Читать книгу Wenn Schattenmächte weichen - Judith Berger - Страница 11
ОглавлениеSie würde nicht mehr weit gehen müssen bis zu den großen Buchen. Sie befanden sich am Eingang des Dorfes. Nur noch die Straße entlang, über die kleine Brücke und dann zur Tränke. Dort standen die Buchen und in einer Wurzel der mittleren Buche musste eine Kerbe eingeschnitzt sein. Unter der Kerbe befindet sich ein Schatz, hatte Oma geschrieben. Nimm ihn an dich, bevor du 16 Jahre bist, dann wird dir nichts geschehen. Mila blickte zum Himmel. Die Sonne näherte sich dem Horizont. Morgen war ihr 16. Geburtstag. Sie musste den Schatz finden. Heute. Jetzt. Der Schatz war ein Schutz, hatte Oma geschrieben. Oh, sie brauchte den Schutz. Heute schon, um in den Dorfladen zu Ignaz zu gehen. Ein Schauder lief über ihren Rücken, als sie an den Zwerg dachte. Schnell verscheuchte Mila die Gedanken. Der Schatz war nun wichtiger. Das Vermächtnis ihrer Mutter.
Milas Herz schlug schnell. Sie wusste nicht viel über ihre Eltern, die beide früh gestorben waren. Nur, was Oma ihr erzählt hatte. Dass ihre Mutter wunderschön gewesen war. Mit langen, dunklen Haaren und grünen Augen. Dieselben Augen wie Mila, hatte Oma gesagt, und dasselbe zierliche Gesicht.
Was war es wohl, dass ihre Mutter versteckt hatte? Was verbarg sich unter der Kerbe? Ihr Herz klopfte und ihre Schritte wurden schneller.
Das Dorf sah beinahe aus wie vor drei Jahren. Hier war die Mauer auf der sie früher balanciert war, fast ohne Hilfe. Und dort waren die Häuserreihen, in denen die Frauen von Fenster zu Fenster gequatscht hatten. Wenn sie vorbeigegangen waren, hatten sie ihnen fröhlich zugewinkt. Heute war es anders. Heute waren da keine Frauen. Alle Fenster waren zu. Und doch, so schien es Mila, waren sie da, die Menschen. Hie und da erhaschte sie einen Kopf hinter dem Fenster. Wurde sie beobachtet?
Zack! Ein Knall hinter ihr ließ Mila herumfahren. In dem grauen Haus hatte jemand die Fensterläden zugeschlagen. Schnell ging Mila weiter. Zur Brücke. Doch wo einst ein fröhlicher Bach geplätschert hatte, flüchtete sich nun ein dünnes Rinnsal darunter durch.
Sie hob den Blick zur Tränke. Der Henkel der Pumpe war abgebrochen. Eine magere Katze strich darum herum. Sie erblickte Mila, sträubte die Haare und rannte davon. Das Dorf war nicht mehr dasselbe.
Schnell sah Mila zu den drei Buchen hinüber. Sie standen da, groß und stark, wie immer. Die Äste kahl in den Himmel gereckt, wie es üblich war um die Wintersonnenwende. Hie und da hielt sich ein einzelnes, braunes Blatt wacker am Holz fest.
Mila eilte auf die mittlere Buche zu. Nichts hielt sie mehr. Weder schlagende Fensterläden noch fliehende Katzen. Nun zählte nur der Schatz ihrer Mutter. Milas Augen tasteten am glatten Stamm hinab, dorthin, wo die Wurzeln begannen. Ihr Herz hämmerte eifrig. Wo war die Kerbe? Würde man sie nach all den Jahren sehen können? Hatte ihre Mutter sie fest genug eingeschnitzt? Langsam ging Mila um den Stamm herum.
Da! Auf einer krummen Wurzel spielten vereinzelte Sonnenstrahlen. Und mittendrin lachte ihr eine Kerbe in Form eines Dreiecks entgegen, das auf seiner Spitze stand. Es sah beinahe aus wie ein fröhlicher Mund. Da prangte die Kerbe, ganz offensichtlich.
Eine heiße Welle der Erwartung durchspülte sie. Genau hier hatte ihre Mutter gestanden, den Schatz für sie versteckt und eine Kerbe gemacht. Groß und deutlich.
Schnell blickte Mila sich um. Niemand war zu sehen. Sie kniete sich nieder und kratzte mit bloßen Händen die Erde auf. Ihr Kräutermesser. Schnell holte sie es aus der Gürteltasche. Stach es in die Erde, kratzte im Boden, doch es ging zu langsam. Viel zu langsam. Das kleine Messer bog sich und würde obendrein stumpf werden. Nein, mit den Händen war sie schneller. Es gab kein Halten mehr. Mila bohrte mit ihren Fingern an der Wurzel entlang in den Boden. Sie grub, kratzte und buddelte immer weiter. Etwas Festes stieß auf ihre Finger. Eine neue Welle durchspülte sie. Ihr Herz galoppierte, während sie an dem Gegenstand riss und zog. Endlich brach es hervor: ein Stein. Nicht mehr als ein Stein.
Mit einem Seufzen warf Mila ihn zur Seite. Natürlich. Der Schatz war tief vergraben. Ihre Mutter war bestimmt ein sorgsamer Mensch gewesen und hätte nie etwas Wertvolles direkt unter der Erdoberfläche verborgen. Tief unten musste es liegen. Mila grub weiter. Längst spürte sie den Schmerz nicht mehr. Ihre Finger waren taub. Immer wieder zog sie einen Stein oder ein Stück Wurzel heraus. Von einem Schatz war jedoch keine Spur.
Vielleicht hatte Mutter den Schatz doch nicht tief genug vergraben. Vielleicht hatte längst jemand gefunden, wonach sie suchte. War Mila zu spät gekommen?
Sie blickte auf. Die Sonne war wacker gewandert. Sie lag bereits auf dem Horizont.
Nein. Wenn es einen Schatz gab, dann musste er tief vergraben worden sein, dessen war sich Mila sicher. Verzweifelt arbeiteten ihre Hände weiter. Weshalb hatte ihre Mutter den Schatz überhaupt vergraben? Sie hätte ihn doch Oma geben können. Vielleicht hatte sie ihn nicht für ihre Tochter vergraben, sondern Jahre zuvor, um ihn in Sicherheit zu bringen. Oder war alles nur ein dummes Spiel gewesen das ihre Mutter gemacht hatte? Ein Jungenstreich? Nein, so war ihre Mutter nicht. Oder doch? Woher sollte Mila wissen, wie sie gewesen war? Sie kannte sie ja nicht. Vielleicht war es tatsächlich ein Jungenstreich und Oma war darauf hereingefallen. Genauso wie Mila jetzt.
Sie grub hinab, wühlte die Erde auf und ihr Herz war noch viel aufgewühlter. Es bäumte sich auf, voller Zweifel. Irgendwo musste der Schatz sein! Doch ihre Hände fanden nichts und in ihrem Herzen lag, wie ein eisiger Stein, die Frage: Was, wenn es keinen Schatz gab?
Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, sah Mila auf das Durcheinander vor sich. Sie hatte tiefer gegraben und breiter gebuddelt als je jemand zuvor. Da war kein Schatz.
Erschöpft ließ sie sich gegen den Stamm fallen. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen und mit dem Schluchzen drang die bittere Wahrheit aus ihrer Kehle: Es gab kein Vermächtnis und keinen Schatz mehr. Vielleicht hatte es all das niemals gegeben.
Die heiße Wange gegen die glatte, kühle Rinde gepresst, weinte Mila ihr ganzes Leben heraus. Eine Mutter, die früh gestorben war und ihr nichts als einen Streich hinterlassen hatte. Eine Oma, die viel zu früh gegangen war. Mila konnte sie nichts mehr fragen. Konnte sie nicht um Hilfe bitten. Sie war ganz allein.
Als das Schluchzen abebbte, kam die Müdigkeit. Mila war es egal, dass sie fror. Es war ihr gleichgültig, dass eine spitze Wurzel in ihr Kreuz drückte. Und erst recht war es ihr gleichgültig, dass die Sonne gegangen war und nichts weiter als einen glühenden Streifen am Horizont hinterlassen hatte. Sollte der Zwerg doch auf seine Tinktur warten, bis er ein Zittergreis war. Sollte ihr 16. Geburtstag doch kommen ohne einen Schutz, es war egal.
Sie blickte auf die krumme Wurzel. Es wäre so schön gewesen, hätte ihre Mutter diese Kerbe geschnitzt. Eigens für sie. Langsam fuhr Mila mit dem blutigen Zeigefinger über die Kerbe. Sie fühlte sich locker an. Beinahe so, als bewegte sie sich jedes Mal, wenn sie darüberstrich. Mila hob den Kopf. Es schien nicht nur so, sie bewegte sich tatsächlich. Die Kerbe, dieses Dreieck, bewegte sich! Sanft drückte und zog Mila daran, immer wieder, bis das Holz sich herauslöste. Zurück blieb ein dreieckiges Loch. Unter der Kerbe, hatte Oma geschrieben und sie hatte damit nicht die Erde gemeint, sondern das Holz. Mila lachte auf. Und ihre Mutter hatte diese Kerbe tatsächlich für sie gemacht, in aller Sorgfalt für sie, Mila, ihre Tochter.
Milas klamme Finger tasteten sich zitternd in die kleine Öffnung. Da war ein rotes Tuch. Vorsichtig zog sie es heraus. Ein Bündel lag in ihrer Hand, so groß wie ihr kleiner Finger. Ein Bündel, das ihre Mutter gemacht hatte.
Mit dem letzten Schein des Tages enthüllte Mila ihren Schatz.
Als ihre Finger zitternd das letzte Stück Tuch hoben, lag eine Feder in ihrer Hand. Sie war in feinster Arbeit aus Metall gefertigt. So zart, als könne sie davonfliegen. Die Härchen so fein, dass sie wohlige Wärme ausstrahlten. Und dort, wo der Kiel kräftiger und die Härchen am weichsten waren, blitzte ein grüner Smaragd auf. Wohl und sicher eingebettet. Gut gehütet von der Feder.
Mila wagte kaum zu atmen. Immer wieder glitt ihr Blick im Dämmerlicht über das feine Metall. Über das sanfte Grün, über das dünne Lederband, an dem das Amulett befestigt war. Das Amulett, das ihre Mutter für sie versteckt hatte. Ihre Mutter. Vor sich sah Mila eine wunderschöne Frau mit schwarzem, langem Haar. Sie löste das Lederband von ihrem Hals und legte das Amulett vorsichtig in ein rotes Tuch. Liebevoll schlug sie es ein und verbarg es in einem Versteck, damit Mila es eines Tages finden würde. Als liebevoller Gruß ihrer Mutter. Als Vermächtnis und als Schutz.
Nun lag die Feder in ihrer Hand. Mila drückte sie sanft gegen ihr Herz. „Danke“, flüsterte sie unter Schluchzen hervor. „Danke für dein Geschenk.“
Ein Geräusch ließ Mila aufhorchen. Schritte näherten sich. Schnell legte sie das Amulett in ihre Gürteltasche und stand auf. Ein Schatten marschierte über die Brücke. Mila wusste sofort, wer ins Dorf hinein stapfte. Zielstrebig auf seinen Laden zu. Es war Ignaz, der Zwerg.
Nun hatte sie keine Angst mehr. Nun hatte sie ihren Schutz gefunden. Mila griff nach ihrem Korb und richtete sich auf. Sie hatte noch etwas zu besprechen mit dem Zwerg und das würde sie jetzt auch tun. Er konnte ihr gar nichts. Sie drückte den Rücken durch, atmete tief ein und trat auf die Straße.