Читать книгу Acevado - Wann bleibst du? - Jule Heer - Страница 11
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ОглавлениеDiese letzte Woche der Herbstferien war wie im Flug vergangen, viel zu schnell für mich, denn ich fürchtete mich vor dem ersten Tag an meiner neuen Schule in Rain Village.
Zu Hause lief eigentlich alles bestens, auch wenn ich nur schweren Herzens bereit war, das hier schon mein Zuhause zu nennen. Ich hatte das Zimmer bekommen, es zu meinem persönlichen Raum gemacht mit all dem, was mir etwas bedeutete, und hatte mich nun doch einigermaßen gut eingelebt.
Am Sonntag, dem letzten Tag des Im-Bett-Rumgammelns und Fernsehguckens, hatte ich mit meiner Freundin Holly, die viel zu weit von mir entfernt in London war, telefoniert. Sie hatte mich ausgequetscht, wie es nun mal ihre Art war, und danach vermisste ich sie fürchterlich.
Heute war Montag und ich stand, die Unruhe in Person, vorm Spiegel und versuchte, etwas aus meinem Aussehen zu machen. Ich bürstete mir mehrmals nervös die schulterlangen schwarzen Haare, steckte meinen Pony weg, löste ihn wieder und flocht ihn dann doch zurück. Ich kramte meine winzigen Vorräte an Schminke heraus und entschied mich schließlich doch dagegen. Zu riskant. Wenigstens musste ich mir um die Kleidung keine Sorgen machen, denn die Schuluniform hatten wir bereits vor einigen Tagen besorgt und darin drehte ich mich nun vor dem Spiegel hin und her.
Das sah doch einfach nicht aus!
Stöhnend vergrub ich das Gesicht in den Händen und gab es auf, daraus würde ja doch nichts mehr werden, ich war ein hoffnungsloser Fall.
Ich trottete schlecht gelaunt die Treppe hinunter und platzte in die Küche, wo meine Eltern in bester Stimmung am Tisch saßen und schäkerten. Mum wurde zuerst auf mich aufmerksam, sah dezent über meine miese Laune hinweg und strahlte: „Süß siehst du aus, Mäuschen. Na, komm, setz dich zu uns, damit du nicht vom Fleisch fällst in der Schule oder dich vor Hunger nicht richtig konzentrieren kannst.“
Mein Gesichtsausdruck sprach vermutlich Bände und Dad kicherte sogleich los: „Uhhhh, wenn Blicke töten könnten ...“
Ich holte tief Luft, um etwas zu erwidern, überlegte es mir dann aber doch anders und wandte mich von den beiden ab, um mir ein Brot zu schmieren. Egal, wie aufgeregt ich war, es war nach zwei Wochen Ferien zu dieser Uhrzeit einfach noch zu früh für mich.
Nachdem ich mein Brot gegessen und einen ordentlichen Kaffee getrunken hatte, ging es mir in dieser Hinsicht schon etwas besser und ich verabschiedete mich mit leicht zittriger Stimme von meinen Eltern.
„Hey, Schatz, ich kann dich auch fahren, wenn du magst.“
„Nein, Mum, ich muss das alleine schaffen, aber danke für das Angebot!“ Damit drehte ich mich um und machte mich auf zur Bushaltestelle, die glücklicherweise gleich um die Ecke war.
Dort standen nur ein großer, schlaksiger Typ mit einem bodenlangen Nietenmantel und einem grün gefärbten Irokesenschnitt und ein braun gebranntes Mädchen mit einer dicken Make-up-Schicht im Gesicht und langen Goldlocken. Über dem Arm der etwa Gleichaltrigen hing eine Lederhandtasche und sie kaute mit schmatzenden Geräuschen Kaugummi. Sie war mir auf Anhieb unsympathisch, und was das Schlimmste war, sie trug die gleiche Schuluniform wie ich.
Der Bus kam und mit einem abfälligen Blick auf mich stieg die Goldlockentussi vor mir ein. Ich trottete hinterher und ließ mich auf den ersten freien Platz am Fenster fallen, bevor mich die Blicke der etwa zehn bereits anwesenden Schüler verschlingen konnten.
Es war eine ziemliche Herumkurverei bis in die nächstgrößere Stadt, wir durchfuhren einige ähnlich große beziehungsweise kleine Dörfer wie Rain Village, die an vielen Stellen genauso aussahen. Ich dachte an Mr Lord alias Oscar, der Mum erzählt hatte, dass er seit dem Tod seiner Frau Amber in ebendieser Stadt lebte, und konnte nachvollziehen, dass es ihm schwergefallen war, nach zehn Jahren wieder in den kleinen Ort zurückzufinden. „Alles aussteigen!“, riss mich plötzlich die Stimme des Busfahrers aus meinen Gedanken.
Ich atmete tief durch und erhob mich von meinem Sitz. Jetzt war es also so weit. Mit zittrigen Schritten verließ ich den Bus und merkte, wie mich einige der anderen Schüler argwöhnisch oder einfach nur neugierig musterten. Mein Herz klopfte wie wild und ich schaffte es einfach nicht, mich zu beruhigen. Es war doch nur eine Highschool wie jede andere auch, mit ganz normalen Leuten, also, sofern man diese Leute normal nennen konnte. Was regte ich mich denn nur so auf? Ich hatte einfach Angst, dass ich keinen Anschluss finden würde oder Ähnliches.
Aber die Schule sah schon mal in Ordnung aus, sie war ein nicht allzu großes, altertümlich wirkendes Backsteingebäude mit mehreren großen Pausenhöfen davor. Ich straffte mich, richtete mich zu meiner vollen Größe auf und marschierte möglichst selbstsicher darauf zu.
Einige tuschelten, als ich vorbeikam, andere bemerkten mich gar nicht. Mum hatte alles abgeklärt und es war mir aufgetragen worden, vor Unterrichtsbeginn im Sekretariat zu erscheinen. Also studierte ich die Wegweiser, die in Form von Straßenschildern direkt hinter dem großen Eingangstorbogen angebracht waren. Ich musste nach rechts, und zwar direkt an der Cafeteria vorbei, die mit ihren großen Fenstern und der riesigen Essensausgabe sehr vielversprechend aussah. Dann ging es durch eine schwere Glastür und ich sah mich dem Sekretariat gegenüber. Ich schloss kurz die Augen und öffnete ich die Tür, die bedrohlich quietschte.
„Hallo?“, fragte ich zaghaft, nachdem ich mich in dem kleinen, mit Bücherregalen übersäten Raum umgesehen hatte.
„Hier hinten“, rief eine Frauenstimme und ich folgte dem Klang um den hell lackierten Holztresen und eine Ecke herum. Auf dem Boden, von einem Stapel Bücher umgeben, saß eine jung wirkende Frau in einem hellroten Blazer und schien die Unmengen an Lesestoff zu sortieren. Als sie meine Schritte hörte, sah sie auf und lächelte, was an ihr wirkte, als würde die Sonne aufgehen, sodass ich gar nicht anders konnte, als zurückzustrahlen.
Sie stand auf, klopfte ihre Hände an der Hose ab, als habe sie im Dreck gearbeitet und nicht im Sekretariat auf dem Teppichboden, und hielt mir dann die rechte hin. „Hallo, freut mich, dich kennenzulernen. Du musst Amber sein, die neue Schülerin, richtig? Ich bin Ms Green und mache hier eine Ausbildung. Wenn du Fragen hast, darfst du dich immer gerne an mich wenden!“
Ich ergriff ihre Hand und schüttelte sie erfreut, weil ich sie wirklich sehr nett fand. „Danke, ja, ich bin Amber, wo muss ich denn jetzt hin?“
Ms Green sah zu mir hoch, sie war fast zwei Köpfe kleiner als ich, und strahlte. „Ach, wie schön, dass du dich erkundigst. Warte, ich gebe dir einfach deinen Stundenplan ... ach, wo hab ich ihn denn?“ Sie wuselte geschäftig durch das enge Büro und kramte in sämtlichen Unterlagen herum, schließlich riss sie triumphierend einen Zettel hoch und schwenkte ihn über dem Kopf wie eine Trophäe. „Hab ihn!“, rief sie freudig und überreichte mir das Blatt.
Ich studierte es kurz und sah auf. „Also, dann muss ich jetzt in den dritten Chemieraum, können Sie mir sagen, wie ich da hinkomme?“ Ms Green zog kurz ihre ordentlich gezupften Augenbrauen zusammen und machte dabei einen äußerst nachdenklichen Eindruck. „Ach, weißt du, ich bringe dich einfach schnell hin, bei Wegbeschreibungen bin ich ganz schlecht.“
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, nickte aber dankbar. Also zog ich mit der jungen Frau los, verließ die beruhigende Sicherheit des Sekretariats und begab mich in die Höhle des Löwen, sinnbildlich zumindest. Meine neuen Mitschüler zumindest warfen uns die unterschiedlichsten Blicke zu. Von belustigt bis hin zu herablassend. Wir mussten aber auch zu komisch aussehen: die missratene, dürre Schülerin, die in der Schuluniform aussah, als hätte sie einen Sack an, in unsicherer, unter den Blicken leicht gebückter Haltung. Und die kleine, etwas pummelige, fröhlich strahlende Sekretärin, die mit, für ihre Größe, beachtlichen Schritten vorausstapfte. Ich wand mich vor Verlegenheit.
Wir bogen um zahlreiche Ecken und ich musste einsehen, dass auch ich diesen Weg, selbst wenn ich ihn unzählige Male gegangen wäre, nicht mit Worten hätte beschreiben können. Insgeheim beschloss ich, mir einen Plan der Highschool zu besorgen, und musste fast kichern bei dem Gedanken, wie es aussehen würde, wenn ich mit einer aufgeschlagenen Karte in der Hand durch die Schulflure laufen würde. Wie eine Touristin auf Expedition vermutlich. Oder wie eine ausgesetzte, orientierungslose Schülerin, die nicht mit den vielen Ecken klarkam. Leider muss ich sagen, dass Letzteres der Wahrheit deutlich näher kam.
Wir bogen noch einmal nach links ab, dann blieb Ms Green endlich stehen. Eigentlich verwunderlich, dass die Schule von außen doch recht klein aussah, mir aber von innen riesig und schrecklich verworren erschien. Ich schnaufte von der Hetzerei, doch Ms Green, die eigentlich viel kürzere Beine hatte als ich, sah aus, als stecke sie voller Power, mit rosigen Wangen und einem mütterlichen Lächeln.
„So, da wären wir auch schon. War mir ein Vergnügen, Amber. Wie schon gesagt, wenn du etwas brauchst, komm einfach zu mir.“ Sie zwinkerte mir noch einmal zu, deutete auf den entsprechenden Raum, weil sie sich wohl nicht sicher war, ob ich mich jetzt allein zurechtfinden würde, und verschwand dann wieder um die Ecke.
Ich stieß seufzend die Luft aus und fragte mich, wie Ms Green zu der Annahme kam, ich würde irgendwann in diesem Leben selbstständig ins Sekretariat zurückfinden.
Dann wandte ich mich zögernd dem angegebenen Raum zu, niemand stand davor, also waren meine zukünftigen Klassenkameraden wohl schon drin. In dem Moment klingelte es zur ersten Stunde und ich hastete los, drückte gehetzt und ohne anzuklopfen die Klinke hinunter, riss in panischer Angst, Ärger wegen meines Zuspätkommens zu kassieren, die Tür auf und sah mich Auge in Auge mit einem Haufen genervt oder müde dreinblickender Schüler und ... Also, das konnte man nicht Auge in Auge nennen, denn die Lider des Lehrers vorne am Pult waren zugefallen, er schlief.
Ich stand mit offenem Mund da und sah so verstört und irritiert aus, dass mich das Prusten und Gelächter aus etwa dreißig Mündern begleitete, als ich jetzt langsam den Raum betrat.
„Äh ...“ Mehr brachte ich nicht raus. Na toll, prima! Ein super Start, um mich beliebt zu machen. „Also, äh, ich bin Amber und neu hier. Ja, also ... äh ... und wie heißt ihr so?“ Als meine kleine Ansprache statt mit einer Antwort mit Getuschel und Gekicher quittiert wurde, warf ich einen prüfenden Seitenblick auf den Lehrer, in der Hoffnung, er sei von dem Lärm wach geworden.
Aber Fehlanzeige, dieser Mann hatte einen Schlaf wie ein Baby. „Also, schläft er immer im Unterricht?“, fragte ich, um unser bisher sehr einseitiges Gespräch in Gang zu bringen.
„Nee, Kleine“, sagte ein Junge in der ersten Reihe, der die Füße auf den Tisch gelegt hatte und mich mit einem anzüglichen Grinsen von oben bis unten musterte.
Ich erschauderte und wand mich, denn es sah aus, als wollte er mich mit Blicken ausziehen, nur um mich dann seinen Mitschülern zum Fraß vorzuwerfen. Aber immerhin hatte jemand etwas gesagt, wenn auch nur zwei Worte.
„Dem haben wir heute Morgen eine ordentliche Ladung Schlaftabletten in den Tee gemischt. Oder glaubst du, dass hier irgendwer Bock auf Unterricht hat, mal abgesehen von dir, Süße?!“
Ich ließ meinen Blick über die Klasse schweifen und gab mir im Stillen die Antwort: Nein, niemand sah besonders schulwillig aus, was mich prompt verwunderte. Gab es hier denn keine Nerds oder Workaholics? Doch, vermutlich schon, denn die gab es ja überall, und die aus meiner neuen Klasse waren höchstwahrscheinlich schon auf dem Weg zum Direktor, um sich zu beschweren, dass gewisse Klassenkameraden dafür gesorgt hatten, dass ihr Lehrer die Stunde verpennte.
Ich wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen, als mein neuer Freund aus der ersten Reihe mir einen genervten Seitenblick zuwarf und seufzte: „Okay, Leute, sieht so aus, als würde die Kleine sich nicht damit zufriedengeben, dass der Kerl im Koma liegt. Also, bevor sie jetzt noch anfängt zu meckern, stellen wir uns eben alle mal vor.“ Er wandte sich mit einem herablassenden Grinsen an mich. „Also, mein Name ist Floyd, Mylady!“ Er sagte das mit so viel Spott in der Stimme, dass er mir nur noch unsympathischer wurde. Nun drehte er den Kopf wieder zu den anderen. „Und jetzt seid ihr dran, macht schon!“
Und so verbrachten wir die nächsten zehn Minuten damit, dass alle sich mir vorstellten, was zur Folge hatte, dass die Namen, sobald ich den nächsten gehört hatte, schon wieder vergessen waren. Nur Floyds merkte ich mir, leider. Als wir fertig waren, schlief der Chemielehrer, der mir netterweise auch vorgestellt worden war, und zwar als Mr Johnson, immer noch.
Die Schulwilligen dieser Klasse waren noch immer im Direktorat und ich stand noch immer unschlüssig vorne an der Tafel. Doch mit einem Mal ging die Tür auf. Völlig ohne Eile trat ein schlankes Mädchen ein, um dessen Kopf eine gewaltige rotbraune Lockenmähne wogte. Die Schülerin warf einen desinteressierten Blick in die Menge, dann huschten ihre Augen kurz zum Lehrerpult und sie schaffte es, mitleidig und schadenfroh gleichzeitig auszusehen. Dann erst entdeckte sie mich und grinste kurz, ganz so als wären wir alte Freundinnen, und ich lächelte überrascht zurück. Im Nachhinein denke ich, dass ihr Grinsen eher „Willkommen im Club der Idioten, die einem Lehrer Tabletten unterjubeln, damit er im Unterricht einschläft!“ bedeuten sollte. Aber in dem Moment hoffte ich einfach, dass es wenigstens irgendwen in dieser Klasse gab, dem ich ein bisschen sympathisch erschien.
Von meiner Seite aus war es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick, das Mädchen mit den Kringellocken und dem schiefen Grinsen zog mich sofort in seinen Bann und ich wünschte mir mit einer solchen Heftigkeit, dass wir Freundinnen werden würden, dass ich selbst überrascht war.
Floyd jedoch verzog nur spöttisch seine Lippen. „Ach, da ist ja auch das Mädchen, das sich nicht auf den Pausenhof traut ohne ihren Bodyguard an der Seite. Chloe, meine Liebste, willst du dich nicht unserer neuen Mitschülerin Amber vorstellen?“
Chloe sah mich aufmunternd an und verdrehte die Augen. „Floyd, das würde ich ja tun, aber ich denke, da bist du mir soeben zuvorgekommen. Und was meinen Bodyguard betrifft, wie du ihn nennst, du selbst bräuchtest mehr als nur einen von der Sorte, wenn du dich ihm in den Weg stellst. Aber sag mir Bescheid, wenn es so weit ist, das würde ich wirklich zu gern mit ansehen!“
Floyd starrte sie böse an und wollte gerade auf sie losgehen, als es zum Stundenschluss läutete.
„Ohooohhhoooo, immer langsam mit den jungen Pferden“, sagte Chloe in beschwichtigendem Tonfall und mit erhobenen Händen, aber auf ihren zarten Lippen ruhte ein gewinnendes Lächeln, bevor sie herumwirbelte und aus dem Zimmer rauschte.
„Ach schade“, dachte ich, „ich hätte Mr Johnson wirklich gerne kennengelernt.“ Dann stürmte auch ich aus dem Raum.
Sobald ich die Tür aufgerissen hatte, sah ich mich erst nach rechts und dann nach links um, nur um Chloe gerade noch um die nächste Ecke verschwinden zu sehen. Ich stolperte fast über meine eigenen Füße, als ich ihr hinterherhastete, und kam mir albern vor. Chloe war in meiner Klasse, spätestens in der nächsten Stunde würde ich sie ohnehin wiedersehen. Aber halt, ohne sie würde ich gar nicht erst den Weg zum nächsten Klassenzimmer finden, also war es quasi überlebenswichtig für mich, sie einzuholen.
Ich hetzte um die Ecke und keuchte. „Warte!“, rief ich Chloe zu, die weitermarschiert war, ohne mich zu bemerken. Ich hielt mir ächzend die Seite. „Verdammt, komm zurück!“, schrie ich und endlich, endlich drehte sie sich zu mir um.
Als sie mich bemerkte, wie ich schwer atmend am anderen Ende des Ganges stand, musste sie grinsen, kam aber sofort zurück zu mir. „Hey“, sagte sie und musterte mich eingehend. „Du bist also neu hier. Amber, richtig?“
„Ja.“ Ich nickte und wagte ein zaghaftes Lächeln.
„Die Schuluniform steht dir ausgezeichnet“, meinte sie mit einem anerkennenden Nicken und ich hob erstaunt die Augenbrauen. Ausgerechnet mir sollte diese Uniform stehen? Ich war so baff, dass ich keinen Ton rausbrachte.
Sie plapperte unterdessen weiter mit diesem Dauergrinsen im Gesicht, das wie festgefroren wirkte. Schließlich, während wir gemächlich nebeneinanderher durch die Gänge schlenderten, Richtung Musiksaal, wie Chloe erklärt hatte, richtete sie sich mit einer Frage an mich: „Und was hat dich hierher verschlagen?“
Ich seufzte und zuckte mit den Achseln. „Ehrlich gesagt weiß ich das auch nicht so genau ...“ Chloe schaute verwundert, wartete aber, weil sie wohl dachte, da würde noch was kommen. Ich tat ihr den Gefallen. „Meine Eltern hatten genug vom Großstadtleben und meinten deshalb, an den Arsch der Welt ziehen zu müssen.“
In Chloes Augen spiegelten sich Belustigung und ein Hauch Interesse wider. „Großstadt?“, fragte sie und konnte den Neid in ihrer Stimme nicht verbergen.
Ich nickte und sagte achselzuckend: „Ja, ich hab mein ganzes Leben in London verbracht.“
„LONDON?!“ Chloe war stehen geblieben und hatte die Augen weit aufgerissen. Es war deutlich zu erkennen, dass sie mich darum beneidete, wo ich aufgewachsen war.
Jetzt grinste ich. „Ja, aber wie du siehst, jetzt bin ich hier und wünsche mir genau wie du, dort sein zu können. Glaub mir, ich hätte alles gegeben, um in London zu bleiben!“ Doch noch während ich das aussprach, wusste ich, dass es nicht mehr stimmte, denn Chloe war hier und sie war jemand Besonderes, das war mir völlig klar. Ich mochte sie und jetzt, wo ich sie kennengelernt hatte, wollte ich die bevorstehende Freundschaft mit ihr nicht aufgeben.
Aber das war es nicht allein, gute Freundinnen hatte ich schließlich auch in London gehabt, es lag etwas in der Luft, seit Chloe aufgetaucht war, auch wenn ich absolut sicher war, dass nicht sie der Auslöser dafür war. Etwas, das mir eine Gänsehaut über die Arme kriechen ließ, und dieses Empfinden wurde immer stärker. Sowohl während des Musikunterrichts, den die ältliche Mrs Harrison gab, als auch auf dem anschließenden Weg zum Pausenhof.
Als ich schließlich die Tür aufgestoßen hatte und wir im Freien standen, war das Gefühl am stärksten. Ich schaute mich unbehaglich um. Plötzlich fingen zwei schwarze Augen von der anderen Seite des Schulhofs her meinen Blick auf und es traf mich wie ein Blitz. Für diesen einen Augenblick stand die Zeit still ...