Читать книгу Ich hatte einen Traum - Juan Pablo Villalobos - Страница 9

Die andere Seite ist die andere Seite

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Der Fettsack war schweißgebadet und hat so getan, als würde er nichts bemerken, als wüsste er nicht, dass er gerade von drüben gekommen ist, aber natürlich wusste er das, alle wissen das, es gibt keinen in Ilopango, der nicht weiß, wo die Grenze verläuft, und deshalb war ich wachsam und hab mir gedacht: Irgendwas führt er im Schilde, bestimmt ist er ein Posten der Salvatrucha1.

Er hat eine Tüte Chips gegessen, ich hab ihn so auf fünfzehn, sechzehn geschätzt, zumindest hatte er schon genug Haare im Gesicht, um einen auf dicke Hose zu machen. Er hatte einen Rucksack auf und sah ziemlich schick aus, frisch gebügeltes Hemd, neue Jeans, aber am meisten hat mich interessiert, was in seinem Rucksack war, denn das war alles nur Tarnung. Ich hab die Straße überquert, um ihn einzuholen.

»Was geht, Arschloch?«, hab ich zu ihm gesagt.

Er hat sich umgedreht, mich kurz von der Seite angeschaut und ist weitergegangen, als hätte er mich nicht gesehen, etwas langsamer, aber ohne stehen zu bleiben. Am liebsten hätte ich ihm auf der Stelle meine Pistole gezeigt, damit ihm die Faxen vergehen, keiner darf einfach so weitergehen und sich taub stellen, wenn ihn einer von der 182 anspricht, aber dann hätte es wieder geheißen, wer hat dir das erlaubt, für wen hältst du dich, dich über die oben hinwegzusetzen, und dass man erst mal wissen muss, mit wem man es zu tun hat, bevor man die Knarre rausholt.

»He, ich rede mit dir, bleib stehen«, hab ich noch mal gesagt und ihn am Arm gepackt.

Ohne mich anzusehen, blieb er stehen, und ich konnte hören, wie er schwer geatmet hat, er war nervös, er wusste genau, mit wem er es zu tun hat, und seine Beine haben geschlottert.

»Bist du taub oder was?«, hab ich gesagt.

Er hat nicht geantwortet, nur weiter geschnaubt wie ein Pferd. Ich hab ihn an der Schulter geschubst, und er knallte gegen die Wand. Aber er hat sich nicht gewehrt. Der Schweiß ist ihm in Strömen die Stirn runtergelaufen.

»Wo soll’s denn hingehen, als hättest du mit dem ganzen Kram hier nichts zu tun?«, hab ich gesagt.

Er hat ein gefaltetes Taschentuch aus der Hose gezogen, sich den Schweiß abgewischt und sich in alle Richtungen umgeschaut, als würde er jemanden suchen. Zu seinem Pech war die Straße fast leer, und die paar Leute, die da waren, sind schnell weitergegangen, um keinen Ärger zu kriegen. Jeder weiß, mit einem von der 18 legt man sich nicht an, nur um irgendeinem Penner zu helfen.

»Ich kenne Yoni«, hat er gesagt, als er gemerkt hat, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als mit mir zu reden.

»Sag bloß, den kenne ich auch«, hab ich gesagt.

Er hat Anstalten gemacht abzuhauen, aber ich hab ihn am Ärmel gepackt und wieder geschubst.

»Ich glaube, du bist ein Posten der Sackgesichter3«, hab ich gesagt.

Er hat wieder geschwiegen, ohne mich anzusehen, und nur zum Ende der Straße gestarrt, als könnte er dort wen finden, der ihm hilft. Das Einzige, was dieser Fettsack konnte, war, zu schnauben wie ein Pferd.

»Glaubst du, ich hab nicht gesehen, dass du von drüben gekommen bist?«, hab ich zu ihm gesagt. »Die andere Seite ist die der Sackgesichter, tu nicht so, als wüsstest du das nicht. Wo willst du hin?«

Er hat das Taschentuch aus der Hosentasche gezogen und sich wieder die Stirn abgewischt. Kommt davon, wenn man so fett ist, bestimmt hat er deshalb so geschwitzt.

»Was ist los, ist dir heiß?«, hab ich gesagt.

»Yoni ist mein Freund«, hat er wieder angefangen. »Frag ihn.«

»Werd ich machen, aber erst sagst du mir, wo du hinwillst.«

»Nach Hause.«

»Und wo ist das?«

»Gleich um die Ecke, in der Pension.«

»Und warum bist du von der anderen Seite gekommen, hm? Ich glaube, du bist ein Posten der Sackgesichter.«

»Ich habe Hausaufgaben gemacht«, hat er gesagt, »eine Gruppenarbeit, der Klassenkamerad, mit dem ich die Aufgabe machen soll, wohnt da. Wenn du willst, zeige ich sie dir.«

Er hat seinen Rucksack abgenommen, den Reißverschluss geöffnet und mir die Hefte, Bücher und den anderen Schulkram gezeigt. Und noch eine Tüte Chips.

»Dein Kumpel ist nicht von den Sackgesichtern?«, hab ich gefragt.

»Ich war nur wegen der Hausaufgaben da. Wirklich, frag Yoni, er kennt mich gut, er kennt meine Familie.«

»Okay, mach ich.«

Er wollte schon seinen Rucksack zumachen, aber ich hab ihn aufgehalten.

»Gib mir die Chips«, hab ich gesagt.

Ich hab mir die Tüte geschnappt und Yoni auf dem Handy angerufen. Als er ranging, konnte ich den Fernseher im Hintergrund hören, wahrscheinlich hat er gerade einen Film mit seiner Kleinen geschaut.

»Yoni, ich hab hier ein kleines Problem«, hab ich gesagt. »Hörst du mich?«

Yoni muss auf Pause gedrückt haben, denn der Krach von dem Film war plötzlich weg.

»Schnell, was gibt’s?«, hat er gesagt. »Ich bin beschäftigt.«

»Hier ist einer, der von den Sackgesichtern rübergekommen ist und sagt, dass er dich kennt.«

»Wie heißt er?«

Ich hab den Fettsack, der sich wieder den Schweiß von der Stirn und vom Hals wischte, nach seinem Namen gefragt.

»Santiago«, hat er geantwortet, »sag ihm, dass meiner Oma der Laden da drüben in der Pension gehört.«

Ich hab Yoni wiederholt, was er mir gesagt hatte.

»Bring ihn her«, hat Yoni gesagt, dann hat er aufgelegt.

»Yoni will dir guten Tag sagen«, hab ich zu dem Fettsack gesagt.

Dann hab ihn am Arm gepackt und bin losgegangen. Er hat sich gewehrt, und weil er so dick war, war es schwer, ihn zu zwingen.

»Meine Oma wartet auf mich«, hat er gesagt. »Ich muss ihr im Laden helfen.«

»Das kannst du Yoni erzählen«, hab ich gesagt. »Und jetzt beweg deinen fetten Arsch, oder es knallt. Als wüsstest du nicht, wo wir hier sind.«

Ich hab die Pistole gezückt und sie ihm vor die Nase gehalten. Er hat so getan, als würde er sie nicht sehen, ist aber sofort losgegangen. Auf dem Weg zu Yoni hab ich die Chips gefuttert. Ich war halb tot vor Hunger, weil ich die ganze Zeit Wache halten musste, seit zwölf, und jetzt war es schon fast fünf.

Yoni schaute mit seiner Kleinen den Film, den er auf Pause gestellt hatte, und sie haben Pupusas4 gegessen. Ich kannte den Film schon, es ging um einen Jungen, der mit den Toten spricht. Als Yoni uns sah, hat er wieder auf Pause gedrückt, und der Fettsack hat sofort angefangen, mich zu beschuldigen.

»Der will mir Angst machen«, hat er zu Yoni gesagt. »Ich hab nur Hausaufgaben gemacht, was kann ich dafür, wenn die Lehrerin mich mit einem Klassenkameraden zusammensteckt, der drüben bei den Buchstaben5 wohnt.«

»Er hat gesagt, er ist ein Kumpel von dir, Yoni«, hab ich gesagt, »aber er ist direkt von der Seite der Sackgesichter gekommen, ich hab es selbst gesehen.«

»Seinem Opa hat die Pension gehört«, hat Yoni zu seinem Mädchen gesagt, »hier gleich um die Ecke. Einmal hat mein Alter da ein Zimmer gemietet, aber jetzt vermieten sie keine mehr, oder?«, hat er den Fettsack gefragt.

»Nein«, hat der Fettsack gesagt. »Als mein Opa gestorben ist, hat meine Oma beschlossen, dass das Haus nur noch für die Familie da ist.«

»Und wer wohnt sonst noch da?«

»Meine Urgroßmutter, meine Tante, meine Onkel und meine Cousins.«

»Hattest du nicht einen Bruder?«

»Ja.«

»Wie alt ist er? Daniel, oder?«

»Zehn.«

»Und du?«

»Fünfzehn.«

»Ist deine Mama noch in den USA?«, hat Yoni gefragt.

Der Fettsack hat ja gesagt und wieder das Taschentuch aus der Hose gezogen und sich den Schweiß vom Hals, von der Stirn und aus dem Gesicht gewischt. Yoni hat ihn angeschaut, als würde er sich über ihn lustig machen, und die Hand von seiner Kleinen gedrückt, damit sie ihn auch anschaut.

»Die Leute im Viertel mögen deine Oma«, hat er zu ihm gesagt. »Alle haben Respekt vor ihr, aber damit solltest du nicht kommen, wenn du nicht willst, dass die Leute dich für eine Schwuchtel halten.«

Die Kleine hat sich totgelacht. Ich mich auch. Der Fettsack hat sein Taschentuch zusammengeknüllt und in die Hosentasche gesteckt.

»Ich bin krank, Yoni, ich hab was am Herzen, ich war beim Arzt, weil ich immer so erschöpft bin und anfange zu schwitzen.«

»Ernsthaft?«

»Ja, mein Herz ist zu groß, größer als normal.«

»Setz dich, nicht dass du noch umkippst«, hat Yoni zu ihm gesagt und auf einen Stuhl gezeigt.

»Ich hab’s eilig«, hat der Fettsack gesagt, »meine Oma wartet auf mich, ich muss nachmittags im Laden helfen, und ich bin schon spät dran, weil die Hausaufgaben so schwer waren und weil ich jetzt hier bin.«

Yoni ist aus dem Sessel aufgestanden, in dem er gesessen hatte, hat den Teller mit den Pasteten auf den Tisch gestellt, ist zum Fettsack gegangen und hat ihn auf den Stuhl gestoßen.

»Haben dich die Sackgesichter kontrolliert?«, hat er ihn gefragt.

»Die kontrollieren alle«, hat er geantwortet und dabei fast geheult.

»Und was hast du gesagt?«

»Nichts.«

Yoni hat mit der Zunge geschnalzt, man hat gemerkt, dass er genervt war.

»Fängst du jetzt an zu flennen?«

Der Fettsack hat geschnieft, aber so nach innen, als würde er Rotz schlucken.

»Was hast du ihnen gesagt?«, hat Yoni noch mal gefragt.

»Sie wollten wissen, wo ich hinwill, und haben mich zum Haus meines Klassenkameraden begleitet. Als sie gesehen haben, dass ich wirklich Hausaufgaben machen will, sind sie gegangen.«

»Du erzählst mir doch keinen Scheiß, oder?«, hat Yoni gefragt.

»Nein.«

»Erinnerst du dich an Marco?«, hat Yoni zu ihm gesagt. »Wir haben ihn geschnappt, weil er bei den Sackgesichtern rumgehangen hat, und du weißt ja, was mit ihm passiert ist.«

In dem Moment hat Yonis Handy geklingelt, und er ist in ein anderes Zimmer gegangen, damit keiner mithören konnte. Der Fettsack hat die Zeit genutzt, um sich die Stirn mit dem Taschentuch abzuwischen. Er war so fett, dass sein Hintern gar nicht auf den Stuhl passte. Dann ist Yoni zurückgekommen.

»Du musst etwas für mich in der Pension aufbewahren.«

»Das geht nicht«, hat der Fettsack geantwortet.

»In einem der vielen Zimmer wirst du schon eine Ecke finden.«

Der Fettsack hat nichts gesagt, er hat Yoni nicht mal angeschaut, während er mit ihm geredet hat, und die ganze Zeit nur auf den Boden gestarrt, als könnte dort jemand rauskommen, um ihn zu retten.

»Es ist nur für eine Weile«, hat Yoni gesagt. »Oder bis morgen.«

»Ich kann wirklich nicht, Yoni, wenn meine Oma Wind davon bekommt …«

»Das war keine Frage«, hat Yoni ihn unterbrochen. »Ich hab gehört, dass die Bullen in der Gegend rumschnüffeln.«

Er ist kurz irgendwo im Haus verschwunden und mit einer weißen Tüte zurückgekommen. Kaum war er im Zimmer, konnte man riechen, was in der Tüte war.

»Du begleitest ihn«, hat Yoni zu mir gesagt. »Pass auf, dass er es versteckt, nicht dass er es unterwegs wegwirft.«

Er hat den Rucksack vom Fettsack geschnappt, der auf dem Boden lag, und die Bücher und Hefte rausgenommen. Dann hat er die Tüte reingesteckt und den Rucksack wieder zugemacht.

»Was ist das?«, hat der Fettsack gefragt.

»Was glaubst du?«, hat Yoni geantwortet. »Riechst du’s nicht? Du gibst es Mecha, wenn er dich drum bittet, nachher oder morgen.«

»Wem?«

»Ihm!«, hat Yoni gesagt und auf mich gezeigt. »Muss ich ihn dir erst noch vorstellen? Los, haut ab.«

Der Fettsack ist sitzen geblieben und hat Yoni angeschaut.

»Worauf wartest du?«, hat Yoni gesagt.

»Ich brauche meine Schulsachen.«

»Kriegst du von Mecha, wenn du ihm die Tüte zurückgibst.«

Der Fettsack ist aufgestanden und hat sich den Rucksack über die Schulter gehängt. Yoni hat auf Play gedrückt, und man hat jemanden schreien hören. Es war die Mutter des Jungen, der mit den Toten sprach, sie hatte gerade gesehen, wie er mit verdrehten Augen in einer unbekannten Sprache redete.

Wir sind nach draußen gegangen, und es sah aus, als würde gleich eine Menge Regen runterkommen, es roch nach dem Essen, das die Nachbarin kochte, und ich hatte nichts zu Mittag gegessen.

»Wo soll ich die Tüte verstecken?«, hat der Fettsack auf dem Weg zur Pension gefragt.

»Das musst du doch wissen«, hab ich gesagt. »Hat Yoni nicht gesagt, ihr habt genug Zimmer?«

»Aber die sind alle voll.«

»Dann eben in deinem.«

»Da schläft auch mein Bruder und mein Onkel. Mein Onkel wird was merken.«

»Nicht mein Problem.«

Wir sind um die Ecke gebogen und bis zur Mitte der Straße gelaufen. Der Laden war auf der anderen Seite. Es war einer von diesen Läden, die alles haben, Lebensmittel, Getränke, Haushaltswaren.

»Es ist besser, wenn meine Oma dich nicht sieht«, hat der Fettsack gesagt.

Ich hab die Straße überquert und bin in den Laden gegangen. Hinter dem Tresen saß eine alte Frau und hat ferngesehen. Sie hat mich angestarrt, als wäre der Teufel persönlich in ihrem Laden aufgetaucht. Ich hab mir ein paar Chipstüten und Limos geschnappt, während der Fettsack seine Oma gegrüßt und sich entschuldigt hat, weil er sich verspätet hatte. Der Fettsack war echt eine Schwuchtel. Ich bin ohne zu bezahlen rausgegangen und habe noch gehört, wie die Alte mir irgendwas hinterhergeschrien hat, aber ich bin einfach weitergegangen.

Am nächsten Tag hab ich die Tüte nicht geholt, weil die Bullen weiter Ärger gemacht haben. Yoni hat gemeint, dass ihn irgendwer verpfiffen hat. Wir haben uns ein paar Tage verkrochen, und dann hat Yoni mich losgeschickt, um die Tüte zu holen. Ich musste eine Weile warten, weil die Oma im Laden war und der Fettsack sich nirgendwo blicken ließ. Es wurde Abend, aber der Fettsack ist nicht aufgetaucht, also musste ich in den Laden und die Alte fragen.

»Ist Santiago nicht da?«

Die Alte hat so getan, als wäre ich Luft. Sie hat mich nicht mal angeschaut und weiter auf den Bildschirm gestarrt. Ich hab meine Knarre auf den Tresen gelegt und mich vor die Glotze gelehnt, damit sie mich beachtet. Die Oma hat sich umgedreht und ist zu einem Kühlschrank gegangen. Sie hat die Tüte rausgenommen und auf den Tresen geknallt, und ich hab sie geschnappt und bin schnell damit zu Yoni gegangen.

»Der Fettsack war nicht da«, hab ich gesagt, als ich ihm die Tüte gereicht habe, »aber die Oma hat es mir gegeben.«

Yoni hat die Tüte geöffnet und die Tütchen darin gezählt.

»Soll ich ihn suchen gehen, Yoni?«

»Der ist längst auf der anderen Seite.«

»Bei den Sackgesichtern?«

»Die andere Seite ist die andere Seite«, hat er gesagt, »den haben sie längst in die USA geschickt.«

Ich hatte einen Traum

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