Читать книгу Martin von Tours - Judith Rosen - Страница 10

|19|2. Ein literarischer Glücksfall mit Fußangeln Eine schicksalhafte Begegnung

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In Martins langem und abenteuerlichem Leben war seine gute Tat in Amiens eine kleine Episode. Warum die Erinnerung an den Vorfall Geschichte geschrieben hat und nach fast 1600 Jahren noch so lebendig ist, als hätte Martin erst kürzlich seinen Mantel geteilt, hat einen Grund und einen Namen: Sulpicius Severus. Die Lebensbeschreibung ist auch deswegen so wertvoll, weil der Heilige keine eigenen Schriften hinterlassen hat. Martins Charisma, seine legendären Wundertaten und seine Missionserfolge in Gallien hätten die Erinnerung seiner Zeitgenossen kaum überlebt, wenn nicht Sulpicius zur Feder gegriffen und um 396, noch zu Lebzeiten des Bischofs, seine Vita Martini verfasst hätte.1

Um 360 wurde Sulpicius in ein einflussreiches Adelsgeschlecht geboren, das aus Aquitanien im Südwesten Frankreichs stammte und dort begütert war. Wie in vornehmen Familien üblich, studierte er die Redekunst. Seine Studien führten ihn nach Burdigala, das heutige Bordeaux, das als Universitätsstadt einen vorzüglichen Ruf genoss, nicht zuletzt wegen beeindruckender Lehrer wie Decimus Magnus Ausonius, dessen Rhetorikvorlesungen Sulpicius wahrscheinlich gehört hat. Nach seinem Studium verzichtete er auf |20|die standesgemäße Laufbahn, die mit Spitzenpositionen im Staatsdienst oder im Heer lockte. Der junge Mann zog ein ruhigeres Leben in der vertrauten Heimat vor und ließ sich als Anwalt nieder. In seiner Familienplanung wich er nicht von den Erwartungen seiner Familie ab und heiratete eine Frau aus konsularischer Familie. Mit der Verbindung vergrößerte der erfolgreiche Jurist nicht nur sein Vermögen und Prestige, sondern auch das Ansehen seiner Familie. Bald nach der Hochzeit starb die junge Ehefrau, die der Nachwelt nichts außer dem Namen ihrer Mutter hinterließ: Bassula. Die Mutter war Christin und hatte Einfluss auf ihren Schwiegersohn. Ob Sulpicius bereits in seiner Jugend Christ war, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich bekehrte sich erst der Witwer zum Christentum und wandte sich der Askese zu, die sich gerade unter gallischen Adligen in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts zu einer Idealform christlichen Lebens entwickelte.2 Ein Vorbild der Asketen war das Mönchtum im Osten des Römischen Reiches.3

Einer der spektakulärsten Konvertiten war Sulpicius’ Studienfreund Meropius Pontius Paulinus, Sohn einer steinreichen Familie aus Bordeaux, der 378 Konsul und drei Jahre später Statthalter Kampaniens in Italien wurde. Überraschend gab er seine weltliche Karriere auf, ließ sich taufen und zum Priester weihen. Er verkaufte seinen Besitz und übersiedelte 395 mit seiner Frau endgültig in das kampanische Nola. Dort gründete er ein Kloster und wurde später zum Bischof der Stadt gewählt, in der er bereits als Statthalter residiert hatte.4 Beeindruckt von der konsequenten conversio seines Freundes veräußerte Sulpicius fast alles,5 was er besaß, um seine Berufung zur Askese ebenso glaubwürdig leben zu können.6 Trotz Gewissensbissen behielt er ein kleineres Gut, Primuliacum in der Nähe von Toulouse, wohin er sich, begleitet von seiner Schwiegermutter, um 395 zurückzog.7 Später stiftete er dort ein Baptisterium sowie zwei Basiliken und baute eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten auf.8 Auf Primuliacum pflegte Sulpicius das standesgemäße Leben in Muße unter christlichen Vorzeichen. Gern widmete sich |22|mancher gebildete Adlige auf seinem Landgut der Schriftstellerei.9 Zwischen Gebet und Kontemplation brachte auch Sulpicius seine Gedanken zu Papier und setzte dem Bischof von Tours ein Denkmal. Dem Autor gelang ein literarischer Coup. Seine Martinsvita wurde zum Prototyp der lateinischen Hagiographie.


Die Vita sancti Martini des Sulpicius Severus in einer Handschrift, die um 800 im Kloster Lorsch entstand und sich heute in der Domstiftsbibliothek Merseburg befindet.

Sulpicius verdankte seine Hinwendung zum Asketentum nicht allein seinem geistlichen Freund Paulinus und seiner Schwiegermutter, sondern vor allem der mehrfachen Begegnung mit dem Bischof von Tours, dessen Ruf als Asket, Wundertäter und Missionar sich in Gallien verbreitet hatte. Wahrscheinlich begegneten sich die beiden zwischen 393 und 395 im Kloster Marmoutier, das Martin nach seiner Bischofswahl oberhalb von Tours am rechten Ufer der Loire gegründet hatte, um dort seiner ursprünglichen Berufung leben zu können: als Mönch in einer Zelle.10

Der gut dreißigjährige Besucher war überwältigt von der Persönlichkeit und liebevollen Demut seines hochbetagten Gastgebers: „Man konnte es damals kaum glauben, mit welcher Demut, welcher Güte er mich empfangen hat, wobei er sich im Herrn höchst glücklich pries und sich freute, dass er von uns, die wir die Pilgerreise auf uns genommen hatten, um ihn aufzusuchen, so hoch geschätzt wurde.“11 Martins freudiges Erstaunen war keine Floskel. Denn hinter Sulpicius und seinen Begleitern lag ein anstrengender Weg von mehr als 500 Kilometern, welche die Zelle des Bischofs vom Landsitz Eluso (Font d’Alzonne bei Montferrand) gut 40 Kilometer südöstlich von Toulouse trennten, wo Sulpicius vor seiner Berufung zur Askese lebte.12

Die weit gereisten Gäste nahmen am Mahl der Mönchsgemeinschaft teil, die sich nur einmal am Tag, meist am frühen Abend, um den Tisch versammelte. Martin reichte den Besuchern Wasser und wusch ihnen sogar die Füße. Sulpicius war sicher nicht der Erste und der Letzte, dem Martin in seinem Leben die Füße wusch. Mit seiner Geste erinnerte er an Jesus, der beim Letzten Abendmahl die Füße seiner Jünger gewaschen hat. Auf Petrus’ Nachfrage erklärte |23|Jesus: „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir.“ Und er setzte hinzu: „Wer vom Bad kommt, ist ganz rein und braucht sich nur noch die Füße zu waschen.“ Martin folgte Jesu Beispiel und verwirklichte seinen Auftrag: „Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe. … Der Sklave ist nicht größer als sein Herr, und der Abgesandte ist nicht größer als der, der ihn gesandt hat.“13 Selbstverständlich kannte Sulpicius die Szene der biblischen Fußwaschung. Ihn erschütterte, dass er das, was er bisher von Jesus gelesen hatte, ohne Vorwarnung von Martin bei sich selbst erlebte. Kleinlaut gestand er: „Mir fehlte schlicht der Mut, mich zu sträuben.“14 Und er ergänzte, der Autorität Martins könne man sich kaum widersetzen. Es sei sogar ein Verbrechen, sich seinem Willen zu widersetzen. Daher sollte man nicht, wie viele Interpreten es tun, diese Episode für bloße Literatur halten. Mag Sulpicius auch manche Begebenheiten in der Vita Martini stilisiert haben, um den Bischof von Tours mehr und mehr Jesus von Nazareth anzugleichen, so ist doch nicht zu bezweifeln, dass Martin selbst im Gottessohn sein einzigartiges Vorbild sah und Jesu Beispiel in seinem alltäglichen Leben zu verwirklichen bestrebt war.

Während ihrer Begegnung lobte Martin Paulinus’ radikale und konsequente Lebensführung: „Das Gespräch zwischen uns drehte sich allein darum, dass wir die Verlockungen der Welt und die weltlichen Verpflichtungen hinter uns lassen müssen, um frei und losgelöst dem Herrn Jesus zu folgen. Er führte als das herrlichste Beispiel unserer Gegenwart den Adligen Paulinus an, der Christus gefolgt sei, nachdem er fast als Einziger in der jetzigen Zeit sein gewaltiges Vermögen weggegeben und die Gebote des Evangeliums erfüllt habe. Ihm, rief er, müssen wir folgen, ihn nachahmen.“15 Martin rief fast prophetisch zu einer Haltung auf, die im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder zu Kontroversen geführt hat bis hin zu der viel diskutierten Rede Papst Benedikts XVI., die er im |24|Rahmen seiner Apostolischen Reise nach Deutschland 2011 in Freiburg gehalten hat: „Die geschichtlichen Beispiele zeigen: Das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche tritt klarer zutage. Die von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein. Sie kann ihre Berufung zum Dienst der Anbetung Gottes und zum Dienst des Nächsten unbefangener leben. Umso mehr ist es wieder an der Zeit, die wahre Entweltlichung zu finden, die Weltlichkeit der Kirche abzulegen. Das heißt nicht, sich aus der Welt zurückzuziehen. Eine vom Weltlichen entlastete Kirche vermag gerade auch im sozial-karitativen Bereich den Menschen, den Leidenden wie ihren Helfern, die besondere Lebenskraft des christlichen Glaubens zu vermitteln! … Leben wir als Einzelne und als Gemeinschaft der Kirche die Einfachheit |25|einer großen Liebe, die auf der Welt das Einfachste und Schwerste zugleich ist, weil es nicht mehr und nicht weniger verlangt, als sich selbst zu schenken.“16


Ausgrabungen im Kloster Marmoutier.

Martin ist solch ein historisches Beispiel, auf das sich Papst Benedikt in seiner Rede unausgesprochen bezog. Bereits im 4. Jahrhundert predigte der Bischof von Tours die „Entweltlichung“, nachdem es erst Anfang desselben Jahrhunderts zu einer Annäherung zwischen Kirche und Staat gekommen war, die mit dem berühmten Toleranzedikt des Kaisers Galerius ihren Anfang genommen hatte. Es dauerte nur wenige Jahrzehnte, bis Kaiser Theodosius endgültig das Christentum zur Reichsreligion erklärte und 381 die Tempel des Vielgötterglaubens schloss. Martin hatte erkannt, dass die Christen und die Kirche ihre Wurzeln ausschließlich in Jesus und seiner Botschaft festmachen sollten und zu viele Nebenwurzeln die christliche Sendung verwässerten. Das Mönchtum war eine Antwort auf ein Unbehagen, das unter anderem auch auf die Verquickung von Kirche und Staat reagierte. Trotz seines Rückzugs in die Zelle von Marmoutier blieb Martin der Welt zugewandt, weil ihn die Nächstenliebe, die caritas, zu den Menschen trieb. Indem er sich selbst verschenkte, wurde er zu einem Geschenk für seine Mitmenschen und für seine Kirche. Und das hatte sein Gast und späterer Biograph erkannt.

Martin gab also den letzten entscheidenden Anstoß für Sulpicius’ Lebenswende mit dem Hinweis auf dessen Freund Paulinus. Einige Jahre zuvor waren sich Martin und Paulinus in Vienne bei Lyon begegnet, wo Martin den kränkelnden Paulinus von einem schweren Augenleiden heilte.17 Vermutlich hat Sulpicius seinem Freund einen Brief geschrieben und von den Tagen bei Martin geschwärmt. Denn er eröffnete seinen ersten erhaltenen Brief „An seinen geliebtesten Bruder gemäß dem gemeinsamen Glauben an Gott Vater und Christus Jesus unser Heil“ mit den Worten: „Wie süß sind deine Worte für meine Kehle, süßer als der Honig und die Honigwabe für meinen Mund.“ Paulinus schrieb diese Zeilen vor Ostern 395 und |26|lud seinen Freund nachdrücklich ein, mit ihm das Osterfest, das er als Priester feiern werde, in Nola zu begehen.18 Doch Sulpicius enttäuschte ihn und trat die Reise nicht an. Vermutlich nahm ihn die Veräußerung seines Besitzes zu sehr in Anspruch. Denn in diese Zeit fiel, wie oben beschrieben, sein Umzug auf das Gut Primuliacum.

In der Vita berichtete Sulpicius, er habe sich bereits vor seiner Reise nach Tours mit dem Gedanken getragen, eine Lebensbeschreibung des charismatischen Bischofs zu verfassen, „von dessen Glauben, Lebenswandel und Wirken man schon lange gehört hatte“.19 Die Reise – er sprach von „Wallfahrt“ (peregrinatio) – habe dazu gedient, authentisches Material von Martin und von Menschen aus seiner Umgebung zu erhalten.20 Mit seiner Vorgehensweise, der Befragung von Augenzeugen und der kritischen Sichtung des Materials, erwies sich Sulpicius als ambitionierter Historiker. Für Paulinus war die Martinsvita denn auch historia.21 Indem sich der Biograph nicht mit den über Martin umlaufenden Geschichten begnügen wollte, folgte er der Einsicht, die bereits Herodot im 5. vorchristlichen Jahrhundert ausgesprochen hatte: „Die Ohren sind bei Menschen weniger zuverlässig als die Augen.“22 Die Sentenz des „Vaters der Geschichtsschreibung“, wie ihn Cicero nannte, war in verschiedenen Ausprägungen geradezu sprichwörtlich geworden.23

Wenn Sulpicius mehrfach betonte, dass nur die Informationen in seine Darstellung geflossen seien, die er sorgfältig geprüft habe und für gesichert halte, machte er den Bischof selbst zum Garanten für die Wahrheit seiner Darstellung. Mit seinen Beteuerungen wappnete sich der Autor zudem für eine Frage, auf die er in der Vita eine nachdrückliche Antwort gab: Wie glaubwürdig ist das, was man sich über Martin erzählte?24 Sulpicius verschwieg nicht, dass Martin Gegner unter den gallischen Bischöfen hatte und dass sogar in seiner nächsten Umgebung Kritik an ihm laut wurde.25 Seine strenge asketische Lebensweise, die jede klerikale Selbstinszenierung ablehnte, provozierte manchen bischöflichen Mitbruder, der – |27|durchweg hoher Abstammung – Wert auf einen angemessenen Auftritt und Lebensstil legte.

Auch manche Wundergeschichte, die über den begnadeten Heiler im Umlauf war, stieß auf große Skepsis. Sulpicius konnte sich ausrechnen, dass ihm als Biographen Ähnliches widerfahren, Kritiker ihm Leichtgläubigkeit vorwerfen oder ihn sogar der absichtlichen Fälschung bezichtigen würden. Um Vorwürfen vorab den Wind aus den Segeln zu nehmen, setzte er sich in der Vita mit möglichen Anfeindungen auseinander. Die Verteidigung seines Martinbildes hob er sich taktisch klug für das Ende seiner Darstellung auf,26 wohl wissend, dass sich der Leser an den Anfang und Schluss einer Geschichte besonders gut erinnern werde. Sulpicius wäre ein schlechter Biograph gewesen, hätte er die Sticheleien der Widersacher nicht zu einer Verteidigung Martins umgemünzt: „Immer nur trug er in seinem Mund Christus, immer nur in seinem Herzen Frömmigkeit, Friede und Barmherzigkeit. Oft pflegte er sogar für die Sünden derer zu weinen, die als seine Verleumder auftraten und ihn, der still und zurückgezogen lebte, mit giftigen Zungen und einem Schlangenmaul lästerten.“27 So entwickelte sich der Adlige aus Aquitanien zum Apologeten seines großen Vorbilds, wurde aber auch selbst zum Ziel von Polemik, die er selbstbewusst als „Gebell“28 abtat. Der Gescholtene tröstete sich mit der Vorstellung, die Lektüre seines Werkes werde den Betreffenden die Schamröte ins Gesicht treiben.29

Martin von Tours

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