Читать книгу Ich hatte einen Traum - Juan Pablo Villalobos - Страница 8

Ich werde ein bisschen schlafen

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Im Kühlschrank weißt du nie, wie spät es ist. Nicht mal, ob Tag oder Nacht. Der Kühlschrank ist die Zelle, wo du landest, wenn dich die Grenzpolizei schnappt. Sie heißt Kühlschrank, weil es da drin so kalt ist, und das Einzige, was sie dir geben, ist eine Decke, die aussieht, als wäre sie aus Metall. Es ist so kalt, dass ich Krämpfe in den Beinen kriege, aber das kann auch daran liegen, dass ich die ganze Zeit stehen muss. Als sie mich einsperren, kann ich mich nicht mal setzen oder hinlegen, weil überall schon andere Mädchen schlafen und es keinen Platz mehr gibt.

»He, pass auf, dass du nicht umkippst«, sagt eins der Mädchen zu mir.

»Was?«, frage ich, weil ich nicht ganz verstanden habe und weil ich nicht gesehen habe, welches von den Mädchen das gesagt hat.

Die Zelle ist voll, etwa sechzig bis achtzig Mädchen, alle in meinem Alter oder jünger, sogar ein paar Kinder sind dabei. In diesem Kühlschrank sind wir getrennt, es gibt nur Mädchen, aber ich war auch schon mal in einem, da waren alle gemischt, Männer und Frauen, und da gab es auch keinen Platz, um sich zu setzen oder hinzulegen, es war richtig voll, genau wie hier.

»Deine Augen sind zugefallen, und ich hab gedacht, du schläfst im Stehen«, sagt das Mädchen, das vor meinen Füßen liegt.

Ich reibe mir die Augen, um den Schlaf zu vertreiben, und als sich das Mädchen aufrichtet, nutze ich die Chance, um kurz die Beine zu strecken, vielleicht hören die Krämpfe ja auf.

»Setz dich«, sagt sie.

Ich gehorche, bevor sie es sich anders überlegt. Im Sitzen tut mir der Rücken weh, aber wenigstens können sich meine Beine etwas ausruhen. Ich sitze ihr gegenüber. Sie hat dunkle Haut wie ich, ihr Haar ist zerzaust und schmutzig, weil wir uns hier nicht duschen können, nicht mal richtig waschen. Sie ist etwa so alt wie ich, höchstens fünfzehn.

»Ich habe solchen Hunger, dass ich aufgewacht bin«, sagt sie. »Hast du keinen Hunger?«

Ich sage nein und dass mir der Hunger vergeht, wenn ich Angst habe. Mir fällt auf, dass ich kaum was gegessen habe, seit ich von meinen Großeltern aufgebrochen bin. Ich glaube, die ersten Tage, als wir im Bus unterwegs waren und nicht mal richtige Pausen gemacht haben, habe ich überhaupt nichts gegessen. Und in dem Haus, wo wir darauf gewartet haben, die Grenze zu überqueren, habe ich mir den Magen verdorben, weil ich das mexikanische Essen nicht vertragen habe.

»Weißt du, wann wir was zu essen kriegen?«, fragt das Mädchen.

Ich antworte, dass ich das nicht weiß, dass ich erst seit ein paar Stunden hier bin.

»Haben sie dich gerade erst geschnappt?«, fragt sie.

»Nein, vor zwei Tagen, aber sie haben mich zuerst woanders hingebracht.«

»Was gab es da zu essen?«

»Etwas Milch und einen Apfel«, sage ich.

»Mehr nicht?«

»Nein, morgens, mittags und abends das Gleiche. Das war alles.«

»Hier kriegt jeder ein Sandwich«, sagt sie. »Und einen Saft. Wie alt bist du?«

»Vierzehn«, sage ich.

»Ich auch«, sagt sie.

An ihrer Art zu reden habe ich schon gemerkt, dass sie aus El Salvador kommt, genau wie ich, aber ich glaube, sie ist aus der Hauptstadt.

»Ich heiße Kimberly«, sage ich.

»Aus welcher Ecke kommst du?«, fragt sie.

»Aus Ahuachapán«, sage ich. »Und du?«

»Warum legst du dich nicht etwas hin?«, sagt sie. »Wenn du willst, stehe ich kurz auf, dann kannst du dich ausruhen. Aber nicht zu lange.«

Sie steht auf und macht mir ein Zeichen, dass ich mich hinlegen soll.

»He, du, ich bin dran.«

Ich öffne die Augen und sehe die Decke des Kühlschranks. Das Mädchen hat sich über mich gebeugt und schüttelt mich an den Schultern. Ich setze mich auf, und sie lässt sich neben mir nieder.

»Wie heißt du noch mal?«, fragt sie. »Vor lauter Hunger kann ich mir nichts mehr merken.«

»Kimberly«, sage ich, »aber alle sagen Kim. Du kannst mich gerne Kim nennen. Habe ich lange geschlafen?«

»Keine Ahnung«, sagt sie, »hier verliert man jedes Gefühl für die Zeit, aber ich glaube ja, mir tun jedenfalls schon die Beine weh.«

Wir schweigen, und ich versuche, wach zu werden, um aufstehen zu können. Ich gähne, und mein Kopf dreht sich, als wäre hier drin zu wenig Sauerstoff. Ich bin so müde, dass ich kaum noch weiß, wann ich wach bin und wann ich schlafe. In der ersten Nacht, im anderen Kühlschrank, habe ich überhaupt kein Auge zugetan, später schon, da bin ich immer mal wieder kurz eingenickt.

»Der Kühlschrank, wo ich vorher war, war noch viel schlimmer«, sage ich, um Zeit zu gewinnen – wenn wir weiter reden, kann ich vielleicht noch etwas länger sitzen bleiben. »Wie eine Müllhalde, überall waren Apfelreste, und keiner hat saubergemacht. Die Milchpackungen haben auch alle einfach auf den Boden geschmissen. Außerdem war ich krank, ich hatte mir eine heftige Grippe eingefangen. Nach zwei Tagen haben sie alle aufgerufen, die woanders hinkamen. Sie haben uns in einen Bus gesteckt und hierher gebracht.«

»Glaubst du, sie schicken uns zurück?«, fragt sie.

»Wohin?«

»Ich meine, ob du glaubst, dass sie uns abschieben?«

»Keine Ahnung.«

Ich erzähle ihr nicht, dass ich in der ersten Nacht geweint habe. Ich habe an meine Großeltern gedacht und wollte nach El Salvador zurück. Wenn sie von mir verlangt hätten, die Abschiebung zu unterschreiben, hätte ich das auf der Stelle getan. Seit ich über den Fluss war, musste ich ständig weinen und war richtig traurig und dachte immer nur: Was mache ich hier eigentlich?

»Als wir den Fluss überquert haben, ist ein Mann ins Wasser gefallen«, sage ich zu dem Mädchen. »Wir waren in einem Boot, sie haben uns zur anderen Seite gebracht und gesagt, wir müssen schnell aussteigen und ans Ufer rennen. Und der Mann schaffte es nicht aus dem Boot, obwohl er gar nicht so alt war, und da haben sie ihn über Bord geworfen. Er war klitschnass, und sie haben ihn einfach liegen lassen. Keiner hat ihm geholfen, weil man nicht lange am Ufer bleiben kann. Wir sind losgerannt, sie haben nicht gesagt wohin, da waren Berge, Bäume, es gab keinen Weg, wir mussten uns irgendwie durchschlagen. Es war stockdunkel, keiner hatte eine Taschenlampe oder sonst was dabei, sie haben gesagt, wir dürfen nichts mitnehmen. Wir waren etwa dreißig, auch Schwangere und kleine Kinder, keiner wusste, ob wir jemals wieder aus den Bergen rauskommen. Ein Junge hat geweint. Wir mussten umkehren und einen anderen Weg suchen. Eine Frau hatte eine Flasche Wasser dabei, und ich habe sie gefragt, ob sie mir was abgibt, aber sie wollte nicht. Sie braucht alles für sich selbst, hat sie gesagt. Das werde ich nie vergessen. Dann haben wir Lichter gesehen und sind darauf zu. Ich hatte keine Ahnung, was wir tun sollten, in welche Richtung wir laufen sollten, nichts. Plötzlich ist der Wagen aufgetaucht. Es war die Polizei.«

»Ich werde ein bisschen schlafen«, sagt das Mädchen und streckt die Beine aus, damit ich aufstehe.

Ich richte mich auf und spüre meine eingeschlafenen Beine, oder besser gesagt, ich spüre sie nicht, es ist, als hätte man sie abgeschnitten.

»Weck mich, wenn sie Sandwichs bringen«, sagt sie.

»He, ich bin dran«, sage ich leise zu dem Mädchen, um sie nicht zu erschrecken, aber sie hört mich nicht.

So vor ungefähr zwei Stunden hat sie sich hingelegt, glaube ich, und wieder habe ich Krämpfe in den Beinen. In dem Moment geht die Zellentür auf und eine Frau mit einem Wagen kommt herein. Die Sandwichs. Die Mädchen stehen langsam auf. Ich beuge mich zu dem Mädchen runter und flüstere ihr ins Ohr:

»Wach auf, es gibt was zu essen.«

Wir nehmen uns ein Sandwich und eine von den kleinen Saftpackungen und setzen uns zum Mittagessen hin. Oder zum Frühstück oder Abendessen. Wer weiß, wie spät es ist. Auf dem Sandwich ist eine Scheibe Schinken. In der Packung ist Orangensaft.

»Wo willst du hin?«, fragt das Mädchen.

»Zu meiner Mama«, antworte ich.

»Und wo wohnt die?«

»In New York.«

»Und wo hast du in El Salvador gelebt?«

»Bei meinen Großeltern, den Eltern meiner Mutter«, sage ich. »In Ahuachapán. Ich habe auch eine Weile bei meinen anderen Großeltern gewohnt, in San Salvador, aber zuletzt in Ahuachapán. Mit meiner großen Schwester und meinem kleinen Bruder.«

»Und dein Vater?«

»Mein Vater hat uns verlassen, als ich klein war, ich hatte lange keinen Kontakt zu ihm. Meine Mutter hat sich kurz vor meiner Geburt von ihm getrennt. Er wohnte in San Salvador, deswegen war ich zwischendurch auch dort. Aber er hat mich nie besucht oder angerufen, um zu fragen, wie es mir geht. Wenn ich ihn nicht angerufen oder besucht hätte, hätten wir gar keinen Kontakt gehabt. Und weil ich von klein auf bei meiner Oma in Ahuachapán gelebt hatte, habe ich mich sehr einsam gefühlt, als ich von ihr weggegangen bin, und deshalb wollte ich zurück zu ihr. Manchmal denke ich, dass ich ganz ohne meine Eltern aufwachsen werde, und das macht mich sehr traurig. Meine Mutter ist in die USA gegangen, als ich vier war. Sie hat mich immer unterstützt, sie hat meinen Großeltern Geld geschickt, damit sie für uns sorgen. Sie war immer für uns da. Aber ich kann mich kaum an sie erinnern, denn als sie in El Salvador war, war ich noch zu klein. Manchmal muss ich deshalb weinen. Warum kann ich nicht bei ihr sein?«

Ich habe mein Sandwich aufgegessen und an meine Großeltern gedacht und an meine Mama. Manchmal versuche ich sie mir vorzustellen, aber ich weiß nicht, wie sie aussieht. Ich glaube, auf der Straße würde ich sie nicht erkennen.

»Das Schlimmste, was ich je erlebt habe, war der Abschied von meinen Großeltern«, sage ich. »Und du?«

»Ich will auch zu meiner Mutter«, sagt sie.

»Und wo ist sie?«

»In Arizona«, antwortet sie und wischt sich die Krümel weg. »Wenn du willst, kannst du ein bisschen schlafen, mir geht’s wieder besser. Bis ich wieder Hunger kriege.«

Ich wache auf, als sie mich an der Schulter schüttelt und sagt, ich soll mich beruhigen und aufhören zu schreien.

»Sch, sch, ganz ruhig.«

»Was ist los?«, frage ich.

»Ich glaube, du hattest einen Alptraum. Du hast plötzlich geschrien. Außerdem bin ich dran, du hast ein bisschen geschlafen, und ich kann nicht mehr.«

Ich setze mich, damit sie sich hinlegen kann. Ich erinnere mich an den Alptraum.

»Was hast du geträumt?«, fragt sie.

»Von einer schlimmen Sache, die mir unterwegs passiert ist«, sage ich. »In Reynosa, an der Grenze. Ich war in einem Haus mit vielen Leuten, die wie ich gewartet haben. Jeden Tag kamen neue, und andere sind gegangen, denn so viele passten gar nicht rein. Alle haben gewartet, um die Grenze zu überqueren, aber zu mir haben sie immer nur morgen, morgen gesagt und mich nicht abgeholt. Wir haben auf Matratzen auf dem Boden geschlafen und nichts als Burritos bekommen, ich habe mir den Magen verdorben und konnte kaum noch was runterkriegen. Ein paar ältere Frauen haben sich um mich gekümmert. Ich sollte mich zwischen sie legen, sie wollten nicht, dass ich woanders schlafe, wegen der vielen Männer. Aber einmal ist eine von ihnen nachts aufgestanden und weggegangen, keine Ahnung wohin, und ein Mann ist gekommen und hat sich neben mich gelegt. Er hat schmutzige Sachen zu mir gesagt und ist immer näher an mich herangerückt. Ich glaube, er wollte mich vergewaltigen. Da habe ich die Frauen geweckt, und sie haben den Mann beschimpft. Er hat sich gewehrt und gemeint, er würde doch gar nichts machen. Aber am nächsten Tag, als ich endlich gehen konnte, hat er mir einen Zettel zugesteckt und gesagt, ich soll ihn aufheben. Er hatte mir seine Telefonnummer aufgeschrieben. Ich habe den Zettel zusammengeknüllt und in den Müll geworfen.«

»Du hast eine Menge Glück gehabt«, sagt sie.

Ich nicke, und wir schweigen. Ich betrachte die Mädchen auf dem Boden, die sich in die Metalldecken gewickelt haben. Es ist kälter geworden, es muss früher Morgen sein.

»Meine Tante hat mir eine Spritze gegeben, bevor ich mich aufgemacht habe«, sagt das Mädchen plötzlich, als hätte sie lange darüber nachgedacht. »Falls mir was zustößt, damit ich nicht schwanger werde.«

Ich warte, ob noch etwas folgt, aber sie sagt nichts weiter. Ich weiß genau, wovon sie redet.

»Ich war auf einer Schule direkt neben einem Gefängnis, wo viele von den Banden saßen«, sage ich. »Immer wenn ich aus der Schule kam, standen sie da rum. Wir sollten schlimme Dinge mit ihnen machen. Wenn die Schule aus war, haben sie schon auf uns gewartet. Ich bin immer mit meinen Freundinnen gegangen. Sie haben gesagt, wir sollen irgendwo mit ihnen hingehen. Sie haben das oft zu mir gesagt, aber ich wollte nicht. Es gibt dort viele einsame Ecken, wo sie ihre Sachen machen. Wir wollten aber nicht mitgehen. Und weil wir nicht mitgehen wollten, haben sie gedroht, dass sie uns etwas antun. Ich hatte Angst und bin nicht mehr zur Schule gegangen.«

»In Mexiko hat uns wieder die Polizei gestoppt«, sage ich zu dem Mädchen.

Es sind zwei oder drei Tage vergangen, und wir haben mehr Platz, weil ein paar von den Mädchen abgeholt wurden. Jetzt können wir uns wenigstens beide hinlegen oder setzen und die Beine ausstrecken oder was auch immer. Vor dem Einschlafen erzählen wir uns manchmal aus unserem Leben. Eigentlich bin nur ich es, die etwas erzählt, denn das Mädchen sagt nicht viel. Aber ich rede gern mit ihr, denn wenn ich schweige, muss ich sofort an meine Großeltern denken. Und an meine Mutter, daran, ob man ihr schon Bescheid gesagt hat, dass ich hier eingesperrt bin.

»Mit dem Bus hat man uns ein paar Mal angehalten. Plötzlich wurde der Bus langsamer und blieb stehen. Wir haben uns aus dem Fenster gelehnt und die Polizei gesehen. Pick-ups und Männer in Uniform. Manchmal haben wir geschlafen, und sie haben uns nicht geweckt. Vielleicht dachten sie, wir wären Mexikaner. Einmal mussten wir aussteigen, und sie wollten unsere Dokumente sehen. Ich habe ihnen meine Geburtsurkunde und meinen Pass aus El Salvador gezeigt. Sie haben uns Fragen gestellt. Was wir hier wollen und mit wem wir unterwegs sind. Dann wollten sie Geld. Ein Polizist hat zu einem anderen gesagt, dass er uns Handschellen anlegt und uns mitnimmt. Sie haben so getan, als wollten sie uns verhaften, um uns einen Schreck einzujagen. Sie haben gesagt, wenn wir ihnen kein Geld geben, bringen sie uns zurück. Dass wir abgeschoben werden. Wir haben ihnen alles gegeben, was wir hatten, dann durften wir weiter.«

Ich höre, wie die Zellentür aufgeschlossen wird, und das Mädchen ist mit einem Satz auf den Beinen.

»Essen«, sagt sie.

Aber es gab erst vor kurzem etwas zu essen, es muss etwas anderes sein. Eine Beamtin kommt herein und sagt, dass ein paar Mädchen in ein Heim in Phoenix verlegt werden. Sie hat eine Liste mit Namen und sagt, dass alle, die nicht auf der Liste sind, dableiben müssen. Sie fängt an, die Namen vorzulesen, und plötzlich sagt sie:

»Kimberly.« Und meinen Nachnamen.

Als sie fertig ist, sagt sie, dass alle auf der Liste sie begleiten sollen. Das Mädchen sagt, dass ihr Name nicht auf der Liste war und dass sie bleiben muss, und da fällt mir auf, dass sie mir nie ihren Namen gesagt hat.

»Du hast mir gar nicht gesagt, wie du heißt.«

»Das ist nicht wichtig«, sagt sie und umarmt mich.

Ich hatte einen Traum

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