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ENERGIESEMINAR

KONTEXT & IDEE

Wie wir Dinge sehen und bewerten, hängt immer von unserem individuellen Standpunkt in der Welt und den Informationen, die uns als Hintergrundwissen zur Verfügung stehen, ab. Wie groß ist zum Beispiel der gelbe Punkt zwischen den schwarzen Punkten in der Abbildung oben? Der Kontext – die schwarzen Punkte – bestimmt, wie groß wir den gelben Punkt sehen. Daneben bringen wir aber auch unterschiedliche Wissensbestände mit, und dem*der ein oder anderen Leser*in ist des Rätsels Lösung, die tatsächliche Größe des Punktes, vielleicht schon bekannt. (Falls nicht: Einfach einmal zwei Streifen Papier an die obere und untere Kante des gelben Punktes halten und so den Kontext verändern).


Abbildung: Eigene Darstellung nach: Firkin: Ebbinghaus illusion, CC 0 1.01

Wie groß ist zum Beispiel der gelbe Punkt zwischen den schwarzen Punkten in der Abbildung oben? Der Kontext – die schwarzen Punkte – bestimmt, wie groß wir den gelben Punkt sehen. Daneben bringen wir aber auch unterschiedliche Wissensbestände mit, und dem*der ein oder anderen Leser*in ist des Rätsels Lösung, die tatsächliche Größe des Punktes, vielleicht schon bekannt. (Falls nicht: Einfach einmal zwei Streifen Papier an die obere und untere Kante des gelben Punktes halten und so den Kontext verändern.)

Im Folgenden soll versucht werden, zu erklären, wer oder was das Energieseminar eigentlich ist. Dabei wird ein kurzer historischer Abriss die Verortung des Projektes erleichtern, bevor auf zentrale Wertvorstellungen und Haltungen eingegangen wird, die der Arbeit des Energieseminars zugrunde liegen. Diese zentralen Wertorientierungen spiegeln sich sowohl auf der Ebene der Zusammenarbeit der Tutor*innen des Energieseminars als auch in der Lehrpraxis des Energieseminars wider, sodass gelegentlich zwischen den Bezugsgruppen Energieseminar-Plenum und Energieseminar-Projekt gewechselt wird.2 Wo diese expliziten Werthaltungen an Grenzen stoßen, zeigt dieses Kapitel ebenfalls auf.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass hinter dem Energieseminar zu jedem Zeitpunkt etwa zehn Einzelpersonen stehen, deren individuelle Perspektiven und Schwerpunktsetzungen nicht in allen Teilaspekten übereinstimmen. Der hier aus pragmatischen Gründen zur Anwendung kommende verallgemeinernde Blick auf das Projekt und die Tutor*innen soll diese internen Differenzierungen keinesfalls verschweigen. Vielmehr wird versucht, die geteilten Positionen – in vollem Bewusstsein für die Verschiedenheiten – deutlich werden zu lassen.

2.1 WOHER DAS ENERGIESEMINAR KOMMT

Das Energieseminar entstand 1980 aus einer Initiative von Studierenden als Reaktion auf die in der Lehre herrschenden Zustände an der Technischen Universität Berlin. Kritisiert wurde vor allem der zu geringe Bezug zu gesellschaftlichen und ökologischen Fragestellungen in der technikwissenschaftlichen Ausbildung, vor allem die fehlende Auseinandersetzung mit regenerativen Energien als Alternative zur Atomenergie, die geringen Möglichkeiten zur Mitgestaltung der Lehre durch Studierende sowie das Fehlen von Lehrangeboten jenseits des Frontalunterrichtes. In von den Student*innen selbstorganisierten Seminaren wurde als Antwort darauf in den folgenden Jahren die Nutzung regenerativer Energien kritisch diskutiert und in Form kleiner Anlagen praktisch erprobt. Ökologische, soziale und politische Aspekte sollten dabei das gleiche Gewicht erhalten wie ökonomische und technische Belange.

Die Betrachtung von Themen mit einem Fokus auf das Spannungsfeld von Energie, Umwelt und Gesellschaft sowie die Verbindung von Theorie und Praxis bestimmen seitdem die Arbeit des Energieseminars. Mittlerweile ist das Energieseminar in den regulären Lehrbetrieb der Technischen Universität Berlin eingebunden und seit 2002 Teil des Fachgebietes Maschinen- und Energieanlagentechnik am Institut für Energietechnik. Die Anbindung an das Fachgebiet vereinfacht die Integration des Lehrangebotes in die verschiedenen Studienverlaufspläne und verbessert die Akzeptanz seitens der Technischen Universität. Die Stellen der Tutor*innen werden gegenwärtig durch die TU Berlin finanziert; eine entsprechende Stellenausstattung erfolgt über die Lehrleistungserfassung. Das Energieseminar ist trotz dieses formalen Anschlusses an ein Fachgebiet im Unterschied zu vielen anderen Arbeitsgruppen und Projekten der Universität interdisziplinär ausgerichtet und weitgehend selbstverwaltet organisiert. Das bedeutet, dass ein Großteil dessen, was an Arbeit anfällt, von den Tutor*innen des Energieseminars selbst und im Rahmen der eigenen Strukturen erledigt wird: Projekte planen, betreuen und nachbereiten, Öffentlichkeitsarbeit betreiben und für die Lehrveranstaltungen werben, aber auch eine ganze Menge Hintergrundarbeit – die Verwaltung des Büros, Formalitäten in Hinblick auf die Besetzung von Stellen oder die Betreuung der technischen Ressourcen oder der eigenen Werkstatt.

2.2 IDEELLE GRUNDSTEINE DES LEHRANSATZES

Nachdem vorangehend der Entstehungskontext des Projektes geschildert wurde, sollen im Folgenden einige theoretische Konzepte und Ansichten vorgestellt werden, die dem Lehrkonzept des Energieseminars zugrunde liegen. Dies ist von Bedeutung, da sich das Energieseminar auch als Akteur mit gesellschaftskritischer Agenda versteht. Gerade in dem scheinbar „neutralen“ Umfeld der Universität stößt diese explizite Werteorientierung jedoch häufig auf Kritik.

Das Energieseminar möchte dieser Kritik entgegen halten: jegliche Handlung, jegliche Herangehensweise und jegliche Fragestellung, die sich Menschen erarbeiten, folgt einer gewissen Wertvorstellung. Die Kunst liegt nicht darin, diese Selbstverortung aufzuheben, sondern sich des eigenen Standpunktes und der eigenen Vorannahmen bewusst zu werden und sie als konstituierende Rahmenbedingungen des eigenen Tuns sichtbar zu machen. Dies soll in den kommenden Abschnitten versucht werden.3

Dabei wird zunächst der spezifische Bildungsbegriff erläutert, der der Lehre des Energieseminars zugrunde liegt, bevor ein politisches Selbstverständnis der Gruppe formuliert sowie der angestrebte Umgang mit Vorurteilen und Diskriminierungen erläutert wird. Kritische Punkte sind zudem auch die Frage nach der Offenheit der Energieseminar-Projekte und deren interdisziplinäre Ausrichtung sowie der Umgang mit Hierarchien, insbesondere Wissenshierarchien, auf die ebenfalls näher eingegangen wird. Schließlich werden in diesem Kapitel auch die Grenzen angesprochen, an die diese Wertorientierungen immer wieder stoßen.

2.2.1 BILDUNGSBEGRIFF

Die universitäre Erwachsenenbildung im Bereich MINT4 besteht auch heute noch immer vor allem aus vorwiegend frontal gestalteten Vorlesungen und von ausgewiesenen Dozentinnen angeleiteten Seminaren, bei welchen die Inhalte als objektives Wissen suggeriert und vom Lehrpersonal starr vorgegeben und vermittelt werden. Dabei drängt die berufliche Qualifikation als die dominante Orientierung der Andragogik5 immer mehr in den Vordergrund. Weiterbildung hat einen betriebs- und volkswirtschaftlichen Warencharakter erhalten (Klemm 2015: 17). Dieser Neoliberalisierung und Objektivierung der Bildungsarbeit möchte das Energieseminar entschieden entgegentreten.

Das Lehrkonzept des Energieseminars versteht Wissensbildung als gemeinsamen Prozess, dessen Inhalte, Verlauf und Organisation von den Teilnehmenden selbstbestimmt gestaltet werden können. Das gemeinsam erarbeitete Wissen soll soziale Veränderungen anstoßen und im Prozess des Teilens soll ein Zusammenleben gestaltet werden, in dem Wissen gemeinsames Gut ist, über das nicht nur Eliten verfügen können.

Die ergebnisoffenen Seminare, bei welchen ein "Scheitern" auch eine Option und eine Lernerfahrung sein kann, verfolgen das Ziel aus der Verwertungslogik heraus zu treten und Wissensbildung lustvoll und bestimmt vom eigenen Interesse zu gestalten. Dabei stellen die Energieseminarprojekte einen thematischen Rahmen, der von den Teilnehmenden selbstorganisiert gefüllt wird.

Selbstorganisiertes Lernen bedeutet, dass die Inhalte aus dem eigenen Interesse heraus bestimmt, gemeinsam ausgewählt und ausgearbeitet werden. Dabei stehen vor allem folgende Fragen im Vordergrund:

• "Was will ich lernen?"

• "Wie will ich es lernen?"

• "Wie können wir uns die Inhalte erschließen?"

• "Wie will die Gruppe es lernen?"

• "Wie gehen wir miteinander dabei um?"

Das Aufbrechen der Aufteilung von Lehrenden und Lernenden im herkömmlichen Sinn ist die Grundlage für diese Bildungspraxis. Mit Freire meinen die Tutor*innen des Energieseminars, dass „es […] vor allem nötig ist – und hier zeigt sich bereits einer der unabdingbaren Aspekte des Wissens – dass sich der Lernende schon zu Beginn seiner Lernerfahrung als Subjekt der Wissensbildung versteht und in jedem Fall davon überzeugt ist, dass Lehren nicht heißt, Wissen weiterzugeben, sondern Möglichkeiten zu schaffen, Wissen zu erzeugen oder zu schaffen […] In diesem Sinne bedeutet Lehren nicht Kenntnisse bzw. Inhalte weitergeben; Bilden ist keine Handlung, durch die ein gestaltendes Subjekt einem unentschlossenen und angepassten Körper Form, Stil oder Seele verleiht. Es gibt kein Lehren ohne Lernen.“ (Freire P. 2008: 24f.)6

Bei diesem Prozess ist entscheidend, dass es kein "Falsch" oder "Richtig" gibt. Schon das Höhlengleichnis von Platon besagt, dass Wahrheit, also eine objektive Darstellung der wahren wirklichen Welt, für die Menschheit nicht erreichbar ist und somit Wissen immer eine subjektive Wahrnehmung darstellt (Reichenbach 2007: 29ff.).

In der heutigen Wissenschaft wird die Wissensbildung oftmals interessengeleitet durch die Logik der Ökonomie des Neoliberalismus gesteuert, was beispielsweise bedeutet, dass sich die Lehre hauptsächlich an wirtschaftlichen Aspekten ausrichtet (oder nur Ansätze, die diesem Ansatz folgen, Unterstützung finden) und in der Persönlichkeitsbildung Effizienz, Leistungsstärke und Wettbewerb betont werden. Das Energieseminar möchte in seiner Lehre hierzu ein Gegenmoment bilden, Aussagen und Tatbestände in Frage stellen und zur Bildung einer eigenen Meinung anregen.

Ein wichtiger Bestandteil der Projektseminare ist der Wissensoutput. Das in der Gruppenzusammenarbeit erlangte Wissen soll nicht einfach angehäuft, sondern angewendet und mit Erfahrungen verknüpft werden. Dies kann verschiedene Formen annehmen: In praktischen Projekten steht vor allem die Umsetzung und das Ausprobieren technischer Lösungsansätze im Fokus. In theoretischen Projekten erfolgt die Anwendung der Inhalte in Form einer abschließenden (kreativen) Dokumentation der Lerninhalte, beispielsweise einer Ausstellung, einem Magazin oder einem Film.

In den Projekten soll Raum geschaffen werden, sich durch gemeinsames praktisches Arbeiten neben grundlegenden handwerklichen und methodischen Fähigkeiten auch organisatorische und zwischenmenschliche Kenntnisse anzueignen. Der interdisziplinäre Charakter fördert den Austausch zwischen verschiedenen Professionen und zeigt allen Beteiligten unterschiedliche Perspektiven und Zugänge zu einem Thema.

Voneinander und miteinander lernen erfordert gegenseitige Motivation und Unterstützung. Das sonst häufig vorherrschende Konkurrenzdenken wird hier durch Kooperation und gegenseitige Hilfe ersetzt. Dadurch zeigt sich, dass jede*r – unabhängig von der jeweiligen fachlichen Expertise – einen persönlichen Beitrag zur Wissensbildung der Gruppe leisten kann.

Dabei wird nach dem Konsensprinzip entschieden, denn nur wenn auch alle die Entscheidungen der Gruppe mindestens mittragen können, werden sie sich auch aktiv und engagiert ohne Zwang am Arbeitsprozess beteiligen. Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Diskriminierungsformen bildet ein weiteres Fundament für den kooperativen Umgang miteinander.

Die Teilnehmerinnen lernen so Verantwortung für sich selbst und das eigene Lernen, aber auch für die Gruppe und im übertragenen Sinne für die Gesellschaft zu übernehmen. Das Energieseminar unterstützt diesen Prozess durch Anregung zu und Einforderung von kritischem Hinterfragen, die fest in den Projektverlauf integrierte Selbstreflexion sowie die Bereitstellung eines entsprechenden methodischen Repertoires.7

2.2.2 POLITISCHES SELBSTVERSTÄNDNIS

Die Berufung auf den oben dargestellten Bildungsbegriff lässt sich auf das allgemeine Grundverständnis und die gesellschaftliche Positionierung des Energieseminars zurückführen.

Politisch ist der Grundkonsens des Energieseminar-Plenums im linken Spektrum zu verorten: für das Energieseminar heißt das in diesem Zusammenhang vor allem, dass ein antifaschistischer, feministischer und anti-neoliberaler Anspruch die allgemeine Arbeitsausrichtung prägt. Das Energieseminar-Plenum versteht sich als einen aktiven und gestaltenden Teil einer ökologischen und bildungspolitischen Bewegung, wobei Selbstorganisation, Partizipation und Emanzipationsprozesse für die Tutor*innen von zentraler Bedeutung sind. Inhaltlich besteht das Ziel, die Diskussionen rund um (regenerative) Energien stets mit einem kritischen Blick zu hinterfragen und kontrovers zu diskutieren. Der Anspruch liegt dabei auch allgemein auf einer kritischen Technikreflexion. Die Kritik des Energieseminars am aktuellen Umgang mit unserer Umwelt ist dabei stets eingebettet in eine grundlegende Kapitalismus- und Systemkritik.

2.2.3 VORURTEILSBEWUSSTES DENKEN

Für alle bisher und im Folgenden beschriebenen und erläuterten Grundsätze des Lehr- und Lernansatzes des Energieseminars ist es ein elementares Fundament, alle Menschen in ihrer Individualität gleichermaßen anzuerkennen und diese Vielfalt als Bereicherung aufzufassen. Jede Art selbstbestimmten und konsensbasierten Lernens hat aus Sicht der Energieseminar-Tutor*innen nur dann Erfolg, wenn alle Beteiligten stetig daran arbeiten, Vorurteile, Diskriminierungen und etablierte Herrschaftsbilder und -praxen in ihrem jeweiligen Denken, den Bildungssystemen und der Welt zu erkennen, sie zu bewerten und sie nach und nach abzubauen.


Hierzu wird versucht, die sozialisationsbedingt mitgebrachten Vorurteile und Stereotypen aus dem Raum der selbstverständlichen Grundannahmen zu holen und so das vorurteilsbewusste Denken der Teilnehmer*innen zu fördern.

Das Energieseminar-Plenum orientiert sich dabei zum besseren Verständnis an einem von Noah Sow beschriebenen Bild, dass das menschliche Gehirn als eine Festplatte versteht, in der tief eingeschriebene Prägungen und Erfahrungen nicht durch einmaliges Überschreiben gelöscht werden können. Vielmehr bedarf es eines ausdauernden Arbeitsprozesses, diese Festplatte zu defragmentieren (Sow 2008: 79). Diesem Gedanken folgend sieht das Energieseminar-Plenum es als elementare Grundlage seiner Bildungsarbeit, die erlernten Vorurteile und Rassismen, koloniale Denkmuster und institutionelle Diskriminierungen im alltäglichen Lernen, Sprechen und Schreiben zu bekämpfen.

Das Energieseminar möchte alle (explizit natürlich die Teilnehmenden der Projektseminare, aber auch andere Personenkreise, mit denen Kontakte bestehen) einladen, ihre Positionen zu hinterfragen und andere Perspektiven bewusst wahrzunehmen und zu respektieren. In diese Auseinandersetzung bezieht sich das Energieseminar bewusst selbst mit ein.

AUS WELCHER POSITION WIRD BESPROCHEN

Die Tutor*innen des Energieseminars sind überwiegend weiß und deutsch, genauso wie die Autor*innen der zugrundeliegenden Textteile sowie die Autorin dieser Fassung des Lehrkonzeptes. Viele Überlegungen zu Fragen des Rassismus werden daher aus einer Perspektive von häufig nicht Betroffenen betrachtet und beschrieben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Energieseminar eine homogene Gruppe ist. Im Energieseminar-Plenum finden sich Menschen ganz verschiedener gewählter und zugeschriebener Positionierungen und Sozialisationen.

Die so vorhandenen Erfahrungen und solche, die von anderen zugänglich gemacht wurden, fließen in den folgenden Überlegungen zusammen, können aber bei Weitem nicht alle möglichen Diskriminierungserfahrungen abdecken. Viele daraus folgende Perspektiven können aus dieser beschränkten Position heraus weder besprochen noch eingeschätzt werden.

Trotz dieser Begrenztheit empfindet das Energieseminar-Plenum jedoch auch aus den eigenen Positionen heraus eine Haltung elementar, bei der sich alle am Lernprozess Beteiligten mit den oben genannten Themenfeldern sowohl in sich selbst als auch in der gemeinsamen Bildungsarbeit beschäftigen. Das beinhaltet beispielsweise, sich der eigenen Herkunft und Sozialisation bewusst zu werden, an der eigenen Wahrnehmung und Sprache zu arbeiten, um Wahrgenommenes und Sichtbares in der Lehre anzusprechen und aufzuarbeiten.

Dabei werden immer Fehler gemacht werden. Für alle Unaufmerksamkeiten und Irrtümer, die womöglich im Folgenden passieren werden, sei bereits hier um Entschuldigung gebeten. Entsprechende Hinweise hierzu nimmt das Energieseminar dankend entgegen.

ANTIDISKRIMINIERUNGSPÄDAC0CIK IM KONTEXT

Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, welchen Formen von Diskriminierungen die Energieseminar-Tutor*innen im Rahmen ihrer Arbeit pädagogisch entgegentreten können und welche unangesprochen bleiben müssen.

Antidiskriminierungspädagogik ist abhängig vom Kontext, in dem sie stattfindet. Das Energieseminar arbeitet in Strukturen der universitären Erwachsenenbildung. Dies bedeutet, um im oben zitierten Bild von Noah Sow zu bleiben, dass wir nur versuchen können, frühkindliche Erfahrungen und Prägungen zumindest ein Stück weit zu defragmentieren und den erlernten, defizitären Bilder zutreffendere, diversere entgegenzusetzen (Sow 2008: 79). s

Antidiskriminierungspädagogik ist zudem abhängig von personellen Fragen. Das Energieseminar-Plenum muss sich daher der Frage stellen, was aus einem aktuellen Team heraus überhaupt geleistet werden kann. Denn sowohl der Blick auf Strukturen von Diskriminierungen und Privilegien als auch die Fähigkeit zur Ansprache bestimmter Aspekte in der Antidiskriminierungsarbeit ist durch die Zusammensetzung der Gruppe bestimmt und beschränkt.

Viele strukturell bedingten gesellschaftlichen Ungleichheiten sind historisch gewachsen und tief in Ideologien und gesellschaftlichem Gedankengut verankert. (Mehrheits-) Gesellschaftliche Ideologien wiederum werden häufig in Institutionen und Bildungssystemen sichtbar fortgesetzt und reproduziert (Liebscher und Fritzsche 2010: 59). Angegliedert an eine Bildungseinrichtung wie eine Technische Universität ergeben sich aus der alltäglichen Arbeitserfahrung vor allem zwei sehr offen liegende Felder für eine notwendige Antidiskriminierungspädagogik in diesem Kontext:

Als Bildungseinrichtung ist die Technische Universität Berlin ein Ort, an dem Rassismus und Sexismus täglich reproduziert wird. Strukturelle und individuelle Diskriminierungen geschehen – oft ungewollt und unbewusst, dadurch aber nicht weniger wirkmächtig. Um dem entgegenzuwirken arbeitet die Universität auf verschiedenen Ebenen daran, entsprechende Strukturen transparent zu machen, Leitlinien für eine diskriminierungsärmere Universität zu erarbeiten und Verstöße zu sanktionieren. Diese Bemühungen sowie die über die Zeit erreichten partiellen Verbesserungen werden vom Energieseminar gesehen und wertgeschätzt. Bis heute ist die Universität jedoch trotzdem noch immer ein weitestgehend männlich-weiß dominierter Ort, woraus für das Energieseminar die hochschulpolitische Notwendigkeit folgt, am Aufbau von Methoden und Strukturen mitzuwirken, die eine geschlechtergerechte und antidiskriminierende Bildung ermöglichen und perspektivisch verwurzeln können.8

Neben einem historisch männlich dominierten Forschungs- und Gesellschaftsfeld sind die Technikwissenschaften aber auch ein weiß-westliches Überlegenheitsthema. Mit Projekten, die sich in diesem Themenfeld bewegen, sieht sich das Energieseminar häufig vis-à-vis mit kolonialen Denkmustern und Sichtweisen, die sich in kolonialen und diskriminierenden Sprach- und Schreibhandlungen niederschlagen. Auch aus dieser Verortung ergibt sich für das Energieseminar-Plenum ein konkreter Handlungsbedarf.9

Die oben angeführten Aspekte werden an dieser Stelle auch angesprochen, weil die Energieseminar-Tutor*innen der Auffassung sind, dass es bei jeder Form von Bildungsarbeit wichtig ist, den eigenen Kontext und entscheidende Bildungsaufträge in diesem Kontext auszudifferenzieren und zu sehen, was davon von dem entsprechenden Team ermöglicht werden kann und wo gegebenenfalls Expertinnen hinzugezogen werden müssen.

2.2.4 OFFENHEIT & INTERDISZIPLINARITÄT

Die Projektseminare des Energieseminars sind prinzipiell offen für alle Interessierten, sie sollen also nach Möglichkeit Menschen aller fachlichen Hintergründe und auch Menschen außerhalb der Universität ansprechen und diesen die gleichberechtigte Teilnahme an den Projekten ermöglichen. Zudem wird bei der Besetzung des Tutor*innen-Teams bewusst auf Interdisziplinarität geachtet.


Dieser Ansatz beruht auf der Annahme, dass sich Themen und Fragen durch die Kombination der diversen Perspektiven und Herangehensweisen in einer anderen Qualität bearbeiten lassen als innerhalb der Grenzen fachlicher Disziplinen. Wissen und Erfahrungen aus dem nicht-universitären Rahmen wird dabei genauso große Bedeutung zugemessen wie Kenntnissen, die im Rahmen formaler Bildungsbiographien erlangt wurden. Zudem besteht die Auffassung, dass mehr voneinander gelernt werden kann, wenn unterschiedliche Wissensbestände explizit eingebunden werden. Dem Ausgleich von differierenden Wissensbeständen kommt eine große Bedeutung zu.10

Dass diese prinzipielle Offenheit jedoch nicht uneingeschränkt möglich ist, zeigt sich immer wieder an den unterschiedlichsten Stellen: wenn beispielsweise Sprachbarrieren bei den Teilnehmenden auftreten, wenn Methoden an bestimmte Fähigkeiten geknüpft sind (zum Beispiel vor der Gruppe sprechen zu können oder mit anderen Gruppenmitgliedern in Kontakt treten zu können) oder wenn die Teilnahme von Nicht-Studierenden durch die Seminarzeiten eingeschränkt ist. Das Energieseminar bemüht sich in solchen Fällen darum, für Einzelfälle geeignete Lösungen zu finden, ist sich jedoch der Begrenztheit der Möglichkeiten stets bewusst.

2.2.5 HIERARCHIEN

Wie oben bereits angesprochen, wünscht sich das Energieseminar eine gleichberechtigte und hierarchiearme Zusammenarbeit, sowohl für die Projektseminare als auch für das Team der Tutor*innen. Um das zu ermöglichen, werden beispielsweise Aspekte des vorurteilsbewussten Denkens oder das gemeinsame Treffen von Entscheidungen immer wieder geübt und Wissensdifferenzen so gut wie möglich ausgeglichen. Nichtsdestotrotz kommt es immer wieder zur Ausprägung von Hierarchien auf verschiedenen Ebenen. Einige Aspekte dazu sollen hier kurz angesprochen werden.

DURCH UNGLEICHES BETEILIGUNGSVERHALTEN

An dieser Stelle sei pauschal angenommen, dass alle ein gewisses Effektivitätsbedürfnis haben, wenn sie eine Aufgabe lösen wollen. Bezogen auf eine Gruppenarbeit ist es somit immer ein Abwägen, wie weit jede*r eigenes Wissen einfließen lässt und wie dominant jede*r in den Prozess eingreift, um ihn voranzubringen – und wie das geschehen kann, ohne dabei Herangehensweisen und Blickwinkel anderer Personen zu übergehen. Ein überspitztes „Das weiß ich mit meiner Expertise ja wohl besser als du!“ stellt in einem Foucault'schen Sinne (Foucault 1977) ein Machtverhältnis dar, das das Energieseminar für die Gruppendynamik für nicht fruchtbar hält und daher versuchen möchte, möglichst gering zu halten. Andererseits soll ja gerade die Expertise aus den unterschiedlichen Hintergründen synergetisch eingesetzt werden. Der Lehr-Lernprozess muss also so gestaltet sein, dass das Expertenwissen aus inhaltlichen Gründen, durch Lernen und Verstehen, akzeptiert und genutzt wird und nicht, weil es Expertenwissen ist.

Sowohl in den Projektseminaren als auch im Plenum setzt das Energieseminar daher auf einen umsichtigen Umgang und den gezielten Einsatz von Methoden für potentiell langwierige Prozesse und fordert Tutor*innen genauso wie Teilnehmende auf, Geduld zu haben und mit Neugierde auf andere Ideen und Lösungsansätze zuzugehen.

AUF GRUNDLAGE DER INTERDISZIPLINÄREN ZUSAMMENSETZUNG

Wie oben angestrebt möchte das Energieseminar prinzipiell offen für alle sein, die sich in konstruktiver Weise beteiligen wollen. Gerade die ungleiche Verteilung von Wissen ist aber ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Verteilung von Macht. Bei der Wissensweitergabe ist daher nach einem demokratischen Modell von Bildung darauf zu achten, dass Wissen nicht nur Eingeweihten zur Verfügung steht, sondern möglichst alle davon profitieren. So können Abhängigkeiten abgebaut werden. 11

In einer interdisziplinären Bildungsinitiative bringen die verschiedenen Menschen ganz individuelle Erfahrungen und erworbenes Fachwissen mit. Je nach Zusammensetzung entstehen dabei immer neue Wissensgefälle zwischen denen, die aus unterschiedlichen Disziplinen kommen. Dies kann zum Beispiel schon die Fachsprache zwischen Studierenden beziehungsweise Studierten aus technischen oder naturwissenschafüichen Richtungen und Soziolog*innen oder Geisteswissenschaftler*innen sein. Auch der Studienfortschritt, also die Frage, ob ein*e Teilnehmerin im ersten Semester studiert oder bereits kurz vor dem Master-Abschluss steht, kann einen gravierenden Unterschied machen.

STRUKTURELLE UNGLEICHHEITEN

Dazu kommt in Form struktureller Rahmenbedingungen ein weiterer Faktor, der die Entstehung von Hierarchien begünstigt, konkret die unterschiedlichen Anstellungsverhältnisse der verschiedenen Plenumsmitglieder an der Technischen Universität Berlin: Es gibt studentische Hilfskräfte und wissenschafüiche Mitarbeiterinnen, erstere werden in der Regel für zehn Stunden pro Woche angestellt, letztere haben eine 50 %-Stelle. Damit geht nicht nur eine differierende Verteilung von Aufgaben- und Verantwortungsbereichen, eine sehr unterschiedliche Vergütung sowie abweichende Erwartungen seitens der Universität einher. Eine Person, die zwanzig Stunden die Woche angestellt ist, ist selbstverständlich auch viel vertrauter mit Aufgaben und Abläufen als eine, die nur etwa die Hälfte der Zeit arbeitet. Darüber hinaus ergibt sich ein gewisses Gefälle in Hinblick auf (zugeschriebene) Kompetenz durch die Tatsache, dass die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen im Gegensatz zu den meisten studentischen Mitarbeiterinnen über ein abgeschlossenes Hochschulstudium verfügen.

Abschließend zu der Frage nach den Hierarchien sei an dieser Stelle angemerkt, dass dem Energieseminar bewusst ist, dass ein völliger Abbau aller Hierarchien utopisch ist. Nichtsdestotrotz hält das Energieseminar an dieser Idealvorstellung fest und arbeitet den eigenen hierarchischen Strukturen entgegen, indem es stetig versucht, sie transparent zu machen und soweit wie möglich abzubauen.


2.2.6 GRENZEN

Die Ideale und Ansprüche des Energieseminars stoßen aufgrund politischer, formaler, gesellschaftlicher, inhaltlicher und personeller Gegebenheiten immer wieder an ihre Grenzen. Dem Energieseminar-Plenum ist es ein wichtiges Anliegen, diese Grenzen transparent und selbstkritisch aufzuzeigen, denn die ständige Auseinandersetzung mit internen und externen Grenzen ermög-licht es den Tutor*innen,

kontinuierlich neue Wege und Methoden zu entwickeln, um diesen aktiv und konstruktiv zu begegnen.12

NOTEN

Durch die Einbettung des Energieseminars in universitäre Strukturen, im Speziellen in den Kanon der regulären Lehrveranstaltungen, sind die Tutor*innen des Energieseminars gezwungen, die Arbeit der Teilnehmenden in den Projektseminaren zu bewerten und den Umfang der Seminare auf die Anforderungen der Technischen Universität Berlin in Hinblick auf die Zahl der Leistungspunkte anzupassen.

Das Energieseminar steht der Benotung als Bewertungsmöglichkeit für individuelle Leistung sehr kritisch gegenüber, da Zahlen auch von eins bis fünf in elf Stufen und aus vielen einzelnen Kriterien ermittelt, wie es bei den sogenannten Portfolio-Prüfungen möglich ist, sehr wenig über die Qualität von Lernprozessen aussagen können, sie individuelle Voraussetzungen und Lebensumstände nicht mitberücksichtigen und die Möglichkeit eines „objektiven“ Vergleichs erbrachter Leistungen suggerieren, den das Energieseminar einerseits als nicht existent und andererseits als nicht erstrebenswert ansieht. Auch den Druck, der mit Noten verbunden ist, findet das Energieseminar-Plenum äußerst schwierig. Der Leistungsgedanke, der hinter diesem System steht, entspricht nicht der Grundidee des Energieseminars davon, wie Lernprozesse (und gesellschafüiche Prozesse allgemein) gestaltet werden sollten. Dennoch ist das Energieseminar der Auffassung, dass eine differenzierte Leistungsbewertung mittels einer Portfolio-Prüfung schon eine immense Verbesserung im Vergleich zu einer Leistungsabfrage in Gestalt einer einzelnen Klausur darstellt.

Die Antwort des Energieseminars auf die oben gesammelten Kritikpunkte besteht einerseits aus einer offen angesprochene Kritik an der Leistungsorientierung der Hochschulbildung in den Projekten, andererseits aber auch aus der Berücksichtigung von Individualität im Bewertungsprozess und die Betonung des selbstreflexiven Moments in der Bewertung. Die Notenvergabe wird auf Grundlage von im Energieseminar-Plenum erarbeiteten Notenkriterien durchgeführt, bezieht aber die über einen Selbstreflexionsbogen13 erhobene Bewertung des eigenen Lernprozesses durch die Teilnehmenden mit ein. Das Werkzeug des Selbstreflexionsbogens gibt den Teilnehmenden die Möglichkeit, ihren eigenen Lernprozess, ihre Fortschritte, aber auch ihr individuelles Verbesserungspotential sowie ihre Position in der Gruppe im Nachgang des Projektseminars noch einmal kritisch zu durchdenken. Dies ermöglicht den Tutor*innen auch Einblicke in die persönlichen Verhältnisse und Herausforderungen, die den Hintergrund für die Beteiligung an der Projektarbeit darstellen, und die Einbeziehung der Arbeiten und Prozesse, die außerhalb der Projektzeiten- und räume stattgefunden haben. Der Selbstreflexionsbogen gibt den Tutor*innen auch die Möglichkeit, mit den Teilnehmenden über differierende Wahrnehmungen der eigenen Beteiligung am Gruppenprozess oder der eigenen Arbeitsleistung zu sprechen. Ein anschließendes gemeinsames Gespräch mit einer Erklärung der verschiedenen Positionen kann einen weiteren Beitrag zur Bewertung der eigenen Teilhabe am Projekt und damit zur Entwicklung der eigenen Stärken und Verbesserungspotentiale leisten. Die Entscheidung, mit welcher Note ein*e Teilnehmerin bewertet wird, obliegt letztendlich – weil von der Universität so gefordert – immer dem betreuenden Professor und den Tutor*innen.

Das Berliner Hochschulgesetz lässt auch unbenotete Module zu, womit die oben angesprochenen Probleme umgangen werden könnten. Diese Option soll in näherer Zukunft noch intensiver im Energieseminar diskutiert werden.

INHALTLICHE TIEFE

Der wissenschaftliche Anspruch und die inhaltliche Tiefe der Seminare ist an manchen Stellen eine große Herausforderung für die Lehrpraxis des Energieseminars, da die Voraussetzungen durch die unterschiedlichen Zugänge und Erfahrungen der Teilnehmenden schwer vergleichbar sind. Dazu ein kleines Gedankenexperiment: Wir stellen uns vor, ein Projekt arbeitet zum Thema Wärmespeicher. An dem Projekt nehmen der interdisziplinären Idee des Energieseminars entsprechend sowohl Menschen aus technischen Studienrichtungen als auch Menschen aus sozialwissenschaftlich und didaktisch orientierten Fächern teil. Einige der Teilnehmenden sind am Beginn ihres Studiums, ein Teilnehmer studiert das Orientierungsstudium „MINTgrün“ und vier Teilnehmerinnen stehen kurz vor Abschluss ihres Master-Abschlusses. Drei der Teilnehmenden haben bereits Studien- oder Abschlussarbeiten zu Themen rund um Wärmespeicher geschrieben, die anderen haben noch nie etwas mit dem Thema zu tun gehabt. Was ist nun die wünschenswerte inhaltliche Tiefe des Projektes? Die gleiche, die von einem Projekt innerhalb einer fachlichen Disziplin gefordert wird? Ein Niveau, das alle Teilnehmenden des Projektes mitnimmt? Was ist die adäquate inhaltliche Tiefe, wenn alle Teilnehmenden unterschiedliche Lerngrundlagen mitbringen? Die Frage kann und soll nicht allgemein beantwortet werden, sondern die Beantwortung hängt vom der im Gruppenprozess entwickelten Zielvorstellung des Projektes ab.

Die inhaltlichen Tiefe ist zudem durch die Selbstorganisation der Wissensvermittlung stark von den Teilnehmenden und deren Motivation abhängig. Für die meisten Teilnehmenden stellen die Projekte des Energieseminars den ersten Kontakt mit selbstorganisierten und kooperativen Lernmethoden dar, die sich deutlich unterscheiden von der konventionellen Lehre, die durch frontale "Wissensvermittlung" von einer Autorität zu einem mehr oder weniger unwissendem Publikum sowie Leistungsdruck und Konkurrenz geprägt ist. Zwar werden inzwischen in vielen Lernzusammenhängen, beispielsweise im Fachunterricht der Gymnasien, auch projektorientierte Formate erprobt, doch bieten diese durch ihre inhaltliche und zeitliche Umgrenzung in den seltensten Fällen einen derart großen Gestaltungsspielraum für die Selbstorganisation durch die Gruppenmitglieder wie die Projekte des Energieseminars.

EMANZIPATION VERSUS BERUFLICHE QUALIFIKATION

Teile des Konzeptes des Energieseminars werden als gut adaptierbar im Sinne einer neoliberalen Selbstoptimierungslogik aufgefasst. Viele Teilnehmende sehen die im Zuge der Projekte erworbenen Fähigkeiten als Bereicherung und Ergänzung zu ihrem Studienschwerpunkt im Sinne des Erlernens von Softskills als Vorbereitung und weitere Qualifikation für den Arbeitsmarkt. Dies sei ihnen gegönnt, das Energieseminar möchte jedoch die berufliche Qualifikation als primäres Ziel von Lern- und Lehrprozessen grundsätzlich in Frage stellen; Bildung ist mehr als Ausbildung und beinhaltet beispielsweise die bereits oben genannten emanzipatorischen Aspekte. Auch Praxislernen durch Projektkooperationen mit wirtschaftlichen Betrieben unterstützt das Energieseminar nicht, wenn hierbei Dienstleistungen von Studierenden semi-professionell erbracht werden sollen und somit bezahlte Arbeitszeit ersetzt wird. Die ausführenden Studierenden werden unter dem Vorwand ihres Lernprozesses für ihre Leistung mit Leistungspunkten, die sich für das eigene Studium anrechnen lassen, anstelle von Geld entlohnt. Gleichzeitig entwertet dies die Arbeit von professionellen Anbieter*innen entsprechender Leistungen und erzeugt einen zusätzlichen Leistungsdruck über das bestehende Marktprinzip hinaus. Das Energieseminar achtet daher sehr darauf, ausschließlich gemeinnützige und selbstorganisierte Projekte mit seiner Arbeit zu unterstützen und überprüft die für Kooperationsoder Praxisprojekte infrage kommenden Kooperationspartner*innen nach bestem Wissen und Gewissen.

VERHÄLTNIS ZWISCHEN TEILNEHMENDEN UND TUTORINNEN

Hierarchien aufgrund unterschiedlicher Rollen von Tutor*innen und Teilnehmerinnen lassen sich nicht gänzlich aufweichen und treten immer wieder klar oder verdeckt zu Tage, beispielsweise durch die Bewertungsgewalt der Tutorinnen, das zur Bewertung des Kurses herangezogene Kriterium der Anwesenheit und über das spürbar unterschiedliche Gewicht der Redebeiträge von Tutorinnen und Teilnehmenden in den Projektsitzungen, vor allem bei Entscheidungsfindungen.

ENTSCHEIDUNGEN

Oftmals wird das Konsensprinzip als Entscheidungsfindungsstruktur mit beispielsweise dem Mehrheitsentscheid verglichen und als langwierig, nervenaufreibend und ineffizient kritisiert. Dabei findet der Vorteil des Konsensprinzips, dass die Stimme jeder*jedes Einzelnen großes Gewicht hat und gehört werden muss, keine Beachtung..


Darüber hinaus gibt es natürlich Situationen, in denen kein Konsens hergestellt werden kann und der Gruppenprozess ins Stocken gerät.14

UMGANG MITEINANDER

Auch die obligatorischen Lehreinheiten zu Diskriminierung und Hierarchie werden oftmals belächelt. Diese Einheiten fordern immer wieder viel pädagogisches Feingefühl der Tutor*innen des Energieseminars, um auch mit Provokationen angemessen umzugehen und ernsthafte Diskussionen über diese Themen zu ermöglichen.

Darüber hinaus gibt es immer wieder Konflikte mit einzelnen Studierenden, die die Frauen*projekte oder die Quotenregelung angreifen, so dass sich das Energieseminar inzwischen die rechüiche Zulässigkeit dieser Quote über die Universitätsleitung bestätigen lassen hat.

IM TEAM DER TUTORINNEN

Auch innerhalb des Teams der Tutor*innen des Energieseminars stößt die Gruppe immer wieder an die Grenzen des eigenen Selbstanspruchs. Acht von zehn Tutor*innen studieren aktiv (die anderen beiden sind als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen beschäftigt) und der emotionale und zeitliche Aufwand der Arbeit im Energieseminar übersteigt immer wieder die Belastbarkeit der Teammitglieder. Gerade in den arbeitsintensiven Phasen zu Beginn und Ende des Semesters wird die bezahlte Arbeitszeit der studentischen Mitarbeiterinnen von zehn Stunden pro Woche deutlich überschritten.

Der unterschiedliche Arbeitsumfang von studentischen und wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen und auch die unterschiedlich lange Mitarbeit der Einzelnen im Plenum verursachen immer wieder Wissenshierarchien im Team. Deshalb muss sich das Energieseminar trotz des Ziels der Hierarchiearmut wie jede andere Arbeitsgruppe permanent mit informellen Hierarchien und unterschiedlich starken Positionen im Plenum auseinandersetzen.

IM DIALOG MIT DER UNIVERSITÄT

Im institutionellen Kontext der Universität ist das Energieseminar mit der finanziellen Unterausstattung der Lehre im Allgemeinen permanent konfrontiert. Das Energieseminar, insbesondere die für die Stellenausstattung zuständige Arbeitsgruppe, muss parallel zum Lehrbetrieb ständig für den Erhalt von Stellen oder um alternative Finanzierungen kämpfen und konkurriert hier direkt mit konventionellen Lehrveranstaltungen. Einige Lehrstühle und Personen haben zumindest in der Vergangenheit das Lehrkonzept des Energieseminars als nicht universitär kritisiert und dadurch zusätzlich den Erhalt der Lehrveranstaltung Energieseminar an der Technischen Universität Berlin erschwert.

2.3 FAZIT

Im vergangenen Kapitel wurde erläutert, welche Grundgedanken und Werthaltungen hinter dem Lehrkonzept des Energieseminars stehen und welchen Herausforderungen und Grenzen dabei begegnet wird. Neben einem spezifischen, emanzipatorischem Bildungsbegriff und einer links-ökologischen Selbstverortung ist das auch die prinzipielle Offenheit über die Grenzen universitärer Disziplinen hinweg sowie für Teilnehmende außerhalb der Universität. Bildung auf Augenhöhe ist das erklärte Ziel des Lehrkonzeptes des Energieseminar, weshalb auch die Beschäftigung mit Hierarchien und diskriminierenden Strukturen eine wichtige Grundidee hinter dem Lehrkonzept sind.

Die oben formulierten Grundideen bestimmen sowohl die Organisationsstruktur des Energieseminar-Plenums als auch die Grundzüge der Arbeit in den Projektseminaren. Um noch klarer darzustellen, in welchem Rahmen im Energieseminar Lehre angeboten wird, soll nun zunächst das Energieseminar-Plenum und seine Organisation näher ausgeführt werden.

1 https://openclipart.org/detail/269872/ebbinghaus-illusion, 05.11.2018

2 Die Zusammenarbeit der Tutor*innen im Energieseminar-Plenum wird darüber hinaus in Kapitel 3 näher betrachtet, die Ebene der Projektgruppe in Kapitel 4.

3 Dies ist im Übrigen auch wesentlicher Bestandteil wissenschaftlicher Methodik.

4 MINT steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik.

5 Andragogik ist die Wissenschaft, die sich mit dem Verstehen und Gestalten der lebenslangen Bildung des Erwachsenen befasst (siehe auch Klemm 2005: 12ff.).

6 Da es sich um ein wörtliches Zitat handelt, wurde die Formulierung im generischen Maskulinum beibehalten.

7 Wie das im Einzelnen über die Dauer eines Semesters umgesetzt wird, kann in Kapitel 4 nachgelesen werden.

8 Als kleiner Denkanstoß zu Fragen der Geschlechtergerechtigkeit lässt sich beispielsweise die statistische Erfassung von Promotionen, Habilitationen und Studierenden aufgeschlüsselt nach Geschlecht betrachten, online zu finden für die Technische Universität Berlin unter https://www.tu-berlin.de/menue/ueber die tu berlin/zahlen fakten/ (zuletzt aufgerufen am 05.11.2018). Zum Rassismus an deutschen Hochschulen siehe auch Fereidooni 2017.

9 Wie sich dies genau gestaltet und welche Herangehensweisen das Energieseminar dahingehend wählt, lässt sich in Kapitel 4 im Kontext des Projektverlaufes nachlesen.

10 Siehe den Abschnitt zum Umgang des Energieseminars mit Wissenshierarchien weiter unten.

11 Dies ist übrigens auch ein Grund, warum das Energieseminar sein Lehrkonzept gerne in schriftlicher Form festgehalten und publiziert sehen möchte: Das im Rahmen der Energieseminar-Lehre erlangte Wissen soll an andere Bildungsanbieter*innen weitergegeben werden – nicht nur an Menschen, die im Arbeitskreis des Energieseminars aktiv waren oder sind oder an einem Projektseminar teilgenommen haben. Damit erhofft sich das Energieseminar einen Beitrag dazu zu leisten, dass Wissen allgemein zugänglich und demokratisch verteilt ist.

12 Einige der im Folgenden angesprochenen Grenzen berühren auch die in Kapitel 5 dargestellten Ergebnisse des Studienreformprojektes oder die in Kapitel 6 zusammengestellten Herausforderungen in der selbstorganisierten Projektzusammenarbeit und im Energieseminar gefundenen Lösungen.

13 Zwei beispielhafte Selbstreflexionsbogen sind im Anhang I dieses Textes angefügt.

14 Wie das Energieseminar-Plenum in solchen Situationen als Gruppe fortfahren möchte, hat es in der Binnenvereinbarung festgehalten, die weiter unten detaillierter vorgestellt und im Anhang K in Auszügen beigefügt ist. Zudem gibt es in Kapitel 6.5. einige Ideen im Umgang mit Dissens in der Projektgruppe.

Anders Denken, Gemeinsam Handeln

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