Читать книгу Auf der Flucht - mein Leben als Hells Angel - Jørn Nielsen - Страница 5
ОглавлениеDer Agerlandsvej lag wieder still vor mir. Der Lärm der Maschinenpistole war verhallt, und die Bewohner der Straße hatten sich noch nicht blicken lassen. Ich fuhr mit dem Fahrrad aus dem Pulverdampf heraus. Bisher war alles gut gegangen, und das gab mir die Kraft, mich besonders energisch auf die Pedale zu stellen. Ich mußte einfach machen, daß ich hier wegkam. Bald würde es in der Gegend von schwarzlackierten Straßenbengeln nur so wimmeln.
Ich konzentrierte mich auf den kleinen Wagen vor mir. Er fuhr in kleinen, wütenden Rucken auf den Englandsvej zu. In der Kutsche herrschte offenbar wilde Panik. Kein Wunder. Die Leute im Wagen hatten die Schießerei miterlebt, und Makreles Witwe hatte bei ihnen Zuflucht gesucht. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie schwer es ihnen fiel, in dieser Situation die Gangschaltung zu bedienen. Und dann kam ich auch noch auf meinem Rennrad angestrampelt.
Der Wagen bog um die Ecke, und ich kam hinterher. Ich mußte mich weiterhin beeilen und bald hatte ich sie eingeholt. Ich weiß nicht, ob die spätere Geschichte, ich hätte eine Maschinenpistole auf dem Fahrradlenker liegen gehabt, hier ihren Anfang genommen hat. Aber eins steht fest, das Entsetzen stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Der Wagen fuhr noch immer neben mir her, wir näherten uns dem Wasserturm. Der Fahrer war offenbar wie gelähmt. Wieder schaute ich in das Auto hinein. Diesmal hielt ich mich nicht zurück und deutete mit der Hand auf meine Jackentasche. Das brachte die Karre auf Trab, und sie verschwand in einer Seitenstraße. Sehr gut. Jetzt war die Hitze mein größtes Problem. In den zwei Stunden, in denen ich auf Makrele gewartet hatte, war es Sommer geworden. Und die Maske und meine wilde Mähne machten die Sache nicht besser …
Natürlich hatte ich oben beim Verteilerkreis Rot. Aber ein Verstoß gegen die Verkehrsregeln würde mein Urteil wohl kaum erhöhen. Ich hielt Ausschau nach Streifenwagen und gab dann alles, was meine Beine nur schaffen konnten. Ein einzelner Wagen war in der Nähe, aber das war auch alles. Zwei Tage darauf konnte ich in der Zeitung lesen, daß er mich um ein Haar überfahren hätte. Eine Übertreibung, aber es sollte nicht die letzte sein.
Hinter dem Verteilerkreis fuhr ich in etwas ruhigerem Tempo weiter. Ich war mit meinem Fluchtfahrzeug absolut zufrieden. Ein Rennrad mit zehn Gängen, primitiv, aber praktisch. Im Tårnbyvej drehte ein jüngeres Paar sich lächelnd nach mir um. Zeit zur Demaskierung! Ohne Maske war ich leicht zu erkennen, aber sie erregte zu große Aufmerksamkeit.
In der Schule am Korsvej war gerade große Pause. Eine große Kinderschar spielte am Straßenrand mit Wasser. Einige der jüngeren Schüler entdeckten mich und spritzten mir mit einem Gartenschlauch ins Gesicht. Ich drohte ihnen mit dem Zeigefinger, lächelte dabei aber. Sie grinsten frech und suchten sich ein neues Opfer. Ja, ja, wenn die wüßten, dachte ich.
Eigentlich hatte ich das Rad in einem der Fahrradständer vor dem Flughafen abstellen wollen, aber nun lockte die kleine grüne Oase gegenüber der Kastruplundgade. Ich schob meinen Drahtesel unter die Bäume und ließ ihn dort grasen. Dann überquerte ich die Straße und den Parkplatz. Ich lief im Zickzack durch die Taxenschlange und setzte mich vor der Ankunftshalle auf eine Bank. Hier kam ich ins Gespräch mit einer netten Schwedin, die mir erzählen konnte, daß der SAS-Bus eben gefahren sei. Ich mußte also warten, und wir plauderten über die Unterschiede zwischen Schweden und Dänemark. Gleichzeitig behielt ich meine Umgebung aufmerksam im Auge. Ein Streifenwagen verließ in raschem Tempo den Flughafen, und dann kam gleich noch einer. Da mußte doch etwas passiert sein!
Zehn Minuten vergingen, ehe der nächste silbrig schimmernde Bus auftauchte. Inzwischen hatte sich eine recht große Gruppe von Reisenden angesammelt, die meisten waren Schweden, und ich saß mitten unter ihnen.
Im Bus landete ich auf einem Fensterplatz. Ich hatte ihn mir nicht ausgesucht, denn inzwischen hatte ich das Gefühl, einen Heizkörper auf den Rücken geschnallt zu haben. Die Sonne brannte, und ich trug nicht weniger als zwei Pullover und eine dicke Jacke. Mein Pistolenhalfter hinderte mich daran, irgend etwas davon auszuziehen.
Endlich ging es los. Ich hatte eine neue Schwedin gefunden, mit der ich mir die Zeit vertreiben konnte. Ich hatte wirklich Glück mit diesen schwedischen Massen. Sie würden sich am nächsten Tag für gewisse Nachrichten viel weniger interessieren als die Dänen. Der Bus fuhr seine übliche Route durch den Englandsvej. Der Täter kehrt immer an den Tatort zurück, dachte ich, als wir am Agerlandsvej vorbeikamen. Ich mußte einfach hinüberschauen. Jede Menge Menschen, und am Ende der Straße, nur wenige Meter von mir entfernt, saß ein Verkehrsbulle. Er behielt den Verkehr im Auge und sah mich nicht. Weitere Streifenwagen kamen mit Blaulicht angebraust, und einer wäre fast mit dem Bus zusammengestoßen. Das war wirklich mehr als perfekt, dachte ich. Der Hauptbahnhof bot reiche Möglichkeiten. Ich entschied mich für den Zug nach Lyngby.
Eine Krone für eine Plastiktüte im Laden unterhalb des Bahnhofs Lyngby. Danach ging es los auf die verdreckte Bahnhofstoilette. Runter mit Jacke, Schulterhalfter und dem dicken Pullover. Das alles konnte ich in die Tüte stopfen und danach kam ich mir zehn Kilo leichter vor.
Mein Freund wohnte in einem großen Wohnkomplex, und er war nicht zu Hause. Zum Glück kannte ich die Nachbarn, und einer hatte einen Schlüssel. Ich ging in die Wohnung und stellte meine Sachen ab. Danach ging ich wieder zum Nachbarn. Er sah sich auf Video einen Western an, seine Frau servierte Tee. Wir redeten über Gott und die Welt, während mir langsam aufging, daß ich entkommen war. Körperlich war ich in dieser Wohnung anwesend, aber meine Gedanken hatte sich auf eine längere Charterreise begeben. Ob ich aus allem mit heiler Haut herauskommen würde? Wohl kaum. Ich hatte nie damit gerechnet, aber die Hoffnung bestand eben doch. Und jetzt war es passiert. Das war das Wichtigste. Meine Brüder und Freunde. Die würden sich ja so freuen, wenn sie davon hörten. Auf der anderen Seite gab es da die restliche Familie und die Frau. Die würden wohl kaum so glücklich sein, wenn – oder falls – sie erfuhren, wie ich den Vormittag verbracht hatte. Ich verspürte den unwiderstehlichen Drang, Helle zu sehen.
Aus der Wohnung meines Kumpels rief ich sie an und erzählte, wo ich war. Jetzt konnte ich mich nur noch zurücklehnen und ihre Reaktion abwarten. Ich schloß eine Zeitlang die Augen. Sie hatte schon gewußt, daß etwas nicht stimmte. Frauen spüren das – sogar durchs Telefon.
Es klingelte. Ich nahm ab. Es war der Nachbar von gegenüber. Er hatte gesehen, daß ich in der Wohnung war, und er fand, ich solle das Radio einschalten. Draußen in Amager sei irgendein »Rocker« erschossen worden …
Mein Kumpel weckte mich, als er von der Arbeit kam. Er war überrascht und freute sich, mich zu sehen. Ich besuchte ihn nicht allzuoft. Er wußte von unseren Scharmützeln mit den Kuhfladen, hatte aber noch nichts von Makreles Ende vernommen. Wir hörten die Meldung in den Nachmittagsnachrichten, und er freute sich ebenso wie ich über den Tod einer Kuhflade. Ich glaube nicht, daß er sich selbst in seinen wildesten Phantasien hätte vorstellen können, daß ich es gewesen war.
Helle kam. Müde nach einem langen Arbeitstag und glücklicherweise nicht allzu neugierig. Wir durften uns ins Schlafzimmer zurückziehen, und ich erklärte ihr, daß ich mich für ein paar Tage bedeckt halten mußte. Sie war ziemlich erschüttert von Makreles Tod. Natürlich sagte ich ihr nicht, daß ich mit Blei herumgewedelt hatte. Wir liebten uns, wurden aber durch Middelboes Eintreffen unterbrochen. Ich hatte früher an diesem Tag Kontakt zu ihm aufgenommen. Man wollte ja schließlich wissen, was in der Stadt so vor sich ging. Während Helle und der Kumpel das Abendessen machten, besprachen wir im Eßzimmer, wie es weitergehen sollte.
Schon am Vormittag hatte es im Club eine Razzia gegeben, wie ich von Middelboe erfuhr. Die Polizei hatte ihn mit der fröhlichen Nachricht aus dem Schlaf geholt. Jappe war längst nicht so begeistert gewesen. Seit den Søpromenade-Morden des vergangenen Jahres hatte seine Freundin nie mehr im Club übernachten wollen. Unglücklicherweise hatte sie sich am Vorabend zum ersten Mal dazu bereit erklärt. Acht Monate, und nun wurde sie gleich beim ersten Mal hopsgenommen, aber ich hatte ihn ja nicht warnen können. Die Bullerei hatte im Club nichts gefunden, abgesehen davon, daß Jens mit einer dicken Knarre in der Tasche von zu Hause gekommen war. Sie hatten auf der Lauer gelegen und ihn im Tor geschnappt. »Aber was ist mit dir? Warst du das?« fragte Middelboe. Er hatte ganz stark das Gefühl. Ich nickte und erzählte ihm alles. Vielleicht war es keine gute Idee, aber früher oder später würde ja doch alles herauskommen.
Es war eigentlich überraschend leicht gegangen. Mein größtes Problem war die Herfahrt gewesen. Ich konnte Autos nicht leiden und besaß nur geringe Erfahrung darin, diese Blechdosen mit ihren viel zu vielen Rädern zu lenken. Der Morgenverkehr hatte sich in Grenzen gehalten. Ich war damit durch die Stadt und hinaus über Langebro geglitten. Unterwegs war mir nur ein einziger Streifenwagen begegnet. An der Kreuzung zwischen Amager Boulevard und Amagerfælledvej. Ich bog in den Fælledvej ab, und Gert und Helge fuhren geradeaus weiter.
Keine Menschenseele war zu sehen gewesen, als ich fünfzehn Meter von Makreles Gartentor entfernt hielt. Es war früh und noch kühl. Ich vergeudete keine Zeit, sondern setzte mich sofort in den Laderaum. Ich war keinen Augenblick zu früh in Deckung gegangen. Eine Frau mit einem Kind in der Karre kam hinter mir aus einem Garten. Ich konnte sie durch das Rückfenster des Führerhauses für einen Moment sehen. Frau und Kind verschwanden, und ich konnte mich auf das Geschehen draußen konzentrieren. Makreles VW-Bus stand mit dem Hintern zu mir. Ich setzte mich auf einen Bierkasten und hatte einen guten Blick durch Vorder- und Rückfenster. Die Maschinenpistole lag kalt und tödlich vor mir. Ich könnte weggehen und sie liegenlassen, wenn ich das wollte. Nie im Leben. Ich war fest entschlossen, das auszuführen, wozu ich gekommen war.
Im Wagen wurde es warm, und mein Hintern wies das Rillenmuster des Bierkastens auf. Jetzt tauchte Makreles Frau im Vorgarten auf. Ich zog die Maske übers Gesicht und war bereit. Sie schaute zu mir herüber, und ich mußte mich in die Ecke drücken. Sie fuhr allein davon. Für das Frühstück einkaufen, tippte – und hoffte – ich. Ich wußte nicht mit Sicherheit, ob Makrele zu Hause war, ich hatte keine Zeit gehabt, das festzustellen. Die Frau kam zurück und zu meiner Zufriedenheit direkt auf mich zu. Das würde alles leichter machen, und ich würde ihn von vorne niederschießen können. Ihm dabei in die Augen blicken.
Zwei Stunden vergingen, aber an meiner Geduld war nichts auszusetzen. Wenn nötig, wäre ich noch den halben Nachmittag sitzengeblieben. Wieder mußte ich mich in die Ecke drükken. Diesmal wegen eines Streifenwagens. Vorsichtig rückte ich vor und schaute nach. Der Streifenwagen fuhr jetzt langsamer, und die beiden Beamten schauten zu Makreles Haus hinüber. Sie hätten in die andere Richtung blicken sollen. Aber sie konnten ja nicht wissen, daß dort ein Mann mit einer Maschinenpistole in einem harmlosen Lieferwagen wartete. Ich behielt sie aufmerksam im Auge, bis sie abbogen und verschwanden. Wieder allein.
Und jetzt passierte etwas. Zuerst tauchte im Garten ein Hund auf, dann folgten Herr und Frau Makrele. Sie stritten sich. Ich trug die Maske. Ich hob die Stengun vom Boden. Sie war schußbereit. Der Hund wurde hinten ins Auto gesetzt. Gut! Damit war er aus dem Weg. Makreles Frau stieg ins Auto, und gleich darauf glitt Makrele hinter das Lenkrad. Ich wartete, bis er die Tür zugeschlagen hatte. Schaute nach hinten den Agerlandsvej entlang. Ich hatte keine Lust, vor einem Auto auf die Straße zu springen. Aber ich hatte freie Bahn, abgesehen von einem Radfahrer Ich riß die Schiebetür auf und sprang hinaus. Makreles Frau entdeckte mich als erste. Sie schrie und öffnete die Tür, um wegzulaufen. Makrele und ich schauten einander in die Augen. Er war wie gelähmt und bewegte sich nicht. Ich spürte, daß er mich erkannt hatte. Dann schrie er und versuchte, hinter seiner Frau herzulaufen. Das war die verkehrte Richtung, aber für einen unter Schock stehenden Mann die logischste – die Tür stand doch offen.
Ich ging in die Knie und gab eine kurze Salve auf die Mitte und die rechte Seite des Führerhauses ab, um sie zu trennen. Das gelang mir. Makreles Frau stand zu diesem Zeitpunkt neben dem Auto und Makrele saß noch immer darin. Ich konnte ihn nicht sehen, während ich auf den VW zurannte. Mit einer kurzen Bewegung des Abzugshahns jagte ich noch eine Ladung Blei durch Scheinwerfer und Kotflügel. Sicherheitshalber. Er konnte unter dem Sitz doch eine Kanone liegen haben. Ich lief um die offene Tür herum. Er lag halb auf dem Sitz und halb auf dem Boden und streckte den Kopf aus der Türöffnung. Ich leerte die Maschinenpistole in ihn aus. Er bebte und war auf jeden Fall tot.
Ein kurzer Blick über die Straße zeigte, daß die Witwe gerade in einen kleinen Wagen stieg. Ich lief zu meinem Lieferwagen zurück und warf die Stengun auf die Ladefläche. Wenn sie im Zweiten Weltkrieg ihre Wehrpflicht nicht abgedient hatte, dann doch auf jeden Fall jetzt. Her jetzt mit dem Rad und weg von hier!
Am nächsten Tag ergingen die Zeitungen sich in den ungeheuerlichsten Schilderungen. »Von eiskaltem Mörder niedergemetzelt«, schrieb Ekstra Bladet – und das konnte man ihr wohl auch nicht übelnehmen. Auch wenn ich mich selber nicht so sah, dann traf das doch wohl in gewisser Weise zu. Die Zeitungen brachten Bilder der Autos im Agerlandsvej aus allen möglichen Winkeln. Und der Chef der Mordkommission hatte den Tatort höchstpersönlich aufgesucht: Das ist eine von einem überaus kaltblütigen und überaus geübten Maschinenpistolenschützen ausgeführte Liquidierung. Worauf die Zeitungen sich vor Begeisterung überschlugen. »Professioneller Schütze« und »sorgfältig geplante Liquidierung«. Wenn die gewußt hätten, wie wenig diese Liquidierung geplant gewesen war, dann hätten sie sich wegen dieses Textes die Haare gerauft. Ich las voller Zufriedenheit, daß Makreles Hund überlebt hatte. Die Perlen mußten ihm doch um die Ohren gepfiffen sein. In einem Punkt hatten die Zeitungen allerdings recht. Die Witwe war verschont worden. Es war zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt gewesen, sie ebenfalls zu töten. Sie war ein mieses Stück, und niemand in unseren Kreisen konnte sie ausstehen, aber es gab eben doch Grenzen. Und man bringt Leute nicht um, bloß weil man sie nicht leiden kann.
Meine Beschreibung war überraschend zutreffend. Was Größe und Alter anging. Fünfundzwanzig Jahre. Tja, es waren nur noch zehn Tage bis zu meinem vierundzwanzigsten Geburtstag. Haare und Bart: Ich sah aus wie ein Wollknäuel, und allein das alles unter die Maske zu stopfen war ein Problem an sich gewesen. Den Zeitungen zufolge waren einzelne Haarsträhnen nicht dort geblieben, wo ich sie verstaut hatte. Also war eine neue Frisur angesagt.
Helle stürzte sich mit Leib und Seele in dieses Projekt. Sie hatte schon lange wissen wollen, wie ihr Bekannter wirklich aussah. Mein Kumpel stand in der Badezimmertür und lächelte ebenfalls erwartungsvoll. Zuerst wurden die goldenen Lokken geopfert, dann mein wilder roter Bart. »Ach, was siehst du gut aus«, rief Helle. Ich schaute in den Spiegel. Immerhin hatte ich mich verändert.
Ich blieb den ganzen Tag im Haus, und abends gingen wir dann los. Ich hatte von meinem Kumpel einige Klamotten geliehen und trug einen kleineren Koffer in der Hand. »Na, dann los, Jönke«, rief er hinter mir her.
Helle und ich sahen aus wie jedes andere Paar. So, wie ich jetzt aussah, würden sie früh aufstehen müssen, um mich einbuchten zu können. Ich beschloß, für den Sommer zu bleiben. Das gute Wetter war der eine Grund, Helle der andere. Ich war einfach bis über sämtliche Ohren verliebt. Ihr gegenüber behauptete ich, mich bedeckt halten zu müssen, aber wirklich nicht derjenige zu sein, der Fischfresse umgelegt hatte. Trotzdem war sie leicht vergrätzt. Wir waren bis zum Mord so gut wie jeden Tag zusammengewesen. Und als sie dann endlich eines Tages nach Hause ging, um sich etwas Frisches zum Anziehen zu holen, passierte gleich alles Mögliche. Das mit dem Bedeckthalten fand sie auch nicht so toll. Jetzt sah ich endlich brauchbar aus, und da durfte sie mich nicht vorzeigen.
Wir verbrachten einen netten Abend und eine nette Nacht bei einem mir bekannten Ehepaar. An Aufenthaltsorten fehlte es mir wirklich nicht. Wohin ich auch kam, überall wurde ich freundlich aufgenommen.
Am folgenden Tag nahmen Helle und ich Abschied voneinander. Durch allerlei Kanäle hatten wir erfahren, daß die Polizei mit ihr reden wollte. Natürlich wünschten sie sich auch ein nettes Plauderstündchen mit mir, aber bis auf weiteres gaben sie das alles als pure Routine aus.
Die Zeitungen schwelgten noch immer in phantastischen Geschichten. Offenbar vermißten die dänischen Kriminalredaktionen schmerzlich schwerere Kriminalität. Irgend etwas mit Mafia oder so. Meine Aktion mußte ihnen erscheinen wie ein Geschenk des Pressehimmels. Schakal angeheuert, um Makrele umzunieten konnte man lesen – und gleich nach der Untat sei der Killer ins Ausland geflohen. Wo er es sich vermutlich gutgehen ließ. Egal. Ich war kein bezahlter Killer, und im Ausland war ich auch nicht, aber ich ließ es mir gutgehen. Nachmittags ging ich mit meinem neuen Gastgeber zum Fußballspielen in einen in der Nähe gelegenen Park. Ich kannte mehrere von unseren Mitspielern, aber nur ein einziger bemerkte, daß hier wohl jemand beim Friseur gewesen war.
Abends kam Middelboe zu Besuch. Er erzählte von den Aktivitäten der vergangenen Tage. Die Polizei hatte eine weitere Razzia im Club veranstaltet und Helle zur Vernehmung geholt. Sie war so grob in die Mangel genommen worden, wie das unseren Frauen immer passierte. Middelboe hatte zwei Brüdern von meiner Tat erzählt. Das war schon in Ordnung, sollte für sie später aber noch entscheidende Folgen haben. Die Polizei hatte in aller Heimlichkeit den Club verwanzt. Und die von Middelboe und den anderen aufgezeichneten Bemerkungen sollten interpretiert werden als Teilnahme an der Planung des Mordes.
Seit dem Mord war jetzt eine Woche vergangen. Nach mir wurde immer energischer gefahndet, auch wenn die Polizei sich offiziell alle Mühe gab, um meine »Beliebtheit« zu unterdrücken. Ich hatte abermals meine Zelte abgebrochen und hauste jetzt im Herzen Kopenhagens bei einer kinderreichen Familie. Nur dem Mann war meine wirkliche Identität bekannt, und ich sollte auch nur kurz dort bleiben. Wir hatten mir Kleidung und eine Sonnenbrille gekauft, die wie eine normale Brille aussah. Nicht einmal meine eigene Mutter hätte mich jetzt erkannt.
Jeden Tag genoß ich an den Seen das gute Wetter. Oft sah ich Streifenwagen, aber keiner kam in meine Nähe. Den Zeitungen zufolge fahndete die Polizei energisch nach meinem Kastenwagen. Der war wirklich überall gesehen worden. Ob das ein Rauchteppich sein sollte oder ob wirklich so viele Leute glaubten, ihn gesehen zu haben, wußte ich nicht. Aber ich wußte, daß der Wagen seit meinem Einsatz nicht mehr benutzt worden war.
Middelboe und Carlo kamen zu Besuch. Sie hatten alle möglichen Haken schlagen müssen, um der Bullerei zu entwischen. Die wiederum amüsierte sich rund um die Uhr mit Razzien und Beschattungen. Helle war abermals vernommen worden, und abermals hatten sie sie unmöglich behandelt. Es war nur gut, daß sie meinen neuen Aufenthaltsort nicht kannte. Ich hatte zwar Vertrauen zu ihr, wußte aber auch, daß die Mordkommission keine Hemmungen kannte. Mein Rennrad war gefunden worden, nachdem ein Fahrraddieb darauf herumgegurkt war. »Da ist es ja nur gut, daß ich es nicht geholt habe«, fand Middelboe. Am Mordtag hatte ich ihn darum gebeten. Aber er wollte nicht, er wollte nicht wegen eines blöden Fahrrads in die Sache hineingezogen werden. Da hatte er recht gehabt. Die Polizei, die zu diesem Zeitpunkt emsig die Gespräche in der Titangade abhorchte, teilte diese Auffassung allerdings nicht. Sie hatten den Fahrraddiebstahl geheimgehalten, in der Hoffnung, daß jemand von uns auftauchen würde.
Ich zog wieder um. In eine Wohnung in Nørrebro, nicht weit vom Club entfernt. Sie war kein großartiger Aufenthaltsort, aber sie war einigermaßen sicher. In meiner Situation war es klüger, immer weiterzuziehen. Wieder kam Helle zu Besuch. Sie hatte es satt, zur Vernehmung geholt zu werden und sich anhören zu müssen, wie die Bullerei mich durch den Dreck zog. Aber sie hatte alles im Griff. Die Mordkommission war verrückt nach ihr und sie wurde beschattet. Aber doch nicht so sehr, daß sie nicht mit Hilfe meiner Brüder entwischen konnte. Wir machten es uns mit Kerzen und Rotwein in der kleinen Wohnung gemütlich, während Gert und Helge Markt und Straßen absuchten. Es gab inzwischen kaum noch einen Ort, an dem ich nicht gesehen worden war.
Meine Eltern bekamen Besuch von der Polizei. Mein Vater, der Prototyp des autoritätshörigen Bürgers, ließ sich vernehmen, hatte aber nichts zu erzählen. Der erste Besuch kam eines Abends kurz nach dem Mord. Mein Vater hatte mit seinem Abendkaffee vor dem Fernseher gesessen, als plötzlich zwei Kripobeamte auf der Veranda standen und ins Zimmer glotzten. Er hatte mit dem Anwalt gedroht, was sein gutes Recht war. Niemand ist gezwungen, mit der Polizei zu sprechen, und Eltern sind nicht aussagepflichtig, wenn es um ihre Kinder geht.
Bei meiner Mutter lief es ganz anders. Ihr Mann empfing die ersten Polizisten auf der Garagenauffahrt. Hier erzählt er kurz und bündig, daß meine Mutter mir natürlich nicht schaden wolle und sich deshalb nicht vernehmen lassen werde. Die Polizei versuchte wie üblich, sich einen Weg ins Haus zu erzwingen, aber das gelang ihnen nicht. Nun fingen sie an, meine Eltern, die damals etliche Firmen betrieben, zu schikanieren. Nachbarn, Freunde, Geschäftspartner und Angestellte stellten Fragen, nachdem die Polizei sie aufgesucht hatte. Stimmte es wirklich, daß Jönke ihr Sohn war und daß er Makrele ermordet hatte? Erst, als der Mann meiner Mutter sich bei der Mordkommission beschwerte, war Schluß mit den Schikanen. Aber wer hatte damit angefangen?
Ich hatte meinen ersten Nahkontakt zu den Behörden. Es passierte, als ich zwei Tage in der neuen Wohnung lebte. Ich wollte für meinen Geburtstag einkaufen. Gert und Helge hielten zehn Meter weiter die Straße hinunter, wo eine Bande Betrunkener herumhing. Und als ich im Laden stand und Bier und Wasser in Tüten stopfte, tauchten sie hinter mir auf. Abgesehen von einem leichten Lufthauch im Nacken bemerkte ich ihre Anwesenheit nicht und ließ mir auch nichts anmerken. Wenn sie mich hier verhaften wollten, könnte ich auch nichts daran ändern, und deshalb gab es keinen Grund zur Nervosität. Die Polizisten teilten dem Ladenbesitzer mit, daß die Suffköppe die Öffentlichkeit störten, danach zogen sie wieder ab. Ich bezahlte und trottete zurück in meine Wohnung.
Mein vierundzwanzigster Geburtstag wurde im besten Gangsterstil gefeiert. Die Gäste kamen einer nach dem anderen über die Hintertreppe. Mehrere von ihnen hatten die Polizei abschütteln müssen, und die Vorhänge waren dicht geschlossen. Alle schleppten Essen und Wein an. Obwohl wir nur zu zehnt waren, ging es volle Kanne ab. Middelboe und Jens waren nicht dabei, sie waren zum jährlichen Run in die USA gefahren. Gaukler rauchte sich die Birne voll und lachte sich über die ganze Situation schimmelig. »Hinter jeder Laterne steht ein Bulle, und du sitzt einfach nur hier und holst dir einen runter.« Ich bekam nicht viele Geschenke, denn was soll man schon einem Mann geben, der aus dem Koffer lebt? Die meisten brachten Jahrgangsweine, und mir war das nur recht.
Vier Tage darauf fand in der Kirche von Tårnby die Trauerfeier für Makrele statt. Die letzten Kuhfladen und ihre Freunde folgten dem Leichenwagen. Im ersten Auto des Korteges saß die Witwe. Was in unseren Kreisen einfach lächerlich war. Aber okay, sie gehörten ja nicht zu unseren Kreisen und würden das auch niemals tun. Soviel Geschrei um einen toten Hering, sagte eine Frau, die dem Leichenzug zusah. Es heißt ja, daß man über Tote nicht schlecht sprechen soll. Andererseits gab es bei mir keine Sympathie zu holen. Er hatte es ja eigentlich nicht anders gewollt.
Die Sonne knallte und in Kopenhagen war Karneval. Ich saß schwitzend in meiner kleinen Wohnung und mopste mich zu Tode. Helle war in Ungarn, um irgendwelche Verwandten zu besuchen, und ich erwartete sie erst in einer Woche zurück. Ach! Während dieser Tage war es der absolute Gipfel der Langeweile, ein gesuchter Mörder zu sein. Ich hatte die Wohnung aufgeräumt und sie kreuz und quer gewienert. Ich hatte einige Bücher zum Lesen, aber gegen die Hitze half das auch nicht weiter. Der Wohnungsbesitzer tauchte auf, sein Gesicht war mit Theaterschminke knallgrün gemalt. Ich spielte mit dem Gedanken, mit ihm in die Stadt zu gehen und einen wilden Samba zu tanzen, aber es blieb dann bei diesem Gedanken. Obwohl er bald wieder verschwand, hatte er doch registriert, daß ich mich fühlte wie ein Löwe im Käfig. Am nächsten Tag erschien er in Sommeranzug und Tropenhelm. Und wir dampften nach Dronningmølle ab.
Am 12. Juni rief einer meiner Brüder an. »Du kommst heute abend im Fernsehen. Von jetzt ab wird offiziell nach dir gefahndet.« Am selben Tag rief Volmer Pedersen von der Mordkommission meinen Vater an und fragte, ob er mich nicht überreden könnte, mich zu stellen. Sonst würde ich nämlich in allen trauten Heimen Dänemarks zu sehen sein. Mein Vater wußte nicht, wo ich mich aufhielt, und ich hatte durchaus vor, mich erst dann zu stellen, wenn mir das paßte. Also machte ich es mir vor der Glotze gemütlich.
Der Sommer mußte genossen werden, und in einer kleinen Wohnung in Nørrebro war das nicht möglich. Da ich nun steckbrieflich gesucht wurde, brauchte ich Luftveränderung dringender denn je. Wir mieteten für zehn Wochen ein Ferienhaus. Alles wurde telefonisch abgesprochen, und das Ehepaar, dem das Haus gehörte, bekam uns nicht zu sehen. Mein Versteck lag in einer großen Ferienhauskolonie, wo es von fremden Gästen wimmelte, vor allem von Deutschen. Das erhöhte meine Sicherheit und kam mir wie gerufen. Die ersten beiden Tage im neuen Schlupfwinkel verbrachte ich zusammen mit einem Bruder. Zusammen erkundeten wir die Gegend. Fanden den Strand, die lokalen Läden und die Fluchtwege, die ich kennen sollte, für den Fall, daß mein Film riß.
Als mein Bruder das Ferienhaus verließ, kehrten Langeweile und Einsamkeit, die ich aus der letzten Wohnung kannte, zurück. Aber ich konnte hier draußen in der Natur besser damit umgehen. Es war schwer zu beschreiben. Es kam mir fast vor wie ein leeres Gefühl im Bauch, und ich schien ein Stück neben mir zu gehen. Es hatte nichts mit dem Mord an sich zu tun, denn schon zu diesem Zeitpunkt dachte ich nur noch selten daran. Das Gefühl verschwand, wenn ich Gesellschaft hatte, stellte sich dann aber wieder ein, sowie ich allein war. Entweder mußte ich damit leben oder ich mußte etwas dagegen unternehmen. Ich fing an, lange Spaziergänge durch die Umgebung zu machen, was mir sehr gut ins Programm paßte. Der Strand war ein ziemliches Stück vom Haus entfernt, und es war Badewetter. Die Einkaufstouren in den lokalen Supermarkt erforderten ebenfalls ihre Zeit, und bald bemerkte ich eine leichte Verbesserung. Ich hatte Fernsehen, und – glücklicherweise – der dänische Fußball hatte einen Höhepunkt erreicht; es war ein Genuß, der Mannschaft bei der EM in Frankreich zuzusehen. Und noch besser: Auf dem Bildschirm tauchte George Christie von den Hells Angels Ventura auf. Barfuß, mit der Fackel in der Hand und unterwegs zu den Olympischen Spielen nach Los Angeles. Die Brüder in Kalifornien hatten die Spiele gesponsert und durften deshalb einen Kilometer das olympische Feuer tragen.
Im Haus fand ich ein Tonbandgerät und eine Woche darauf wurde mir ein Stapel meiner Lieblingsbänder zugeschickt. Ich arbeitete nun auch an meiner Form. Zuerst wuselte ich nur aufs Geratewohl durch die Gegend, aber bald lief ich jeden Tag am Strand. Carlo brachte eine Gewichtstange und einige Bleiplatten. Das führte zu einem allmorgendlichen Work-out. In der Garage gab es ein Rad und einen Rasenmäher, und mit ersterem machte ich mich auf den Weg, um im Ort einen Kanister Benzin zu erstehen.
Jedes Wochenende kam Helle zu Besuch. Das war der Höhepunkt der Woche, und die Zeit verflog nur so, wenn sie da war. Anfangs machte es sie nervös, einfach so mit mir durch die Gegend zu laufen, aber nach dem zweiten Besuch ging sie alles gelassener an. Wir lernten einander besser kennen und genossen die Ferienhausidylle. Wir waren zu dieser Zeit viel am Strand und hatte einige feine Senken gefunden, wo wir uns sonnen und in aller Ruhe allerlei Schabernack treiben konnten. Wenn wir uns am eigentlichen Strand aufhielten, zwischen anderen Menschen, versteckte ich meine Tattoos unter einem Hemd. Das Leben wurde so normal, daß Helle mich eines Tages rief. Wir hatten uns am Strand ein wenig gerauft. Helle lief heulend am Wasser entlang, dicht verfolgt von mir, und ich hielt eine dicke Qualle in der Hand. »Das ist eine Feuerqualle«, rief ich, und gerade, als sie eine Gruppe von Badenden erreichte, die uns lachend beobachtet hatten, rief sie: »Neeeihein, Jönke!« Und klatsch, die Qualle hatte sie getroffen. Das brachte alle zum Lachen, und niemand hatte mitbekommen, was Helle da gerufen hatte.
Daß ich schwer zu erkennen war, wurde mir mehrmals bewiesen. Als erstes lief ich im lokalen Supermarkt Mogens Kløvedal und seiner Freundin in die Arme. Obwohl wir uns fast gegenüber standen und uns erst zwei Wochen vor dem Mord begegnet waren, erkannte er mich nicht. Und zwei Tage darauf stieß ich auf meinen alten Schulkameraden Ole Jacobsen. Es wurde fast zum Sport, und ich umkreiste ihn, um mein Schicksal herauszufordern. Ich nahm allerdings keinen Blickkontakt auf. Auch er erkannte mich nicht – nicht einmal, als ich ihn anstieß und »Verzeihung« sagte. Ich hätte mich eigentlich gern zu erkennen gegeben. Ole war ein lustiger Bursche und wir hätten sicher in unseren Ferien viel Spaß zusammen haben können.
Langsam gewöhnte ich mich an die Vorstellung von sechzehn Jahren im Gefängnis. Es war keine lustige Aussicht, aber andererseits war mir der Tarif ja bekannt gewesen, als ich geschossen hatte. Die Brüder kamen zu Besuch und alles, was sie erzählen konnten, stellte klar, daß ein Freispruch die pure Utopie wäre. Sie erzählten, daß Ellis, ein früheres Mitglied, tot war. Er war ein erfahrener Fallschirmspringer gewesen und hatte in Paris an irgendeinem Schauspringen im Zusammenhang mit der Fußball-EM teilgenommen. Bei einem Gruppenspringen hatte er sich im Schirm eines anderen Springers verfangen. Er hatte seinen eigenen Schirm gekappt, und der Kollege hatte überlebt. Aber Ellis’ Reserveschirm hatte sich nicht geöffnet, und Ellis war auf dem Boden zerschellt.
Der Krieg mit den Kuhfladen wurde zu diesem Zeitpunkt nur in der Presse ausgefochten. Seltsamerweise verdammten die Medien uns als zynische Mörder und abgestumpfte Gewaltverbrecher, zugleich aber geilten sie sich an uns auf. Jetzt muß Bullshit bald zuschlagen und In diesen Kreisen ist Rache eine Notwendigkeit, sonst macht man sich zum Spott und kann sein Patch auch gleich wegwerfen, schrieben sie.
Obwohl ich mein Leben im Griff hatte, kamen noch immer diese Phasen der Langeweile. Damit jedoch war dann abrupt Schluß, als ein guter Freund zu Besuch kam. »Warum schreibst du kein Buch?« fragte er. Tja, warum eigentlich nicht? Wir diskutierten darüber, dann wechselten wir auf andere Themen über. Mein Freund begriff nicht, daß die Polizei sich keine größere Mühe gab, mich zu fangen. Man konnte zwar jeden Tag über Polizeieinsätze in Kinos und auf Fähren lesen, aber ihm kam das alles vor wie ein Schauspiel. Und einige meiner Brüder staunten auch darüber, wie halbherzig sie inzwischen beschattet wurden. Wenn die Polizei sich wirklich energisch darauf konzentriert hätte, Helle zu überwachen, dann hätten sie mich erwischt. Aber das wollten sie offenbar nicht. Wie mein Freund es ausdrückte: Wenn irgendein Streifenpolizist über mich gestolpert wäre, dann wäre er in den Norden Grönlands versetzt worden.
Am nächsten Tag, als ich dann wieder allein war, fing ich an zu schreiben. Zuerst vorsichtig und ein wenig zögerlich. Es ging schließlich um mein Leben, und ich mußte mich zuerst an den Gedanken gewöhnen, daß eine Menge fremder Menschen mich kennenlernen würden. In der ersten Zeit machte ich nur Notizen. Ich schrieb alles auf, woran ich mich bei den verschiedenen Situationen erinnern konnte. Es war eine ganz neue Erfahrung, der letzte Rest Langeweile verdunstete wie Tau unter der Sonne. Und ich fuhr zum Supermarkt, um neues Papier zu kaufen.
Vier Brüder wurden festgenommen und der Mithilfe zum Mord an Makrele bezichtigt. Ich wurde ebenfalls unter Anklage gestellt und in Abwesenheit zu Untersuchungshaft verurteilt. Die Festnahmen fanden im Flughafen von Kopenhagen statt, als Jens und Middelboe aus den USA zurückkehrten. Obwohl sie jedes Jahr in die USA fuhren, wurde diese Reise von Polizei und Presse gegen sie verwandt. Es hieß ganz offen, daß sie sich dort versteckt gehalten hätten. Die Festnahmen gehörten zur Geiseltaktik der Mordkommission, das stand für uns fest. Aber was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wußten, war, daß sie einen Teil einer größeren Komplott-Theorie ausmachten, die die Polizei mit Hilfe ihrer Wanzen gerade zusammenschusterte. Auch Carlo und Gaukler wurden in den Knast gesteckt.
Am selben Abend kam Helle mit zwei von meinen Brüdern. Wir gönnten uns ein Festmahl und amüsierten uns ein wenig über die Großkotzigkeit von Polizei und Presse. Die Polizei hatte, mit Hilfe der immer willigen Zeitungen, behauptet, einen vernichtenden Schlag gegen die Hells Angels ausgeführt zu haben. Was für eine Sesselfurzerei! Nicht zum ersten Mal versuchten sie, unseren Club mit Worten auszuradieren.
Nach dem Essen fuhren die Brüder nach Hause, und Helle und ich waren uns selbst überlassen. Sie freute sich darüber, daß ich jetzt schrieb. Sie merkte, daß es mir gutging. Ich las ihr einen Abschnitt vor und mußte mir meine erste Kritik anhören.
Ich wanderte los, um mir Brot zum Frühstück zu kaufen. Die Schlagzeilen leuchteten mir entgegen. Juden-David war verhaftet worden, weil er den Kastenwagen gekauft hatte. Wie Jens und Middelboe hatte er nichts mit dem Mord zu tun gehabt, aber der Autokauf ließ sich ja nicht leugnen. Middelboe hatte erzählt, wie David während einer Kartenpartie plötzlich das Auto im Fernsehen gesehen hatte. Vor Verblüffung wäre er fast zu Boden gegangen. Das hier war wirklich eine verdammte Scheiße!
Wir kringelten uns vor Lachen. Wir lagen hinter dem Strand auf einem Erdwall und hatten eben erst ein Erdpfeifchen geraucht. Hinter uns lagen zwischen den Bäumen die Ferienhäuser, vor uns hatten wir Moor und Schilf. Weit draußen funkelte das Meer mit der Sonne um die Wette. Einer meiner Brüder wollte eine Woche bei mir verbringen und das genossen wir nun wirklich. Grund unserer Erheiterung waren Volmer Pedersens wiederholte Appelle in den Zeitungen: Ich sollte mich stellen. Melde dich, Jönke. Wir finden dich ja doch, du kannst dich nirgendwo verstecken. Schon möglich. Aber hier und jetzt war ich vierundzwanzig Jahre alt, und das wollte ich nun auskosten. Und zwar auf der richtigen Seite der Mauern. Es war ja auch keine Kleinigkeit, sich einfach zu stellen. Bei dem alten Vollnarr hörte es sich fast an, als ob ich nur eine Gardinenpredigt zu erwarten hätte. Pfui, schäm dich, Jönkelein, man darf doch die Leute nicht einfach mit Blei vollpumpen. Und dann vielleicht noch eine Ohrfeige.
Am selben Tag, am späteren Nachmittag, tauchten die Besitzer des Sommerhauses auf. Ich saß am Eßtisch und machte Notizen für mein Buch, während mein Bruder ein Horn drehte. Er sah sie als erster. Plötzlich latschten sie über den Rasen vor der Terrasse. In aller Eile konnte Bruderherz die Wasserpfeife verstauen. Wir warfen die immer bereitliegenden Hemden über. Rannten aus dem Haus und sagten guten Tag. Das Paar auf dem Rasen, Leute mittleren Alters, stellte sich vor, und ich lud sie auf ein Glas Limonade ins Haus. Sie waren eben aus Island zurückgekehrt und wollten nur vorbeischauen, ob alles in Ordnung sei. Ich konnte merken, daß sie zufrieden waren. Das Haus war sauber und ordentlich und der Garten gepflegt. Ehe sie aufbrachen, verlängerte ich den Mietvertrag um zwei Wochen. Auf diese Weise hatte ich mehr Zeit, um den weiteren Verlauf meines Lebens zu planen.
Helle hatte Urlaub. Sie traf ein mit Liebe, Koffern und einem Kanarienvogel. Jetzt wollten wir das Leben genießen. Sie hatte auch ihren kleinen Hund mitgebracht. Einen Cockerspaniel, den ich ihr geschenkt hatte. Nuggi war erst wenige Wochen alt und es machte uns viel Spaß, ihm zuzusehen. Das einzige Minus war, daß er überall Aufsehen erregte. Die Leute starrten ihn an und wollten ihm gleich den Kopf kraulen. Als wir eines Tages einkaufen waren, machte die Töle dann wirklich eine Szene. Nuggi saß in einem Einkaufswagen, während wir uns die Regale ansahen, und dann klemmte er sich zwischen den Gitterstäben die Schnauze ein. Meine Fresse, was hat er geheult. Der halbe Supermarkt kam angestürzt, die andere Hälfte begnügte sich damit, uns vorwurfsvoll anzusehen.
Wir fuhren nach Asnæs, dem nächstgelegenen Ort. Zur Feier des Tages trug ich einen weißen Sommeranzug. Ich sah so ungefähr aus wie eine dänische Ausgabe von Don Johnson. Meine Frau war ebenfalls passend gekleidet, aber das war sie zum Glück ja immer. Nuggi war auch dabei und sorgte für Leben. Er genoß die viele Aufmerksamkeit, auf die wir lieber verzichtet hätten.
Asnæs hatte ein kleines Einkaufszentrum. Wir kauften ein und aßen dann in einem kleinen Restaurant zu Mittag. Während wir spachtelten, wurde ich von einem alten Schulkameraden meines großen Bruders erkannt. Er sagte nichts, aber ich hörte einige Zeit später davon. Eine Woche zuvor war ich ebenfalls erkannt worden – bei einer Partie Minigolf. Von einem Barmann aus Gladsaxe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Angst vor einer Denunziation. Ich hatte nur wenige Feinde und viele Freunde. Trotzdem kam es ein wenig zu häufig vor. Dänemark war für mich zu klein. Meine Pläne, bis zum Ende des Sommers dort zu bleiben, konnte ich mir abschminken, meine Brüder forderten mich zum Aufbruch auf. Sie konnten die Vorstellung, mich so viele Jahre in einer Gefängniszelle sitzen zu sehen, nicht ertragen. Alle fanden, ich sollte verschwinden. Sie wollten der Geiseltaktik der Mordkommission nicht nachgeben. Aber letzten Endes war ich ja der einzige, der hier einen Entschluß fassen konnte.
Der Sommer ging seinen Gang. Trotz schwerer Wolken im Hinterland war es eine schöne Zeit. Ich hatte meine Notizen vollendet und an die hundert Seiten meines Buches geschrieben. Ich schrieb nur, wenn ich allein war, und deshalb kam ich nur langsam voran. Helle mußte wieder arbeiten, und ich hütete meine Ferienhausidylle, Die Zeitungen berichteten immer wieder über die Anstrengungen der Polizei, die uns reichlich halbherzig vorkamen. Angeblich war ich mal hier, mal dort gesichtet worden. Etliche rotbärtige Männer, deren einziges Verbrechen es war, ähnlich auszusehen wie ich in der Zeit vor dem Mord an Makrele, wurden auf mehr oder weniger brutale Manier festgenommen. Nur die Zeitung Holbæk Amts Venstreblad traf ins Schwarze. »Wir sind durchaus nicht sicher, daß Jönke sich in Odsherred versteckt«, erklärte Kriminalkommissar E. O. Steiness von der Polizei Kopenhagen gegenüber dieser Zeitung. Sie hätten aber sicher sein können, ich war ja schließlich dort.
Aber nicht mehr lange. Ohne es zu wissen, verbrachten Helle und ich unser letztes Wochenende im Sommerhaus. Als meine Brüder kamen, um Helle nach Hause zu fahren, hatten sie meine Fahrkarte bei sich. Wir waren nicht gerade glücklich. Als Frischverliebte klebten wir aneinander wie Magnet und Eisenspan. Helle war leicht frustriert darüber, daß ich die große Welt erleben sollte, während sie zu Hause im Büro malochte. Wir verabredeten, daß sie nach Beendigung ihrer Ausbildung hinterherkommen sollte. Wohl gemerkt, wenn wir bis dahin noch immer Feuer und Flamme füreinander wären.
Am Abend vor meiner Abreise wurde Helle zu mir gebracht. Die Brüder sorgten für Steaks und Wein und ließen uns dann allein. Es war einer der Abende, die einfach kein Ende nehmen dürften. Hungrige Körper, die nicht genug bekommen konnten, liebten sich und verflochten sich miteinander. Wir klammerten uns an die letzten Stunden wie an ein Brett im Meer. An den Wänden, die uns umgaben, nahmen die Dämonen der Liebe im Licht der Kerzen an allem teil. Bis wir, ohne es zu wollen, in die Finsternis des Schlafs hineinglitten.
Der Morgen war schön und grauenhaft zugleich. Helles Wärme und die Sonne, die verräterisch durch das Schlafzimmerfenster schaute. Und dann mein Bruder, der zwei Dinge für mich mitgebracht hatte. Das eine war mein neuer Paß. Ein weiteres Mal hatte ich mich gehäutet. Das zweite war ein Satz Kontaktlinsen. Das Bild in meinem neuen Paß hatte braune Augen, meine dagegen waren blau. Die gefärbten Kontaktlinsen hatte ein Bekannter zwei Tage zuvor einem Schauspieler gestohlen. Ich hatte noch nie Kontaktlinsen benutzt und fand die Vorstellung schrecklich. Aber ich mußte sie einsetzen! Weder Helle noch mein Bruder hatten Ahnung von Kontaktlinsen, und es war eine Höllenarbeit, sie unterzubringen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen mußten wir sie fast mit dem Hammer festschlagen. »Und nicht vergessen. Vor dem Einschlafen mußt du sie rausnehmen!« mahnte mein Bruder. Danke, Schicksal. Die Reise mit den braunen Augen würde mindestens dreißig Stunden dauern.
Der Bahnhof von Slagelse schwitzte in der Sommerhitze vor sich hin. Mein Bruder und ich verabschiedeten uns im Auto voneinander, und zusammen mit Helle betrat ich das dunkle Bahnhofsgebäude. Ich trug meinen hellen Anzug, ein hellblaues Hemd und weiße Schuhe. Es war nicht gerade ein Aufzug nach meinem Geschmack, aber ich sah aus wie frischgefallener Schnee. Helle trug mein Handgepäck, während ich mich mit einem riesigen, schweren Koffer abmühte. Die Fahrkarte hatte ich ja schon, und wir mußten bis zur Abfahrt des Zuges eine halbe Stunde totschlagen. Helle, dieses freche Gör, zog mich auf die Damentoilette des Bahnhofs. Mit Koffer und dem ganzen Schweinkram. Jetzt war Vögeln angesagt! Hoch mit dem Rock, keine Unterhose, und dann über das Klo. Hier stand ich – der meistgesuchte Mann in Dänemark, und fickte im Bahnhof Slagelse munter fürbaß. Hoffentlich hatte niemand uns entdeckt oder an der Sache Anstoß genommen. Was für ein Ort für einen Fick!
Mit einem Jammerlaut setzte der Zug sich in Bewegung. Ein Ruck vorwärts und einer zurück, und dann waren wir unterwegs. Helle stand unter meinem Fenster auf dem Bahnsteig. Wir konnten uns gerade noch an den Händen halten. Sie war traurig und zeigte es deutlich. Ich fand unsere Trennung auch nicht so toll, aber ich würde doch immerhin etwas Neues erleben. Helle ließ meine Hand los und zog statt dessen ein Taschentuch hervor. Winke, winke, es war wie in einem alten Film. »Benimm dich jetzt anständig«, rief sie noch.
Helle und der Bahnhof Slagelse verschwanden hinter mir. Ich ließ mich mit verlegener Miene auf meinen Sitz fallen. Die anderen Fahrgäste im Abteil, eine ältere Dame und zwei Paare, hatten allesamt ein verständnisinniges Lächeln aufgesetzt. Eigentlich wollte ich Dänemark ja gar nicht verlassen, und die Landschaft draußen schien mit jeder Schwelle, die wir passierten, schöner und anziehender zu werden. Ich fühlte mich dänischer denn je. Aber andererseits freute ich mich auch auf die Reise und meine neuen Abenteuer. Wenn ich schon sechzehn Jahre brummen mußte, dann konnte ich vorher mein Gehirn ja noch mit Erinnerungen aufladen.
Bahnhof Odense. Es war noch immer früher Nachmittag, und die Sonne gab sich alle Mühe, um mich aus meinem Anzug zu brennen. Ich schleppte mich nach draußen und machte mich auf die Suche nach dem Treffpunkt. Es gibt viele Möglichkeiten, ein Land zu verlassen, wenn man gesucht wird. Ich hatte mich für etwas so Simples wie eine Busreise entschieden. Die erste Etappe begann in Odense, und ich hielt vergeblich nach dem Bus oder Mitreisenden Ausschau. Nachdem ich mich erkundigt hatte, war ich dann weniger besorgt. Ich befand mich am richtigen Ort, und bald trafen die ersten Reisegefährten ein. Ein junger Schwarzer, ein junger Weißer und ein jüngeres Paar. Wie ich stammten sie aus Seeland, und ich konnte sie mit der Mitteilung beruhigen, daß es hier losgehen würde.
Der Bus – oder genauer gesagt das Taxi –, das uns weiterbefördern sollte, hatte Verspätung. Es war ein langer Mercedes mit jeder Menge Platz für uns alle. Eine ältere Dame lenkte die Kutsche durch Fünen und dann über die neue Brücke über den Kleinen Belt. Wir plauderten gutgelaunt miteinander und rissen viele Witze darüber, daß wir mit dem Taxi nach Paris fahren würden. Die Fahrt endete dann allerdings in Kolding. Wir wurden mit der Mitteilung abgesetzt, daß bald ein Bus kommen würde. Wir setzten uns in ein Restaurant und behielten zugleich den Busbahnhof im Auge. Ich nutzte die Gelegenheit, um meine neuen Reisegefährten kennenzulernen. Je mehr Menschen ich in meiner Nähe hätte, um so sicherer würde ich sein. Und das fiel mir nicht schwer. Sie waren wie ich, jung und gut drauf. Immer, wenn ein Bus auf den Platz fuhr, riefen wir: »Da ist er!« Aber erst, als ein alter Klapperkasten auftauchte, war es soweit. Wir betrachteten das Trauerspiel durch die Restaurantfenster und wechselten dann Blicke. »Meint ihr nicht, daß der falsch parkt«, schlug der Schwarze vor. Das Gerümpel hatte wirklich keine Ähnlichkeit mit dem Bus aus dem Reiseprospekt.
Aber das machte nichts. Er gehörte uns und würde uns zur Grenze bringen. Der Bus war etwas über die Hälfte mit Fahrgästen aus dem nördlichen Jütland gefüllt. Wir setzten uns auf die hintersten Sitze. Die anderen Reisenden betrachteten uns schon als Team.
Auf dem Weg nach Deutschland lasen wir noch weitere Fahrgäste auf. Haderslev. Åbenrå, Padborg und dann die Grenze. Und mir schien eine zusätzliche Qual zugedacht zu sein. Vierzig Meter, gleich vor der Grenzkontrolle, machten wir kehrt und fuhren wieder ins Land hinein. Wir mußten noch jemanden in Tondern abholen.
Eine halbe Stunde später hielten wir endlich an der Grenze. Jetzt kam es darauf an. Wenn sie mich hier nicht erwischten, würden sie mich niemals fangen. Langsam rollten wir der Grenze entgegen. Der dänische Kontrolleur würdigte uns nicht eines einzigen Blickes. Klasse, dachte ich. Die wußten von mir und hatten vermutlich meinen Steckbrief ausgehängt. Bei den Deutschen war das wohl kaum der Fall. Der Bus bremste und kam dann zum Stillstand. »Pässe bereithalten«, rief der Fahrer. Alle zogen ihre Papiere hervor, und ein deutscher Zollbeamter enterte die Postkutsche. Ich warf einen Blick in meinen Paß, die Ähnlichkeit war nicht umwerfend. Das einzige, was einigermaßen stimmte, waren die braunen Augen, und die waren nicht einmal meine eigenen. Der Zollbeamte kam näher und schaute die ganze Zeit immer wieder flüchtig nach rechts und links. Ich hielt ihm meinen Paß hin wie alle anderen. Dann entdeckte ich, daß mein Nebenmann einen israelischen Paß hatte. Da wußte ich, daß alles gutgehen würde, und richtig! Der deutsche Beamte, schon ein älteres Semester, würdigte mich kaum eines Blickes. Der einzige Paß, den er sich genauer ansah, war der meines Nachbarn! Ein Schwarzer! Noch dazu mit jüdischem Paß! Das war mehr, als der Germane ertragen konnte. Aber der Paß war in Ordnung, und der Beamte verschwand mit einem »Gute Reise« aus dem Bus. Wir fuhren los und befanden uns nun in Deutschland.
Auf der anderen Seite der Grenze wartete der Bus der Busse. Es gab ein ganzes Meer davon. In allen erdenklichen Farben und Größen. Unserer war ein Doppeldecker mit toller Aussicht. Wir luden das Gepäck um und erfuhren, daß es erst in einer Dreiviertelstunde weitergehen würde. Ich schlug vor, ein wenig Reiseproviant einzukaufen und etwas zu trinken. Meine Güte, Ferien in Frankreich, dachte ich und stieß mit der Bande an.
Wir kamen sehr spät zum Bus zurück und mußten uns mit Plätzen im Untergeschoß zufriedengeben. Egal. Wir hatten einen Tisch zwischen den Sitzen, packten die Flaschen aus und waren richtig lustig. Ich hatte einen ganzen Liter Rum gekauft und schwor, daß ich bis Paris nicht schlafen würde. Bald senkte sich die Dunkelheit über uns, während wir uns die Autobahn entlangfraßen. Wir langten beim Alk fröhlich zu und unterhielten uns lebhaft. Aber dann fiel einer nach dem anderen aus. Abgesehen von mir, der um keinen Preis einschlafen durfte, wollten die meisten am nächsten Morgen Paris ausgeruht gegenübertreten. Am Ende waren nur noch der israelische Schwarze und ich übrig. Der restliche Bus schnarchte vor sich hin, und wir beide waren auch schon kurz davor. Ich blieb allein, und es war eine unmögliche Aufgabe, mich wachzuhalten. Die Flasche war zwar eine gute Gesellschaft, aber jeder Schluck kam mir jetzt vor wie eine Schlaftablette.
Als ich aufwachte, war es hell. Wir hatten eine weitere Grenze passiert und befanden uns jetzt in Frankreich. Die gütigen Zollbeamten hatten es nicht übers Herz gebracht, uns zu wecken. Meine Augen! Sie waren gereizt und ich kam mir vor, als habe irgendwer einen Eimer Sand hineingekippt. Shit! Die Kontaktlinsen! Ich hätte damit doch nicht schlafen dürfen. Hoffentlich würde es nicht schlimmer werden. Und auf keinen Fall durfte ich mir etwas anmerken lassen.
Wir hielten vor einer Autobahnraststätte. Obwohl ich einen Schweinehunger hatte, wäre ich lieber ohne Pause nach Paris weitergefahren. Aber leider war nicht ich der Reiseleiter, deshalb war jetzt Frühstück angesagt. Ehe ich zum Essen ging, versuchte ich, etwas mit meinen Augen zu machen. Ich wagte nicht, die Linsen herauszunehmen – und das sollte sich später als kluge Entscheidung erweisen. Ich spritzte mir Wasser in die Augen, aber das half nichts. Meine Reisekameraden hielten mich für verkatert, als sie mein verbissenes Gesicht sahen. Vielleicht war ich das ja auch, aber darauf achtete ich nun wirklich nicht. Für mich gab es nur meine Augen, die ganze Zeit kreisten meine Gedanken um meine verdammten Augen. Ich trug die Linsen jetzt seit mehr als dreißig Stunden und hatte acht damit geschlafen. Wenn ich mir nur keine bleibenden Schäden geholt hatte!
Aufbruch. Der Fahrer teilte mit, daß wir in zwei Stunden Paris erreicht haben würden. Erleichtert machte ich es mir im Bus gemütlich. Wir hatten uns jetzt Plätze ganz oben erschlichen. Die Aussicht war vermutlich überwältigend, aber ich konnte sie nicht genießen.