Читать книгу Acevado - Wann bleibst du? - Jule Heer - Страница 9
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Wenn ich eines gelernt habe in Bezug aufs Schreiben, dann ist es, dass das Schwerste immer der Anfang einer Geschichte ist. Man kann auf unterschiedlichste Arten zu erzählen beginnen, entweder mit „Es war einmal ...“ oder mittendrin ins Geschehen einsteigen. Oder man macht es wie ich und erklärt, wie schwer es ist, einen Anfang zu finden.
Wieso ich das tue? Vielleicht, damit ihr Verständnis habt, vielleicht aber auch nicht.
Ich heiße Amber Black und am Anfang meiner Geschichte war ich 16 Jahre, 4 Monate und 23 Tage alt und befand mich irgendwo zwischen London und Rain Village in einem für mein Gefühl eindeutig zu großen Lastwagen. Was ich dort zu suchen hatte? Ich war im Begriff, mit meinen Eltern umzuziehen. In den besagten Ort Rain Village, schon der Name ließ in mir, aus einem unerfindlichen Grund, die Befürchtung hochsteigen, dort würde es den ganzen Tag nur regnen. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wieso wir wohl unsere Siebensachen gepackt und eine der schönsten Hauptstädte Europas verlassen haben, um in irgendein Kaff am Ende der Welt aufzubrechen. Tja, das frage ich mich selbst bis heute noch. Denn weder hatten meine Eltern berufliche Gründe für den Umzug noch hatten wir ein Haus geerbt oder beschlossen, ab jetzt bei Verwandten zu wohnen.
Nein, die Begründung meiner Eltern hierfür war, dass sie einfach mal etwas anderes bräuchten als das anstrengende Stadtleben. Also musste ich meine Freunde, die Schule, mein Leben aufgeben, weil meine Eltern nach 30 Jahren in London gemerkt hatten, dass die Großstadt eigentlich nichts für sie war.
Ich denke, man merkt, wie sauer und schockiert ich damals über diese Entscheidung war, und ich weiß nicht, ob sich daran etwas geändert hätte, wenn ich gewusst hätte, wie sehr sich mein Leben dadurch verändern würde. Ja, dass mich dieser Umzug komplett aus der Bahn werfen und meine Vorstellungen von einem normalen Leben völlig auf den Kopf stellen würde. Und was wäre gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass diese Entscheidung meiner Eltern mich zur Liebe meines Lebens führen und mich dazu zwingen würde, mit all meiner Kraft um diese zu kämpfen?
Als wir in Rain Village ankamen, schien die Sonne. Kein Regen in Sicht. Mein Dad besah sich den wolkenlosen Himmel und stieß einen Pfiff aus. „Wow, dieses Rain Village sollte Sun Village genannt werden, so gutes Wetter war in London in den letzten zehn Jahren nicht!“
Ich warf ihm einen spöttischen Blick zu und merkte verärgert, dass ich mir trotz meiner miesen Stimmung ein Lächeln nicht verkneifen konnte. „Und woher willst du wissen, dass das hier nicht auch der Fall war? Vielleicht ist die Sonne heute ausnahmsweise mal rausgekommen, um die ersten Zugezogenen seit zwei Jahrhunderten nicht gleich wieder zu vergraulen.“
Dad quittierte das mit einer grimmigen Miene, wie immer, wenn ich ihm Kontra gab. Mum schaute unterdessen mit verkniffenem Gesicht auf die vor ihr ausgebreitete Landkarte, heftig bemüht, die Stimme des Navigationsgerätes zu ignorieren, die ihr eindringlich versuchte klarzumachen, dass sie rechts abbiegen müssten. Trotz heftiger Proteste ihrerseits hatte Dad es sich nicht nehmen lassen, sein heiß geliebtes Navi die ganze Fahrt über quatschen zu lassen. Was den eher negativen Effekt hatte, dass Mum alles, was die liebreizende Frauenstimme von sich gab, anzweifelte, es sei denn, ihre Karte stimmte rechtzeitig zu, aber da diese nicht sprechen konnte, war das selten der Fall.
Das war der Grund dafür, dass wir auf der Autobahn eine Ausfahrt zu spät genommen hatten und uns einem noch längeren Herumgegurke auf dem Land ergeben mussten. Auch die Navitante war von der Wahl dieser Route außerordentlich schockiert und sagte erst mal nichts mehr.
„Mum, ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber ich glaube, wir hätten da rechts abbiegen müssen“, sagte ich mit einem Blick auf die Karte.
Dad grinste triumphierend, es stand jetzt 9:0 für ihn und sein Navi. Um zu beweisen, dass sein technisches Instrument absolut nötig und unentbehrlich war, folgte er brav den Anweisungen meiner Mum und fuhr stets in die von ihr angegebene Richtung.
Doch sie tat, als würde sie ihren Fehler nicht bemerken, und sagte: „Ja, Schätzchen, das weiß ich doch, aber auf diesem Weg sehen wir gleich ein bisschen mehr vom Ort und ich dachte, das könnte ganz interessant für uns sein, hm?!“
Ich musste alle Mühe aufbringen, um nicht lauthals loszulachen, und auch Dad sah belustigt aus. Aber Mum hielt weiterhin daran fest, sie hätte uns mit Absicht einen Umweg fahren lassen.
Schließlich kamen wir jedoch an unserem Ziel an und ich stand mit offenem Mund vor dem Traumhaus, das Mum uns angepriesen hatte. Ich fand wirklich viele Bezeichnungen für diese Ruine, aber ganz sicher war das Wort Traumhaus nicht unter ihnen. Doch um Mum nicht ihre Euphorie, mit der sie verträumt unseren neuen Wohnsitz bewunderte, zu rauben, sprach ich meine Gedanken nicht aus.
Dad hingegen tat es: „Das ist kein Traumhaus, das ist eine Bruchbude!“ Er sagte das mit einem Lachen in der Stimme, aber auf sein Gesicht trat ein gequälter Ausdruck bei dem Gedanken, in Zukunft hier zu wohnen.
Mum zuckte bei seinen Worten kurz zusammen, hatte sich aber schon wieder gefangen, als sie sprach: „Ach, es stimmt vielleicht, es gibt am Haus die ein oder andere Sache zu reparieren, aber da wir zu dritt sind, dürfte das doch locker zu schaffen sein! Wir müssen halt alle mit anpacken.“
Dad warf mir einen verzweifelten Blick zu und mir drehte sich bei dem Gedanken, dieses Haus auf Vordermann zu bringen, fast der Magen um. Allein schon der Garten war ein regelrechter Urwald aus Unkraut und ich erinnerte mich mit einem Schaudern an mein Praktikum beim Gärtner im letzten Jahr. Dabei sahen die Gärten, in denen wir zu tun hatten, nicht mal halb so verkommen aus wie dieser hier. An der Hausfassade war der Putz teilweise abgeblättert, also ließ sich vermuten, dass eine komplett neue Verkleidung nötig sein würde. Und nur um das mal zu betonen: Dieses Haus war vieles, aber klein ganz sicher nicht.
Ich war nun gespannt, wie es innen aussah, also wandte ich mich an Mum und schlug vor: „Lass uns doch mal reingehen, hast du den Schlüssel?“
Eine schlechte Idee, wie sich herausstellte, denn Mr Lord, der Vermieter, wollte persönlich vorbeikommen, uns begrüßen und den Schlüssel übergeben. Ich fand das durchaus mutig, wenn man bedachte, dass eine normale Familie sofort den Mietvertrag gekündigt und einen Abflug gemacht hätte. Aber wir waren nun mal keine normale Familie und vielleicht hatte Mr Lord das schon geahnt, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass sich jemand halbwegs Gescheites auf seine Anzeige gemeldet hätte. Diese war nämlich mit Bild gewesen. Da Mum sich nicht informiert hatte, wo dieser Herr denn wohnte, konnten wir nichts anderes tun, als uns auf die Bank im Vorgarten, die unter unserem Gewicht bedenklich knarrte, zu setzen und darauf zu warten, dass er selbst hier antanzte.
Als er schließlich kam, stöhnte er erst mal ausgiebig und wandte sich dann uns zu. „Das ist vielleicht immer eine Tortur bis hierher, puh! Gut, dass meine alte Rosie es noch macht. Aber den Weg hat sie sich auch nicht merken können.“
„Ihre ... äh ... Frau?“, fragte ich verwirrt nach und sah mich nach ihr um.
Mr Lord prustete scheppernd los, es klang eingerostet, als wäre es viele, viele Jahre her, dass er das letzte Mal gelacht hatte. „Nein, die ist schon seit über zehn Jahren tot“, sagte er und wurde schlagartig ernst. „Rosie ist mein Auto, wenn die den Geist aufgibt, beweg ich mich auch nicht mehr weiter als bis zum nächsten Supermarkt.“ Er lächelte gedankenverloren, aber irgendwie sah es unendlich traurig aus. Wie schlimm es sein musste, wenn das Auto einem auf der Welt am vertrautesten war und man über es redete, als wäre es ein Mensch.
Mr Lord fuhr sich mit einer schwungvollen Bewegung durch das kinnlange graue Haar, wie um sich daran zu erinnern, mit wem er da sprach. „Aber ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt: Ich bin Oscar. Ich denke, es ist in Ordnung, wenn wir uns duzen, oder? Ach, es ist gut, mal wieder hier zu sein, das ist schon so lange her. Wie gesagt, Rosie und ich, wir haben uns beide nicht mehr an den Weg erinnert. Aber jetzt sind wir ja da. Ja, ja, die gute alte Betty! Hätte nicht gedacht, dass ich die noch mal wiedersehe, nein, das hätte ich wirklich nicht geglaubt. Aber nun zu Ihnen ... ach, wir wollten uns ja duzen. Wie heißt ihr denn überhaupt?“
Mum, die ein bisschen überfordert von Oscars Redeschwall zu sein schien, musste das Gesprochene erst mal verarbeiten. Doch Dad streckte sofort eine Hand aus und stellte sich vor: „Mein Name ist Owen, das“, er deutete mit einer Handbewegung auf Mum, „ist meine liebreizende Frau Evelyn und die süße Kleine dort“, jetzt zeigte er auf mich, „ist meine Lieblingstochter Amber.“
Ich warf Dad einen vernichtenden Blick zu, den er aber nicht weiter beachtete. Er sah immer noch zu Oscar, die Hand weiterhin ausgestreckt, doch dieser schien durch ihn hindurchzustarren. „Amber ...“, hauchte der alte Vermieter bloß mit kaum hörbarer Stimme und ein Schauer lief mir über den Rücken. Was wollte der denn jetzt? Er schüttelte plötzlich heftig den Kopf und sein Blick wurde wieder klar. „Oh, entschuldige mich, Owen, Sie ... äh, du darfst mich gar nicht beachten, ich bin nur ein einsamer, alter Mann. Weißt du, meine Frau hieß auch Amber.“ Endlich packte er Dads Hand und schüttelte sie, dann grinste er verschwörerisch und zog ein blaues Band aus seiner Hosentasche, an dem ein Schlüssel baumelte. „Dann wollen wir mal schauen, wie sich Betty so gehalten hat, was?“
Ich ging mal davon aus, dass Betty das Haus war, und konnte mir nun doch ein Grinsen nicht verkneifen.
Mum war natürlich begeistert und ich musste zugeben: Schlecht sah Betty von innen wahrlich nicht aus. Während Mum anfing, mit Mr Lord alias Oscar über dieses und jenes zu plaudern, sah ich mich in Ruhe um.
Direkt hinter der Haustür befand sich eine größere Eingangshalle mit dicken, verstaubten Vorhängen vor den Fenstern und gigantischen Wandgemälden. Auf der gegenüberliegenden Seite führte eine breite hölzerne Wendeltreppe nach oben, die über und über mit Schnörkeln und anderen Verzierungen versehen war. Nachdem ich einen kurzen Blick in die herrschaftlich wirkende Küche, die zwei lichtdurchfluteten Arbeitszimmer und das Badezimmer geworfen hatte, ging ich die wunderschöne Treppe nach oben und fühlte mich dabei erhaben wie eine Königin.
In London hatten wir eine winzige Wohnung im 7. Stock gehabt, nicht, dass sie nicht schön und gemütlich gewesen wäre, aber das hier haute mich einfach um. Oben war gleich links das erste Zimmer, daneben ein weiteres Badezimmer, diesmal größer und sogar mit Badewanne. Ich konnte ein entzücktes Aufseufzen nicht vermeiden. Dann ging ich zurück in den langen Flur, der von Wandteppichen, die ebenfalls ziemlich staubig waren, geschmückt wurde. Eigentlich wollte ich mir erst noch die anderen Zimmer ansehen, doch es war, als spürte ich, dass das am anderen Ende des Flurs meines war.
Ich lief wie ferngesteuert darauf zu, öffnete die schwere Holztür ... und atmete geräuschvoll aus. Das war es, ich würde mit allen Mitteln dafür kämpfen, dass dies mein Zimmer wurde. Das mag vielleicht ein bisschen übertrieben klingen, aber ich hätte einiges für einen solch wunderschönen, nur mir allein gehörigen Raum gegeben.
Ich sah schon vor mir, wie ich in der Mitte zwischen den beiden monströsen Holzsäulen, die wohl das Dach stützten, mein Bett aufstellen würde, auf drei Seiten von Fenstern umgeben. Mein Schreibtisch würde unter einem von ihnen Platz finden, dem in der Dachschräge, sodass ich beim Lernen perfektes Licht von oben bekäme.
Diese Vorstellung überwältigte mich unversehens, sodass ich völlig vergaß, dass ich eigentlich sauer auf meine Eltern war, weil sie mich gezwungen hatten, mein Leben aufzugeben. Es war klar, dass ich mich damit würde abfinden müssen, hier ein neues zu beginnen.