Читать книгу Wenn Schattenmächte weichen - Judith Berger - Страница 12

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Guten Abend, Ignaz“, grüßte Mila munter in die Dämmerung. Mit der linken Hand wischte sie sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre kurzen Zöpfe waren längst aufgegangen. Die rechte Hand lag an der Gürteltasche, in der das Amulett ruhte.

Der Zwerg stockte, blickte sich kurz um und richtete seine Aufmerksamkeit ganz auf sie. Erstaunen lag in seinem Gesicht. „Das Mädchen aus dem Wald. Was tust du hier?“ Er wirkte verwirrt. Ganz verändert. Nicht der Zwerg, dem sie im Wald begegnet war. Wo vorher Bedrohung gewesen war, schwappte ihr jetzt Unsicherheit entgegen.

Mila hielt den Korb in die Höhe. „Ich bin auf dem Weg in deinen Laden, um Waren zu tauschen.“

„Ja. Natürlich.“ Er kniff die Augen zusammen. „Die Sonne ist weg. Du solltest vor Sonnenuntergang hier sein?“

Mit dem Böser-Zwerg-Spiel konnte er sie nicht schrecken. „Du warst nicht da und ich hatte Wichtiges zu tun. Jetzt bin ich hier.“

„Mädchen, wir haben gesagt vor Sonnenuntergang und meine Frau war die ganze Zeit über im Laden. Du bist zu spät.“

„Möchtest du nun Tinkturen und Salben tauschen oder nicht?“

„Ja“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „aber nach Sonnenuntergang ist meine Ware teurer – nur, dass du’s weißt.“

Mila seufzte und folgte ihm.

Sie freute sich nicht auf den Laden, selbst wenn ihr die rosa getünchten Wände des Hauses immer gefallen hatten. Doch sie freute sich auf die Kammer unterm Dach. Dort, wo Hedwig wohnte. Die Freundin ihrer Oma. Bei jedem Gang ins Dorf waren Oma und sie nach oben gestiegen und hatten Hedwig besucht. Hedwig. Ihr Lächeln hatte in jeder der unzähligen Falten geruht. Sie hatte Mila die schönsten Zöpfe geflochten, ihr heimlich Zuckernüsse zugesteckt und ihr immer und immer wieder das Lied der kleinen Lerche vorgesungen das Mila so geliebt hatte. Sie hörte ihre Stimme noch heute. „… Drum sei getrost mein Lerchenkind, so sicher wie der Frühlingswind, kehrst du wieder zurück.“

„Lebt die alte Hedwig noch?“, fragte sie vorsichtig.

Ignaz antwortete nicht. Machte keinen Mucks. Sie wusste nicht einmal, ob der Zwerg sie gehört hatte.

„Hedwig, die bei euch unterm Dach wohnt.“

Stapf – stapf, machten seine Schritte und sein Bart schwang dazu hin und her.

Ein kleiner Schatten stieb vor ihnen davon und verschwand in eine Mauerspalte. War das eine Ratte gewesen? Sie war das einzige Lebewesen, das sich auf die Straße traute – außer ihnen.

Sie bogen in eine enge Gasse ab. Auch hier waren alle Fensterläden dicht geschlossen.

„Wovor haben die Leute Angst?“, fragte Mila. Ihre Stimme wurde von den Häuserwänden zurückgeworfen. „Weshalb sind die Straßen leer? Warum sitzt das Dorf hinter verschlossenen Läden?“

Ignaz blieb stehen. Starrte sie an.

„Wovor haben sie Angst, Ignaz?“

„Ha.“ Sein Lachen klang wie ein Kanonenschuss. „Ha, ha. Du weißt es nicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Das kann nur einem Weibsbild passieren. Einem furchtbar dummen.“

In Mila brodelte es. So als ob viele Pferde mit den Hufen scharrten. Böse funkelte sie den Zwerg an.

Der schien es nicht zu bemerken. Er rieb sich eifrig die Hände. „Wieviel ist dir meine Antwort wert?“

„Gar nichts“, stieß Mila hervor. Sollte ihr der Zwerg mit seinen Beleidigungen doch vom Leibe bleiben. „Überhaupt gar nichts!“

Stapfend setzte sie sich in Bewegung. Schnell. Absichtlich. Doch der Zwerg konnte marschieren. Seine Beine bewegten sich schnell wie ein Wasserrad. Und genauso unermüdlich. Stapf, stapf, stapf, stapf. Er musste nicht einmal schwer atmen. Marschierte einfach eifrig neben ihr her, als wäre nichts gewesen.

Unruhig schnaubten die Pferde in ihr. Mila ballte die Hände zu Fäusten und presste die Lippen zusammen. Kein Wort würde sie mehr sagen.

Vor ihnen tauchte der Laden auf. Natürlich hatte er geschlossen, doch so einen Anblick hätte Mila nicht erwartet. Sie stoppte. Das Haus sah regelrecht zugenagelt aus. Wo früher rot gestreifte Gardinen die Fenster geziert hatten, waren nun dicke Bretter. Statt ausgestellter Waren auf der Straße, sah sie eine stinkende Pfütze. Und statt einer herzlich offenstehenden Tür, hing da ein Schild mit einem Pfeil, man solle zum Seiteneingang gehen. Alles war zu. Mit Angst dichtgemacht. Der Laden, die Straße, das ganze Dorf. Die Angst lag in jedem Winkel, schaute aus jeder Mauerspalte und hockte in jeder Ecke. Sie beherrschte das Dorf mit kaltem Atem.

„Komm mit.“ Der Zwerg marschierte um die Ecke, in die Seitengasse. Mila folgte ihm.

Ein Bündel lag am Boden. Mila stockte. Es sah beinahe aus wie ein Mensch, der am Boden saß. Sie blinzelte. Es war ein Mensch, zusammengekauert am kalten Straßenrand.

„Wer ist das?“, stieß Mila aus und machte einen Schritt auf die Gestalt zu. Es musste eine Frau sein. Ihr Kopf war gesenkt. Bedeckt von einem dicken Tuch.

„Das ist nur die verrückte Hedwig“, klang die Stimme des Zwerges. „Sie sitzt immer hier. Komm jetzt.“

„Wer?“ Mila fuhr herum. Erst zum Zwerg, dann zurück zu der Frau. War das ihre Hedwig? Dieselbe, die in der Kammer wohnte?

„Hedwig?“ Mila flog beinahe hinzu und legte die Hand auf die Schulter der Frau. Ihre Kleider waren klamm. Die Knochen standen mager und spitz heraus. Gleich würden sie zerbrechen.

„Hedwig.“

Langsam hob sich der Kopf. Milchige Augen sahen an Mila vorbei ins Nirgendwo. Es war ihre Hedwig. Die Frau, die Mila auf die Knie genommen und mit ihr im Schaukelstuhl hin und her geschwungen war. Die Frau, die nach Veilchen geduftet hatte und deren Gesicht so warm geleuchtet hatte wie die Sonne selbst.

Das Leuchten war erloschen. Elend saß in jeder Falte. Sie war nur noch ein Häufchen.

„Hedwig.“ Ein bitterer Schreck wallte durch Milas Herz.

Zitternd griff die alte Hand nach Mila. Knorrige Finger legten sich um ihren Arm. „Du hast mich gesehen“, knarzte eine dünne Stimme. „Man sieht mich und sieht mich nicht, doch du hast mich gesehen.“

„Wie …?“ Mila schluckte. Wie hatte es passieren können, dass die gute Hedwig schmutzig, stinkend und zitternd im Dreck saß?

Mila hob den Blick zum Zwerg, der breitbeinig in der Gasse stand.

„Wie kannst du das nur zulassen. Vor deinem eigenen Haus!“

Er zuckte mit den Schultern. „Sie hat ihre Miete nicht bezahlt.“

„Sie hat … was? Du hast sie einfach auf die Straße gesetzt? Bist du verrückt?“ Da waren die Pferde wieder in ihr. Sie bäumten sich auf, schnaubten und wieherten. „Du bist völlig durchgedreht! Jemand muss dir den Verstand gestohlen haben. Hilf mir sofort, Hedwig hinein zu bringen!“ Mila umfasste vorsichtig die dünnen Schultern der Frau.

„Stopp!“, donnerte der Zwerg. „Keinen Schritt macht sie in mein Haus. Diese Jauchegrube hat hier nichts verloren.“

„Du wirst mich nicht aufhalten sie nach oben zu bringen!“ Kampfbereit schlugen Milas Pferde mit den Hufen. Rauch stieg aus ihren Nüstern auf. Mila konnte sie kaum zurückhalten.

Der Zwerg stemmte die Arme in die Seiten. „Wenn du sie irgendwohin bringst, dann eine Straße weiter, damit meine Kunden diesen Kothaufen eines alten Esels nicht ansehen müssen.“

Nun donnerten sie los. Hundert Pferdehufe. Flammenroter Rauch stieb aus ihren Nüstern. Schwarze Blitze in den Augen. Mila sah nur den Zwerg. Diesen grässlichen, abscheulichen Zwerg!

Mit unbändiger Kraft stießen ihre Hände gegen seine Brust. Er wankte nach hinten. „Das sagst du nie wieder!“ Mila holte aus. Sie hob ihre Hände, sammelte alle Kraft, fuhr nach vorn und schlug ins Leere. Der Zwerg war ausgewichen und Mila fiel ins Nichts. Sie knallte auf Hände und Knie. Schnell rappelte sie sich auf, doch bevor sie sich umdrehen konnte, wurde ihr Arm gepackt, auf ihren Rücken gelegt und nach oben gezogen. Die Finger des Zwerges lagen mit eisernem Griff um ihr Handgelenk. Sie stand hilflos da. Schmerzensblitze durchfuhren ihre Schulter, als der Arm weiter nach oben gebogen wurde. Sie schnappte nach Luft.

Vor ihr, in der Tür des Ladens, sah sie Kriemhild mit großen Kulleraugen stehen. Die Hände vor den Mund geschlagen.

„Mach das nie wieder“, zischte es in Milas Ohr. „Schubse nie mehr einen Zwerg. Hast du mich verstanden?“ Weitere Blitze stachen in ihre Schulter.

Mila nickte.

„Ganz sicher?“

Die Pferde wanden sich. „Ja“, stieß Mila aus.

„Gut. Und dass eines klar ist: Der Dreckhaufen bleibt auf der Straße und du kommst mit in den Laden. Sofort. “

Er ließ los. Milas Arm rasselte nach unten. Scharf zog sie die Luft ein.

„Mach schon. Nimm deinen Korb und komm!“

Ihr Korb? Sterne blitzten vor ihren Augen. Sie blinzelte und sah sich um, während die Pferde in ihr zu Boden sanken. Ihr Blick fiel auf Hedwig, die mit milchigen Augen ins Nichts starrte. Der zahnlose Mund bewegte sich in lautlosen Worten. Ihre geliebte Hedwig.

Weinen schnürte Mila den Hals zu. Hedwigs Not lag mitten in ihrem Herz. Unfassbar schwer und unendlich traurig. Sie holte Luft. Ihre Stimme zitterte, als sie sich ein letztes Mal an den Zwerg wandte. „Aber du kannst sie doch nicht einfach liegen lassen. Bitte.“ Ihre Tränen ließen sein Gesicht verschwimmen. Und doch war es starr. Sein Blick ausdruckslos. Keine Regung. Nicht den Hauch von Menschlichkeit.

Die Pferde legten ermattend die Köpfe zu Boden. Milas Stimme war nur noch ein Flüstern. „Hast du denn überhaupt kein Herz?“ Sie spürte, wie den Pferden in ihr der letzte Atemzug entglitt. Mila wandte sich ab, zu Hedwig.

„Moment.“ Es war Ignaz, der das gesagt hatte. Ignaz, dessen Hand das Mädchen an der Schulter zurückhielt. „Vielleicht … kann ich doch etwas für Hedwig tun, wenn …“

Langsam drehte Mila sich um. Die Pferde hoben den Kopf. War da der Hauch eines Morgens?

Mila sah in zusammengekniffene Zwergenaugen. Er räusperte sich. „Wenn du auch etwas für mich tust.“

„Du würdest … ich … aber natürlich. Was soll ich tun?“ Die Pferde waren aufgesprungen. Noch nicht gewahr, was um sie herum passierte.

„Du sollst mitkommen, nach … zu … mit mir gehen. Jetzt. Sofort.“

„Und Hedwig?“ Hoffnung zitterte in ihrer Stimme.

Er grummelte: „Hedwig darf in die Kammer, wenn du mit mir kommst.“

Er meinte es ernst. Die Pferde schlugen die Hufe ins grüne Gras. Sie hatte doch gewusst, dass in jedem etwas Gutes steckte. Selbst im grässlichsten Zwerg.

Ignaz wies auf Milas Korb, der auf dem Boden stand. „Und für das Lebenselixier macht meine Frau deiner Hedwig eine warme Suppe.“

„Ich?“ Empörung lag in Kriemhilds Stimme.

„Schweig!“ Ignaz funkelte sie an. „Meine Frau wird das Lumpenbündel nach oben bringen, frisch machen und ihr eine warme Suppe geben. Dafür bekommt sie das Lebenselixier.“

Kriemhild ließ die Schultern fallen. „Na gut.“

„Jeden Tag“, warf Mila ein. „Hedwig wird jeden Tag eine warme Mahlzeit bekommen.“ Die Pferde tollten übermütig.

Kriemhild schüttelte den Kopf. Ignaz hob seinen dicken Zeigefinger vor Mila in die Luft. „Wenn du sofort mitkommst.“

Sie nickte und griff nach ihrem Korb. „Ich komme.“

„Nein!“, krächzte eine Stimme. Hedwigs Augen waren schreckensweit geöffnet. „Tu das nicht, Kind. Hüte dich vor dem Bösen. Du hast mich gesehen. Du bist Licht und sie wird dich auslöschen.“

„Pah“, der Zwerg spuckte aus, „hör nicht auf sie. Sie redet wirres Zeug. Nicht umsonst wird sie die verrückte Hedwig genannt.“

Mila zögerte. „Wohin gehen wir denn?“

Der Zwerg schielte auf Hedwig, während er langsam antwortete: „Ich möchte dich jemandem vorstellen, der dich gerne kennenlernen möchte.“

„Geh nicht, sie ist böse. Macht ist ihr Schwert, Zerstörung ihr Name. Und du bist Licht.“

Milas Hand legte sich in ihre Gürteltasche. Sanft umschlossen die Finger das Amulett. Kühl und stark lag es auf ihrer Haut.

Sie sah den Zwerg unverwandt an. „Zu wem willst du mich bringen?“

Seine Augen wurden schmal. „Wieviel ist dir meine Antwort wert?“

Er würde immer ein Zwerg bleiben. „Alle Salben und Kräuter, die ich dabeihabe.“

„Nein.“ Sein Blick war fest.

Mila wusste es. „Du wirst es mir nicht verraten.“

Er schüttelte den Kopf.

Ihre Hand schloss sich enger um die Feder. Sie spürte die feinen Kerben in den Härchen. Die wohlige Rundung des Edelsteines. Warm lag das Amulett in ihrer Hand. Seine Kraft floss den Arm empor, über die Schulter, mitten ins Herz. Füllte es bis oben hin.

Mila richtete sich auf. Sie hob ihren Kopf: „Ich werde mit dir gehen.“

„Dann komm.“ Der Zwerg deutete mit seinem Blick die Gasse hinauf.

Mila tat den ersten Schritt.

„Miiilaa!“ Es war ein markerschütternder Schrei. Hedwig hatte sich nach vorne geworfen und umkrallte Milas Rockzipfel. Sie hielt felsenfest, wie eine Ertrinkende an einem Stück Holz.

Mila wandte sich um. Diesmal sahen Hedwigs Augen direkt in die ihren. Reine Angst stand darin. Eine Angst, wie Mila sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Sie beugte sich zu Hedwig hinab. Umschloss langsam die Hand, die ihren Rock hielt. Wärmte die kalten Finger. „Es ist gut, Hedwig“. Sie beugte sich dicht an ihr Ohr, berührte mit den Lippen das Kopftuch, als sie flüsterte: „Ich bin geschützt durch das Vermächtnis meiner Mutter. Mir kann nichts geschehen.“

Langsam löste sie die Finger von ihrem Rock. „Weißt du noch?“ Leise sang sie: „… Drum sei getrost mein Lerchenkind, so sicher wie der Frühlingswind, kehrst du wieder zurück.“

Sie sah in die alten Augen. Sie waren wieder milchig und ausdruckslos. „Ich werde zurückkommen Hedwig, versprochen.“

Mila richtete sich auf, drehte sich um und folgte dem Zwerg in die Nacht hinein.

Wenn Schattenmächte weichen

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