Читать книгу Wenn Schattenmächte weichen - Judith Berger - Страница 6

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Zarte Hände, hell wie Porzellan, legten behutsam einen frisch gepflückten Blumenstrauß auf die dunkle Erde direkt unter das Holzkreuz. Die Sonne beschien die Farbenpracht und brachte sie zum Leuchten. Mila ließ die Strahlen auf ihrer Haut tanzen. Schaute dem Spiel aus Licht und Schatten zu. Die Natur war durcheinander. Blumen um die Wintersonnenwende. Doch es war schön. Genau so schön, wie die Sonnenstrahlen im Wald. Mila sog den Duft von feuchtem Moos und würzigen Tannen tief ein. Und noch viel schöner war diese Lichtung. Hier stand die Zeit still. Hier wohnte Ruhe, die Kraft der Bäume und das Zwitschern der Vögel. Hier war der Ort des Seins. Vielleicht zog es Mila deshalb täglich hierher.

Ein Windhauch strich ihr durchs Haar.

„Hell wie das Mondlicht“, hatte Oma immer gesagt, wenn sie sie gebürstet hatte, „und schimmernd wie flüssiges Silber.“ Stundenlang hätte die alte Frau ihre Haare bürsten kann. Viel länger, als ein kleines Mädchen stillsitzen kann. Doch wann immer Mila angefangen hatte mit den Beinen zu zappeln, hatte Oma gelacht und gesagt: „Ab mit dir. Spring mit dem Wind, hüpfe im Regen und tanze im Licht.“

Inzwischen war sie kein Kind mehr. Morgen würde sie 16 Jahre alt werden und damit erwachsen. Ihre Haare hatte sie auf Schulterlänge gestutzt und Oma war seit über zwei Jahren tot. Heimlich hatte Mila ihr Grab ausgehoben, damit niemand erfuhr, dass sie tot war. Heimlich hatte sie Tränen vergossen, bis keine mehr gekommen waren und heimlich zog es sie immer wieder an diesen Ort, wenn die Einsamkeit sich mit kaltem Griff um sie legte. Niemand durfte wissen, dass Milas letzte Verwandte gestorben war. Keiner durfte ahnen, dass sie allein in der Waldhütte lebte, denn sonst würde sie als Mündel des Roten Egon enden. Dem Mann ihrer verstorbenen Tante.

Mila versuchte den bitteren Geschmack in ihrem Mund herunter zu schlucken. Bei Egon wäre sie gebunden, für immer. Er würde sie nicht gehen lassen selbst wenn sie 16 war. Sie wäre gefangen in den Ketten der Sklaverei.

Schnell schüttelte sie den Kopf, um den Gedanken wegzuscheuchen.

„Ich habe dir noch etwas mitgebracht, Oma.“ Eifrig holte Mila eine Pflanze aus ihrer Gürteltasche, der Gürteltasche, die sie immer bei sich trug. Wie eine echte Heilerin. Wie Oma.

„Ich war gestern bei der Hauernquelle. Sie führt fast kein Wasser. Alles ist trocken. Dafür habe ich etwas gefunden, das ich niemals erwartet hätte. Speick. Weißt du noch, wie wir tagelang unterwegs waren, um zu der Stelle zu gelangen wo der Speick wächst? Und jetzt gibt es ihn keinen halben Tagesmarsch entfernt auf der Höhe der Hauernquelle. Weil es so trocken geworden ist. Jetzt gibt es ihn im Ostwald.“

Natürlich, sonst hätte ihn Mila nicht pflücken können. Sie bewegte sich nur im Ostwald. Er war groß und weit. Man konnte tagelang umherstreifen und Kräuter sammeln. Doch niemals würde sie dieses Gebiet verlassen. Niemals würde sie von ihrer Hütte aus den überwucherten Pfad Richtung Südwesten gehen. Den Pfad ins Dorf, nach Rielau. Zu den Menschen. Niemals zu den Menschen. Zu groß war die Angst, dass sie sich verraten könnte und jemand herausfände, dass sie alleine lebte. Nein, sie blieb hier, in der Ruhe. Liebevoll legte sie den Speick neben den Blumenstrauß. Oma hatte dieses Kraut geliebt. Nicht nur wegen seiner Heilkraft auf den Körper. Auch wegen der inneren Ruhe, die er dem Herzen schenkte.

Ein Knacken ließ Mila auffahren. Sie blickte zum Wald. Geräusche drangen an ihr Ohr. Fremd und ungewohnt. Etwas, das nicht hierhergehörte. Etwas, das nicht sein durfte. Menschen aus dem Dorf? Hier, mitten im Wald? Mila schauderte.

Kreischend stob ein Vogelschwarm in den Himmel. Mila blickte mit zitterndem Herzen in die Richtung, in der sie sein mussten. Die Menschen. Sie war sich ganz sicher, so bewegte sich kein Tier fort. So stampften nur Menschen, die den Herzschlag des Waldes nicht kannten. Und sie kamen näher.

Sie durften sie nicht sehen. Und das Grab auch nicht. Wenn sie das Grab von Oma sahen, war ihr Geheimnis aufgedeckt!

Mila griff nach Tannenzweigen, Ästen und Gehölz, die in der Nähe lagen. Wild schichtete sie alles über das Holzkreuz. Mehr und immer mehr, bis es nicht mehr zu sehen war.

Zwischen den Tannen blitzte Gelb und Grün auf. Zeternde Stimmen drangen an ihr Ohr. Jeden Moment würden die Menschen auf die Lichtung brechen. Milas Herz raste. Gehetzt warf sie einige Blicke um sich. Wo sollte sie sich verstecken?

Ein Haselstrauch am Rand der Lichtung. Grüne Zweige, zum Schutz gehoben. Mila hetzte hin, duckte sich und schlüpfte atemlos ins Grün. Ihre Brust hob und senkte sich. Sie drückte sich eng gegen die harten Zweige.

Schon brachen sie heraus. Eine kleine, stämmige Frau mit wippenden Locken. Eine Zwergin. „… ich weiß ganz genau, dass ich sie gesehen habe, wenn ich es dir doch sage!“

Mila kannte sie von früher. Sie war die Krämerin des Dorfladens.

„Ich habe hier etwas Rotes und etwas Helles durch die Tannen hindurch gesehen. Sie muss hier sein!“

Mila zog Omas rotes Schultertuch enger und starrte verzweifelt auf ihr hellblaues Kleid.

„Kriemhild, bist du denn wahnsinnig? So weit rennt niemand in den Wald und eine verblödete Ziege ist nicht rot!“

Ein Zwerg wankte auf die Lichtung. Mila wusste es sofort: Das war Ignaz, Kriemhilds Mann. Der graue, lange Bart und die stechenden Augen. Sie hatten etwas Linkisches. Wie oft hatte sich Mila hinter dem Rock ihrer Oma versteckt, wenn er im Krämerladen stand statt seiner Frau. Oma hatte einmal im Monat Dinge des Alltags gegen Kräutertinkturen eingetauscht. Schlussendlich war Mila schon von Anfang an durch den Laden nach oben in die Dachstube zur alten Hedwig gerannt, egal ob der Zwerg da gewesen war oder nicht.

„Nichts, zum Henker nochmal“, donnerte Ignaz. „Überhaupt nichts. Such die doofe Ziege allein, mir reicht’s.“

„Aber …“

„Nein! Ich will …“ Er stockte und starrte auf den Haufen Zweige in der Mitte der Lichtung.

„Ignaz, ich finde …“

„Schschscht!“ Es klang scharf. Ignaz hob die Hand, um seine Frau zum Schweigen zu bringen.

Mila hielt die Luft an. Der Zwerg starrte noch immer auf die Stelle, wo Omas Grab versteckt war. Er machte drei Schritte darauf zu.

Nein! Ein Sturm tobte in Milas Kopf. Er durfte das Grab nicht entdecken.

Die Hand des Zwerges glitt nach vorne zu einem großen Ast.

„Nein!“ Mila sprang aus ihrem Versteck, mitten auf die Lichtung.

Die Hand sank zurück. Zwei Augenpaare sahen sie verdutzt an.

„Ich …“ Milas Ohren wurden rot und unter ihren Füßen brannte es, als ob sie in einem Ameisenhaufen stände.

Die Augenpaare wanderten an ihrer Gestalt von oben nach unten und wieder hinauf.

„Wer bist du?“, fragte Kriemhild aus walnussgroßen Augen.

„Mila.“ Schon war es draußen. Herausgerutscht. Sie hätte ihren Namen niemals sagen sollen. Hätte ihn verborgen halten müssen.

Zu spät.

Ignaz kniff die Augen zusammen. „Mila …? Du bist doch das Mädchen von der alten Heilerin.“

„Was, die?“ Kriemhild schlug die Hände an ihre runden Backen. „Die kleine Enkelin von der alten Trude? Dich hätte ich gar nicht mehr erkannt, ohne Zöpfe und, meine Güte, bist du groß geworden. Beinahe schon eine junge Frau!“

„Kriemhild“, knurrte Ignaz.

„Das ist aber eine Überraschung, dich zu sehen. Du warst ja eine Ewigkeit nicht mehr im Dorf. Die Salben und Tränklein fehlen uns. Sag, wie geht es deiner Großmutter? Es heißt, sie sei sehr krank.“

„Kriemhild!“

„Kind, es wäre so schön, wenn du uns im Laden besuchen würdest.“ Sie watschelte auf Mila zu. Ignaz griff sie am Oberarm und riss sie zurück.

„Frau, schweig endlich!“

Erschrocken blickte Kriemhild ihren Mann an.

Der taxierte Mila mit stechendem Blick. Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Unter ihren Füßen begannen die Ameisen wieder zu kribbeln.

„Du bist also die Kleine der Heilerin.“

Mila biss sich auf die Lippen.

„Und was hast du hier zu suchen?“ Er trat einen Schritt nach vorne. „Ich meine, hier, in dieser verlassenen Wildnis.“ Seine Hand machte eine ausholende Bewegung.

Mila sah unverwandt in die bohrenden Augen. Die Ameisen schienen ihre Beine hinauf zu krabbeln.

Er blickte zu dem versteckten Grab. „Du hast einen Holzhaufen gemacht. Wofür?“ Es blitzte in seinen Augen. Die Ameisen waren in Milas Bauch angekommen. Ignaz spürte ihre Angst das sah Mila genau. Der Zwerg schnüffelte dieser Angst nach, wie ein Wolf einem verletzten Reh.

Seine Hand hob sich zu einem der Äste auf dem Haufen, während er sie unverwandt anstarrte. Die Ameisen erreichten Milas Brust. Sie schnappte nach Luft.

Kriemhild patschte ihrem Mann auf die Hand. „Na, zum Feuer machen natürlich, Dummerchen. Schau sie nur mal an. Das zerrissene Kleid, der rote Umhang ist auch nur ein Fetzen und dieses selbst zusammengeflickte Schuhwerk hat nicht mal den Namen verdient.“

Kriemhild trat auf Mila zu und fasste ihre Hand. „Kind, du musst unbedingt in unseren Laden kommen. Bring Salben mit und vor allem das Lebenselixier. Hast du noch davon? Ein Fläschchen und du darfst dir alles aussuchen was dein Herz begehrt.“

Mila schluckte. Ignaz sah sie noch immer bohrend an. Er stieß ein drohendes Knurren aus. „Und ich frage, was sie in diesem Wald tut.“

„Natürlich sucht sie Kräuter“, sprudelte Kriemhild, „wie es sich für eine kleine Heilerin gehört. Und sie wird uns davon in den Laden bringen, richtig Kindchen?“

Mila sah von den braunen Kugelaugen zu den hämischen Schlitzen und wieder zurück. Ignaz machte einen weiteren Schritt auf sie zu. „Wird sie das?“

Die Ameisen verbrannten ihr beinahe die Kehle. Die Angst hatte sich wie eine bleierne Decke auf sie gelegt. Der Zwerg, der ihr nur bis zur Schulter ging, war zum Riesen geworden und die Angst wuchs unaufhaltsam weiter. So unaufhaltsam, wie Ignaz sich ihr näherte, dem waidwunden Reh.

Er würde sie packen, ins Dorf schleppen und Egon ausliefern. Er witterte was los war.

Um Mila herum war es still. Selbst Kriemhild schien für einen Moment die Luft anzuhalten. Mila sah nur die grauen Augen ihres Jägers. Noch ein Schritt, dann würde er sie erhaschen. Milas Angst explodierte. Sie war größer als die Angst vor dem Dorf, tiefer als die Gefahr des Roten Egon. Da war nur ihr Jäger und sie.

„Wird sie zu uns in den Laden kommen?“

Auge in Auge. Milas Kopf wog zentnerschwer. Langsam nickte sie.

„Haha“, Kriemhild lachte auf, „siehst du, ich sag es doch. Sie wird kommen und uns Ware liefern. In unseren Laden.“ Kriemhild nahm Mila am Arm und drehte sie mit sich um. „Komm Kind, du kannst gleich mitgehen. Ich zeige dir den Weg. Du bist ja ganz kalt.“

„Und wie soll sie ihre Waren holen?“

„Stimmt“, Kriemhild stieß ein meckerndes Lachen aus, „aber natürlich. Das habe ich ganz vergessen. Du musst zuerst nach Hause, um die Salben zu holen.“

„Und du musst eine Ziege suchen, Frau“, bellte Ignaz.

Kriemhild zog eine Schnute. „Aber Schatzelchen, das ist doch jetzt nicht so wichtig.“

„Natürlich ist es wichtig. Du suchst diese blöde Ziege und zwar auf den Feldern, nicht im Wald.“

„Wir suchen gemeinsam.“

„Nein, ich habe keine Zeit. Ich gehe weiter.“

„Du musst schon los? Ich dachte das Treffen beginnt erst in der Na...“

Ignaz trat ihr mit voller Wucht auf den Fuß.

„Au!“, schrie sie auf. „Das hat weh getan!“

„Wirst du wohl den Mund halten, Weib?“

„Aber …“

„Schweig!“

Kriemhild klappte ihren Mund zu.

Ignaz wandte sich schwungvoll Mila zu. „Und du, Mädchen, bringst uns noch vor Sonnenuntergang von deinen Kräutern, verstanden?“

Mila nickte.

Er trat an sie heran, hob den Kopf und flüsterte zu ihr hinauf: „Wir haben ein Häuschen im Wald gesehen. Ich weiß, dass du dort wohnst. Also spute dich, sonst hole ich dich eigenhändig mitsamt deinen Kräutern ins Dorf.“

Ihr wurde kalt.

Der Zwerg drehte sich um und marschierte von der Lichtung. In die entgegengesetzte Richtung aus der er und seine Frau gekommen war.

Mila stand neben Kriemhild und sah zu, wie Ignaz zwischen den Bäumen verschwand. Ihr Blick glitt über die Lichtung, das grüne Gras, den Haufen unter dem Omas Grab lag. Heimlich und versteckt. Nichts war mehr wie vorher. Die Ruhe und der Frieden waren von der Lichtung verschwunden.

„Ich muss gehen“, stieß Mila aus. Sie wandte sich um und rannte in den Wald hinein. Ihr Kopf war heiß. Tränen wollten herausbrechen. Als sie den ersten Schluchzer hinunterschluckte, flötete Kriemhild von weitem: „Bis heute Abend. Und vergiss das Lebenselixier nicht.“

Wenn Schattenmächte weichen

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