlimmer werden könnte, aber jetzt wurden wir eines Schlechteren belehrt. Die Tage konnten wir überleben, und die Abende waren manchmal fast gemütlich. Aber wenn die Nacht kam, war Schluß mit jeglicher Gemütlichkeit. Selbst, wenn wir einen Pullover über den Kopf zogen, fror uns fast der Rüssel ab. Der Gasbrenner tat sein Bestes, war jedoch ebenso gefährlich wie die Kälte. Er fraß den Sauerstoff in unserem kleinen Iglu, und wir mußten ihn in regelmäßigen Abständen löschen. Wir gewöhnten uns an, im richtigen Moment aufzuwachen; ich habe keine Ahnung, wie wir das schafften. Wenn dagegen der Gasbrenner wieder angezündet werden mußte, war das Aufwachen kein Problem. »Ah, c’est froid«, jammerten wir unter unseren Dekkenbergen. Und unsere Zähne klapperten, bis wir den kleinen Brenner wieder anwerfen konnten. Dabei mußten wir jedesmal den kleinen elektrischen Heizapparat losbrechen. Die Gasflasche war ganz einfach daran festgefroren.

Nachts bildete sich auf der Innenseite des Fensters eine mehrere Zentimeter dicke Eisschicht, und unser Wassereimer, der gleich vor den Decken stand, war durch und durch gefroren. Aufs Klo zu gehen war in diesen Tagen eine gewaltige Leistung.

Der Morgen kam, und mit ihm die Sonne. Ich wurde von irgendeinem Lärm geweckt. Die Decken waren hochgeklappt und Pirot war verschwunden. Shit und Chanel, nobody can tell. Rückte da etwa die Gendarmerie an? Ich war angezogen, deshalb stand ich lieber gleich auf. Vorsichtig schaute ich aus der Tür. Rap, rap und rappeldirap. Eine große fette Ente kam um die Hausecke gewatschelt, dicht verfolgt von Pirot, der mit einzogenem Kopf und ausgestreckten Armen hinter ihr herrannte. »Kommen Sie doch, kommen Sie doch«, rief er, aus unerfindlichen Gründen auf deutsch. Ich ging ins Haus und legte mich wieder hin. Pirot fing die Rap-Maschine und brachte sie herein. Sie sprang ihm aus den Armen und jagte verängstigt hin und her, wobei sie die ganze Hütte vollschiß. »Schaff den Kackschnabel raus!«

»Das ist doch was zu essen«, rief Pirot lachend und versuchte, den Scheißesprenger zu erwischen.

»Wir haben genug zu essen, also fuck das Viech!« Pirot gab sich geschlagen und zog mit dem panischen Erpel davon.

Nach dem Frühstück machte ich mich wieder an mein Buch. Ich kam gut voran und hatte jetzt fast achthundert Seiten zu Papier gebracht. Alles sah reichlich chaotisch aus. Ich verbesserte nur selten und schrieb einfach frisch von der Leber weg. Pirot trieb sich derweil in der Umgebung herum. Ab und zu tauchte er auf, wenn er irgendwo im Wald eine interessante Entdeckung gemacht hatte. Dann überließ ich mein Buch seinem Schicksal und trottete mit ihm hinaus.

Abgesehen davon, daß mein Buch wuchs und wuchs, konnte ich über meinen Aufenthaltsort nicht viel Gutes sagen. Ich hatte es reichlich satt, mir den Hintern abzufrieren. Im Fernsehen gab es zu allem Überfluß nun auch noch Sondersendungen über das Wetter. Es handelte sich um den schlimmsten Eiswinter, den Frankreich seit dem Krieg erlebt hatte. Der Flughafen von Nizza war eingeschneit und der Hafen von Cherbourg vereist. Der Winter hatte das Land wirklich in seiner Gewalt, und jeden Abend berichteten die Nachrichten von neuen Todesfällen. Ganze Familien waren von Gasbrennern in die Luft gesprengt worden, andere waren in der tückischen Wärme sanft entschlafen. Wann immer die Behörden neue Warnungen losließen, tauschten Pirot und ich einen Blick und schauten danach die zwischen uns stehende Gasbombe an. »C’est terrible«, riefen wir wie aus einem Mund. Und der Teufel sollte mich holen, wenn ich mein Leben hier verbringen wollte. Dann lieber eine Runde Knast, da war es doch wenigstens warm. Ich beschloß, bei der nächsten Gelegenheit nach Paris zurückzukehren.

Als der Versorgungstrupp auftauchte, war Aldo dabei. Er sah auf den ersten Blick, daß ich stocksauer war. Sogar mitten in Paris waren die Leute kurz vor dem Erfrieren. »Ça va, Pat?« rief er mit einem schlecht verhohlenen Grinsen.

»C’est terrible. C’est tres, tres terrible. Ce n’est pas possible ici!« Er konnte sein Grinsen nicht unterdrücken, und ich meins auch nicht. Aber eins stand fest. Für mich war das Pfadfinderleben damit überstanden.

Nach einem kleinen Umweg landete ich wieder bei Fafa und Robert. Es war ein Wechsel zum Besseren. Allein schon wieder ein Bad nehmen zu können war das Risiko wert. Ansonsten hielt die Gefahr sich in Grenzen. Paris hatte über zehn Millionen Einwohner, und die Gegenden, in denen die Polizei mich vermutete, lagen weit von Les Halles entfernt.

Frankreich war noch immer von Eis bedeckt. Wir mußten dicke Socken und Pullover tragen, sogar in dieser modernen Wohnung. Fafa und Robert machten Winterurlaub, und ich mußte die Wohnung hüten – und die beiden Töchter. Von der älteren sah ich nicht viel. Sie war läufig, wie die meisten jungen Leute in diesem Alter. Anders verhielt es sich mit der jüngeren. Emanuelle kam jeden Tag mit mindestens fünf Freundinnen aus der Schule. Ich – der ausländische »Schriftsteller« – sollte vorgeführt werden. Sie stellten alle möglichen Fragen über Bücher, und ich antwortete in meinem gebrochenen Französisch, so gut ich das konnte. Die jungen Leute waren vor allem von den vielen Seiten auf meinem Schreibtisch beeindruckt. Ich saß zehn Stunden pro Tag an der Arbeit und erst wenn Emanuelle das Abendessen servierte, ließ ich die Feder sinken.

Einer meiner dänischen Brüder schaute vorbei. Die Wiedersehensfreude war größer als groß, und die Schreiberei wurde bis auf weiteres an den Nagel gehängt. Die Polizei war natürlich weiterhin auf der Suche, es gab immer neue Razzien. Der Prozeß gegen vier Brüder, die wegen des Makrelenmordes in Untersuchungshaft saßen, rückte immer näher. Alle ließen mich grüßen. Niemand wollte, daß ich der Geiseltaktik der Polizei nachgab. Ich sollte nur nach Hause kommen, wenn ich das selber wollte. Eine besonders gute Nachricht … Der Black Sheep MC, zweifellos Dänemarks zweitbester Biker-Club, hatte sich um Aufnahme in den Hells Angels MC beworben. Der Druck, den die Polizei auf unseren Club ausübte, steigerte unsere Kampfeslust und sorgte dafür, daß wir frisches Blut brauchten. Der Black Sheep MC war bereit und wurde zum Hangaround-Club. Nachdem wir die Neuigkeiten abgehakt hatten, nahmen wir uns die Zukunft vor. Mein Bruder und ich überflogen meine Schreiberei. Er kommentierte, und ich konnte einige Details notieren, die ich übersehen hatte. Wir glaubten beide, daß das Buch sich gut verkaufen würde.

Der Prozeß gegen das Hamburg-Chapter wurde wiederaufgenommen. Viele Themen sollten dabei zur Sprache kommen, in einigen Fällen ging es um wirkliche kriminelle Sachverhalte, in anderen um den ziemlich vagen Vorwurf der Beteiligung an organisierter Kriminalität. Über diese Dinge wurde mehr oder weniger unabhängig vom Verbot des Vereins verhandelt.

Zum ersten Mal war damit in der Geschichte der BRD ein nichtpolitischer eingetragener Verein verboten worden, und nun wollte das Innenministerium das ohne Gerichtsbeschluß verhängte Verbot festnageln. Die Hells Angels dagegen wollten den Fall der höchstmöglichen Instanz vortragen, dem Bundesverwaltungsgericht. Die Sache drohte, unüberschaubare Ausmaße anzunehmen. Wenn vor dem normalen Gericht verhandelt werden würde, könnte es sieben oder acht Jahre dauern, bis überhaupt ein Urteil fiele. Deshalb beschlossen der Hells Angels MC Hamburg, dessen Anwälte und die Anwälte des Innenministeriums, das Bundesverwaltungsgericht anzurufen.

Ich wollte mir neue Augen kaufen. Ich brauchte einfach Kontaktlinsen, die für mich bestimmt waren, nicht für irgendeinen hergelaufenen Schauspieler. Die Linsen, die ich auf der Fahrt nach Frankreich benutzt hatte, hatte ich weggeworfen. Ich wollte nicht noch einmal riskieren, mir die Augen zu verderben. Aldo holte mich ab, und nach einem Mittagessen mit kurzer Beratung ging es los.

Die Augenarztpraxis lag in einem besseren Stadtviertel. Wir wurden sofort vorgelassen, und der Service war wirklich erstklassig. Im Sprechzimmer standen allerlei Apparaturen bereit, um mir tief in die Augen zu sehen. Aldo war die ganze Zeit dabei, als Dolmetscher und als eventueller Zeuge für die Lügengeschichte, die wir uns aus den Fingern gesogen hatten. Die Augenärztin war eine fesche kleine Japanerin. Sie sprach Englisch und fühlte sich geehrt durch den Besuch des großen Schauspielers. Daß ich braune Augen haben mußte, lag an einer speziellen Filmrolle. Ich war schließlich nach Frankreich geholt worden, weil ich Ähnlichkeit mit einem längst verstorbenen König hatte. Darunter tat ich es nicht. Die Japanesin stellte immer neue Fragen, während ich in ein überdimensionales Fernglas schaute. Sie war glücklicherweise in Geschichte nicht sonderlich bewandert, und überhaupt – irgendein König Christian muß doch irgendwann einmal durch Frankreich geritten sein!

Wir machten einen Abholtermin ab und fuhren weiter. Diesmal zum Friedhof. Aldo wollte mir Jim Morrisons Grab zeigen.

Jens, Middelboe, Carlo und Gaukler wurden vor Gericht gestellt. Sie alle wurden der Beihilfe zum Mord und der Beihilfe zu meiner Flucht bezichtigt. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten von Anfang an versucht, so viele HA wie möglich mit dem Mord in Verbindung zu bringen. Sie griffen zur Verschwörungstheorie und setzten aus Tatsachen und Mutmaßungen ihr Puzzlespiel zusammen. »Wir haben es mit einem Mord zu tun, der nach einem dermaßen komplizierten Plan durchgeführt worden ist, daß ein einzelner dazu niemals in der Lage wäre«, erklärte der Staatsanwalt. Daß es sich bei den Theorien der Polizei um pure Gedankenspinnerei handelte, ließ sich nicht beweisen. Ich war nicht anwesend, und meine Brüder konnten keine richtigen Aussagen machen. Sie waren durch die Solidarität gehindert – was die Staatsanwaltschaft wußte. Wenn sie die Wahrheit gesagt hätten, wären sie vermutlich freigesprochen worden, hätten dann aber mich ans Messer geliefert.

Die meisten Theorien der Polizei bauten auf abgehörten Gesprächen auf. Aus siebenhundert Stunden, in denen unser Clubhaus überwacht worden war, hatten die Behörden, überaus bequem, einige Stunden zusammengeschnitten, die vor Gericht abgespult wurden. Die Polizei weigerte sich, den Verteidigern die unredigierten Aufnahmen auszuhändigen, und die im Gefängnis gemachten Bänder wurden zerstört. Die sind ohne Ermittlungswert für den Fall, entschieden die Behörden. »Man muß sich hier eins klarmachen. Die Angeklagten sind über siebenhundert Stunden lang überwacht worden, aber trotzdem hat die Polizei nicht eine einzige Aussage finden können, aus der klar hervorgeht, daß die Angeklagten den Mord zusammen mit Jönke geplant haben. Alles muß vom Staatsanwalt erklärt und ausgelegt werden. Keine einzige Bemerkung steht für sich allein«, sagte Erling Andresen, der Verteidiger eines der Angeklagten. Die Frage, ob im Gefängnis auch die Anwälte abgehört worden seien, wurde vom Chef der Mordkommission zurückgewiesen. Aber daß es überhaupt gestattet sein soll, in einem sogenannten Rechtsstaat zwei Stunden Zusammenschnitt aus über siebenhundert Stunden zu verwenden, ist mir ein Rätsel. Die Polizei lieferte ein von ihrer eigenen technischen Abteilung fertiggeschnürtes Bündel, die Stimmproben waren vernichtet worden. Der sogenannte Experte der Polizei erklärte, daß in den meisten Fällen kein Zweifel daran bestehen könne, wer wann was gesagt habe. Ein aufmerksamer Verteidiger, Jørgen Jacobsen, reagierte auf diese feste Überzeugung und bat einen der führenden Phonetiker Dänemarks um Hilfe. Professor Jørgen Rischel von der Universität Kopenhagen erklärte, der Großteil des durch Abhören gesammelten Materials sei von so schlechter Qualität, daß es verworfen werden müsse. Es war die Rede von Mutmaßungen und Rätselraten auf Seiten der Polizei, und der Polizist, der die Stimmproben hergestellt hatte, wurde als Dilettant bezeichnet.

Neue Abschriften und Stimmproben mußten her. Diese Arbeit wurde Professor Rischel und einem weiteren polizeilichen Experten übertragen, dem Goldenen Ohr. Der Prozeß ächzte nun schon in allen Fugen, und der Staatsanwalt wand sich: »Es liegt wirklich nicht in meinem Interesse, diese Menschen zu verurteilen, wenn sie unschuldig sind. Es ist die Aufgabe der Anklagebehörden, die Wahrheit zu finden. Wenn sie unschuldig sind, dann ist das alles, was ich wissen will.«

Aber bei den Hells Angels kam jeder Zweifel dem Staatsanwalt zugute. Trotzdem bewirkte das neuredigierte Abhörmaterial, daß Carlo und Gaukler von der Anklage auf Beihilfe zum Mord freigesprochen wurden. Beide wurden wegen Fluchthilfe verurteilt. Das normale Strafmaß in solchen Fällen lag bei etwa fünfzig Tagen Haft, in diesem Fall aber gab es ein Jahr für Carlo und ein Jahr und drei Monate für Gaukler. Da sie schon neun Monate in Untersuchungshaft verbracht hatten, wurden beide auf der Stelle auf freien Fuß gesetzt.

Middelboe und Jens wurden der Beihilfe zum Mord für schuldig befunden und zu sieben beziehungsweise zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Das war eine Ironie des Schicksals. Die Verschwörung, von der hier dauernd die Rede war, hatte die Polizei angezettelt, und der Prozeß hatte mit einem gediegenen Justizirrtum geendet.

Helle wartete in einer abhörsicheren Telefonzelle in Dänemark auf die letzten Neuigkeiten aus Paris. Und wer wollte nicht gern etwas von zu Hause hören! Nachdem Carlo und Gaukler auf freien Fuß gesetzt worden waren, war im Club ein heißes Fest gestiegen. Die neun Monate Isolation mußten sofort aus dem Körper vertrieben werden. Alle unsere Bekannten waren empört über die strengen Strafen, die gegen Jens und Middelboe verhängt worden waren. Sie wollten natürlich in Revision gehen, aber in Dänemark war ein Revisionsbescheid vom Landesgericht nicht viel wert. Die Schuldfrage war entschieden, und das Oberste Gericht konnte nur das Strafmaß festlegen.

Helle war glücklich darüber, daß der Prozeß überstanden war. Sie war als Zeugin vorgeladen gewesen, und Gerichtsverhandlungen waren nicht gerade ihr Fall.

»Weißt du was?«

Nein, nein, das tat sie nicht.

»Ich bin fertig mit dem Buch.«

»Wirklich? Wie lang ist es denn geworden?«

»An die 993 Seiten. An einigen Stellen habe ich noch Seiten angefügt, an anderen habe ich gestrichen.«

Helle freute sich für mich. »Ist es gut geworden?«

»Ich glaube, schon. Es liegt hier vor mir. Ich habe es mitgebracht, um es nach Hause zu schicken.«

»An wen denn?«

»Einen Verlag, der Tiderne Skifter heißt.«

»Ist der gut?«

»Keine Ahnung. Ich verlasse mich da auf das Urteil meiner Freunde.«

»Hast du auch die Vorgeschichte geschrieben … war das schwer?«

»Eigentlich nicht. Ich habe Zeitungsartikel benutzt und ein wenig gedichtet.«

Den letzten Schliff hatte ich dem Buch durch die Beschreibung des Mordes an Makrele verpaßt. Es war eine fast unverzichtbare Einleitung für ein Buch wie meins. Und bei einer Verhandlung würde sie keine Rolle mehr spielen.

»Du riskierst lebenslänglich, wenn du nach Hause kommst.«

»Ich glaube nicht, daß ich so bald nach Hause kommen werde. Meine Berater finden, ich sollte wegfahren. Weit weg … und das Leben genießen.«

Ein Langstrecken-Seufzen kam aus dem Hörer. »Ich kann die Vorstellung, daß du so lange eingesperrt wirst, ja auch nicht ertragen …«

»Du bist ein Schatz.«

»Ich liebe dich.«

»Das weiß ich. Und ich kann nur sagen, ganz meinerseits, gute Frau.«

»Wohin fährst du?«

»Das darf ich nicht verraten.«

Aldo hatte die Kontaktlinsen abgeholt. Anders als ihre Vorgängerinnen lagen sie in einem hübschen kleinen Etui. Und sie waren weich! Makreles Witwe hatte meine Augen als die grausamsten und bösesten Augen bezeichnet, die sie je gesehen hatte, und wir erfanden sofort einen passenden Slogan. Weiche Linsen für harte Augen!

Ich hatte mich zum Weggang aus Paris bereit erklärt und war deshalb in Wartestellung gegangen. Ich hatte die Wohnung von Fafa und Robert verlassen und mich von allen meinen französischen Freunden verabschiedet. Es war ein wenig langweilig, ganz isoliert zu wohnen, aber es mußte sein. Um keine Zeit zu verlieren, machte ich mich gleich an ein neues Buch. Bei den vielen Erlebnissen, die ich in meinem Hirnkasten verstaut hatte, konnte ich einfach losschreiben. Ich nannte es »Drei – vielleicht zwanzig« und in Dänemark erschien es später unter dem Titel »Im Knast«.

Ich merke überhaupt nichts«, sagte die Frau. Sie sah mich nervös an. Ein reizendes Lächeln. Dann saugte sie wieder am Joint.

»Keine Panik, das kommt schon noch.« Eigentlich hätte ich nervös sein müssen. Ich stand kurz vor der Abreise, und ich riskierte einen langen Aufenthalt hinter schwedischen Gardinen. Sie war nur zum Schein mitgekommen.

»Normalerweise brauche ich nur einen Zug, aber jetzt werde ich einfach nicht high.« Sie hielt mir den Joint hin. Ich lehnte ab. Um nichts in der Welt wollte ich diese Reise mit zugedröhnter Birne antreten. Wir saßen noch am Frühstückstisch und warteten auf das Taxi. Daß sie nervös war, störte mich nicht. Wenn wir erst unterwegs wären, würde sie sich schon beruhigen. Was sie so angespannt werden ließ, war die Stimmung hier am Tisch. Die anderen rissen Witze darüber, was alles schiefgehen könnte. Ich selbst fühlte mich rundum wohl und war mehr als nur bereit. Mein Koffer war gepackt, und die Kontaktlinsen hatte ich vorschriftsmäßig eingesetzt.

»Hier ist die Kutsche!« Wir sprangen auf und machten uns an die Umarmungen. Meine neue Freundin und ich kämpften uns durch das enge Treppenhaus nach unten. »Grüß drüben«, riefen die Brüder hinter mir her.

Es wurde Händchen gehalten und kussgeschmust, während wir uns durch die verwinkelten Straßen der Großstadt schlängelten. Hier kamen wir leichter voran als in Paris. Es gab kaum Einbahnstraßen und längst nicht so viele Autos. Die Frau lehnte sich an mich und ich legte den Arm um sie. Ihre fieberhafte Erregung verlor sich langsam. »Ich schaff das schon«, flüsterte sie. Ihre Wärme und ihre Aussprache machten mich heiß, und ich mußte aus dem Fenster starren, um nicht zu weit zu gehen. Der Taxifahrer war von der neugierigen Sorte. Er hatte den Rückspiegel auf Beobachten eingestellt, und seine Augen waren mehr mit uns beschäftigt als mit dem Verkehr.

Der Flughafen war riesengroß, und wir mußten einen längeren Fußmarsch antreten, bis wir den Schalter meiner Fluggesellschaft gefunden hatten. Meine Freundin spielte ihre Rolle brillant. Wir sahen aus wie jedes andere Paar und waren außerdem frischverliebt.

Die Frau von der Fluggesellschaft war ein ziemliches Biest. An der Oberfläche freundlich und hilfsbereit, doch hinter der spiegelblanken Oberfläche lauerte ein Krokodil. Wie ich denn ein so junges und hübsches Mädchen verlassen könne, fragte sie. Mir bleibe leider nichts anderes übrig, da ich meine Verwandtschaft over there besuchen müsse. Und wieso nimmst du sie dann nicht mit?! Nein, sie muß zu Hause bleiben, sonst verliert sie ihre Arbeit. Ich gab mein Gepäck auf und reichte der Schalterpäpstin Paß und Ticket. Sie vertiefte sich in den Paß, wie eine Kunsthändlerin sich in einen Rembrandt vertieft hätte, und setzte die Fragestunde fort. Wo und wann der Paß ausgestellt worden sei. Am Ende versuchte sie, mich in eine Falle zu locken, und behauptete, der Paß sei bis 1995 gültig. »Nein, nein«, erwiderte ich mit engelhaftem Lächeln. »Der gilt nur bis 1990.« Ich hätte ihr schrecklich gern eine gescheuert und gefragt, ob sie neuerdings bei der Paßkontrolle arbeite. Ich bekam meinen Paß zurück und mein Ticket wurde für gut befunden. Meine Freundin spielte ihre Rolle weiterhin mit Bravour. Entweder hatte sie sich in mich verliebt oder sich bis über beide Ohren in ihre Rolle hineingesteigert. Sie wollte mit. Das durfte sie auch, aber nur bis zur Paßkontrolle. Wir plauderten und umarmten uns, während wir uns langsam dem letzten und entscheidenden Hindernis näherten. Ein Strich auf dem Boden trennte uns. Trotzdem übertrat sie den und sprang vor und küßte mich, unmittelbar, ehe ich an die Reihe kam. Der Beamte hinter dem Schalter lächelte verständnisvoll. Meine Freundin lächelte traurig, ich lächelte einfach nur. »Gute Reise«, sagte der Beamte und gab mir meinen Paß. Ich setzte meinen Fuß in die gelobte Zone und drehte mich zur kürzesten Liebe meines Lebens um. Ich hatte soviel Zeit, daß ich mir die Freiheit nahm, eine Runde durch die Transithalle zu schlendern.

Mein Abflug wurde über Lautsprecher bekanntgegeben, und ich trottete zum Ausgang. Eine lange Schlange wogte vor dem Himmelstor hin und her. Es war ein heißer Tag und vor und hinter mir schwitzte alles mit mir. Die Schlange bewegte sich langsam, und ich schob mit dem Fuß mein Handgepäck vor mir her. Ich zog mein Ticket hervor. Der Lautsprecher knackte. »Attention, attention. Gate number 21 … beim Einstieg findet eine zusätzliche Paßkontrolle statt … wir bedauern diese Unannehmlichkeit.« Unannehmlichkeit, my ass. Ich hatte noch nie so eine Kontrolle beim Einstieg erlebt, und ich war doch schon viel gereist. Während der Lautsprecher noch redete, verteilten sich zivilgekleidete Sicherheitsbeamte an der Schlange. Aufmerksam musterten sie das Verhalten der Fluggäste. Ich verhielt mich wie alle anderen. Brummte über die Hitze und rückte langsam in Richtung Gate 21 vor.

Die Zeit schleppte sich dahin, aber so ein Jumbo bot ja auch Platz für über dreihundert Menschen. Erst als ich die Tür zum Übergang erreicht hatte, konnte ich die Kontrolle sehen. Sie fand mitten auf der Flugzeugtreppe statt und bestand aus vier Männern. Zwei in Zivil, die die Papiere durchsahen, dahinter zwei uniformierte Flughafenangestellte, mit den Händen auf der Knarre. Ein blendender Kontrast zu den lächelnden Stewardessen, die man durch die Flugzeugtür gerade noch sehen konnte.

Die beiden Männer nahmen die Pässe entgegen, öffneten sie und vertieften sich in den Anblick der Fotos. Ich war jetzt so weit vorgerückt, daß ich der Prozedur folgen konnte. Die Fluggäste bekamen mit einer höflichen Bemerkung ihren Paß zurück. An meinem Foto war nichts auszusetzen; wenn es sich also um eine Routinekontrolle handelte, dann bestand keine Gefahr. Ich suchte mir den Mann auf der linken Seite aus. Es war ein dunkelhaariger Bursche mit scheunentorbreiten Schultern. Er mußte sich seitlich an die Wand pressen, wenn ein Fahrgast überprüft worden war. Es würde schwer sein, an ihm vorbeizulaufen, aber das spielte keine Rolle. Ich hatte durchaus nicht vor, mein Glück als Flugzeugentführer zu versuchen. Ich reichte ihm meinen Paß. Er nahm ihn und fing an zu blättern. Und dann ließ er ihn fallen. Mir sträubten sich die Nackenhaare. Von allen verdammten Pässen auf der ganzen Welt läßt er ausgerechnet meinen fallen. Noch ein Zufall? Oder ein Signal für die uniformierten Gorillas? Er bückte sich rasch und bat um Entschuldigung. Lächelte dann und reichte mir den Paß. Ich nickte und trat zwischen die Kontrollettis. Wenn es passierte, dann würde es jetzt passieren. Vorwärts, ich ging an den beiden Uniformierten vorbei. Nichts geschah, und ich ging an Bord des Flugzeugs.

Zwanzig Minuten später rollten wir hinaus auf die Startbahn. Der Pilot gab Gas, und wir wurden in die Sättel zurückgepreßt. Und vor uns lag Amerika.

Auf der Flucht - mein Leben als Hells Angel

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