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Eine Verordnung des Gouverneurs
ОглавлениеNischnij-Nowgorod, am Zusammenfluss von Wolga und Oka gelegen, ist die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements.
Michael Strogoff musste von nun an auf den Schienenweg verzichten, denn hier endete die Bahnlinie. Je weiter östlich der Kurier des Zaren auf seiner Reise gelangte, desto langsamer und unzuverlässiger wurden die Beförderungsmittel.
Nischnij-Nowgorod hatte etwa 35 000 Einwohner, beherbergte aber zur Messe die zehnfache Menschenzahl in seinen Mauern. Die sonst recht düstere und stille Stadt war jetzt von einem lebhaften Menschengetümmel erfüllt. Kaufleute aller europäischen und asiatischen Rassen suchten hier miteinander Geschäfte zu machen.
Michael Strogoff hatte erst zu vorgeschrittener Abendstunde das Bahnhofsgebäude verlassen können. Trotzdem herrschte noch großes Gedränge in der Stadt, die von der Wolga in zwei Hälften getrennt und im oberen, auf einem Felsen gelegenen Teil von einer jener Festungen beschützt wird, die in Russland »Kreml« heißen.
Hätte Michael Strogoff länger in Nischnij-Nowgorod bleiben wollen und eine Herberge finden müssen, wäre er in Schwierigkeiten geraten; alle Hotels waren überfüllt. Er konnte aber auch nicht augenblicklich weiterreisen, sondern musste auf den Abgang des nächsten Wolgadampfers warten und wohl oder übel irgendein Nachtlager finden. Vorher wollte er jedoch die genaue Abfahrtszeit des Bootes bei der Schifffahrtsgesellschaft erkunden, die den Verkehr zwischen Nischnij-Nowgorod und Perm versah.
Dort erfuhr er, dass die ›Kaukasus‹, das nächste reisefertige Schiff, erst gegen Mittag des folgenden Tages abgehen sollte. Das war schlimm für einen Mann, der es eilig hatte; aber Michael Strogoff musste sich mit dieser Tatsache abfinden, und er fand sich damit ab, denn er pflegte nie über Unabänderliches zu jammern. Und eines wusste er: kein Fuhrwerk, keine Postkutsche und kein Pferd konnten ihn schneller als das planmäßige Schiff nach Perm bringen.
Er schlenderte also durch die Straßen und suchte ohne besondere Eile ein Unterkommen für die Nacht. Mehr als nach einem Nachtlager sehnte er sich jetzt allerdings nach einer kräftigen Abendmahlzeit. Er fand schließlich beides unter dem Wirtshausschild der »Stadt Konstantinopel«. Der Wirt wies ihm ein Zimmerchen an, das zwar nur dürftig möbliert war, aber den üblichen Wandschmuck hatte, nämlich Bilder der Jungfrau Maria und anderer Heiliger, die von goldfarbenem Stoff gerahmt waren. Bald wurde auch das Essen aufgetragen. Die üppige Mahlzeit bestand aus gefülltem Entenbraten, eingedickter Soße, saurer Milch, Gerstenfladen und einem Krug Kwass, dem russischen Nationalgetränk. Michael Strogoff langte weit kräftiger zu als sein Tischnachbar, der zur Sekte der »Altgläubigen« gehörte und wegen seiner Enthaltsamkeitsgelübde weder Kartoffeln essen noch den Tee süßen durfte.
Nach beendigter Mahlzeit nahm Michael Strogoff den unterbrochenen Stadtrundgang wieder auf. Obwohl die Dämmerung in diesen Breiten lange anhält, suchten die Messegäste jetzt doch die Quartiere auf, und die Straßen verödeten.
Warum war der Kurier nach dem anstrengenden Reisetag nicht endlich zu Bett gegangen? Hatte er noch immer die junge Livländerin aus seinem Zugabteil im Sinn? Ja, er dachte dauernd an sie, zumal er im Augenblick nichts Besseres zu tun wusste. Er fürchtete, dass sie, so ganz allein, Belästigungen ausgesetzt sein könnte. Hoffte er etwa, sie zu treffen und ihr seine Hilfe anbieten zu dürfen? Nun, zu dieser Stunde war eine Begegnung kaum zu erwarten, und mit welchem Recht konnte er ihren Beschützer spielen?
Ein Gedanke beschäftigte ihn dauernd. Er selbst unternahm die gefährliche Reise nach Irkutsk im Auftrage des Zaren. Doch für wen, zu welchem Zweck, unternahm sie das Wagnis? Sicher hatte sie den Plan zur Reise schon vor dem Tatareneinfall gefasst. Wusste sie nicht, was dort vorging? Andererseits schien sie bei den Gesprächen der Kaufleute über die Unruhen in Sibirien nicht im Mindesten betroffen zu sein. Also hatte sie davon schon gehört und trotzdem den Reiseplan nicht aufgegeben. Doch bei aller Entschlossenheit konnten ihre Kräfte kaum den Anstrengungen und Gefahren eines solchen Unternehmens gewachsen sein. Nein, nie würde sie in Irkutsk ankommen! Michael Strogoff schlenderte aufs Geratewohl weiter, bis sich die Straßen zu einem großen Platz weiteten. Dort ließ er sich auf einem Bänkchen nieder, das hinter einer der zahlreichen Holzbuden stand. Plötzlich fiel eine schwere Hand auf seine Schulter.
»Willst du dich die ganze Nacht hier herumtreiben?«, fragte ein riesengroßer Kerl mit rauher Stimme.
»Ich ruhe mich aus, und wenn es mir passt, auch die ganze Nacht!«, erwiderte Michael Strogoff in einem etwas hochmütigen Ton, der nicht ganz zu seiner einfachen Aufmachung passte.
»Komm ins Licht, ich will dich mal ein bisschen ansehen!«, knurrte der Mann.
Michael Strogoff fiel augenblicklich ein, dass er ständig auf der Hut vor Entdeckung seiner wahren Person sein musste. So trat er einen Schritt zurück ins Dunkle. Dabei entging seinem scharfen Auge nicht, dass er es mit einem jener Zigeuner zu tun hatte, die sich auf allen Märkten herumtreiben, um irgendwie ein paar Kopeken zu ergaunern. Es sah so aus, als wollte der Kerl handgreiflich werden. Da öffnete sich die Tür des nächsten Wohnwagens, und eine Frau schrie in einer Mischung aus mongolischem und sibirischem Dialekt:
»Wieder so ein Spion! Lass ihn bloß sitzen und komm essen!«
Michael Strogoff, der selbst noch diese grobe Sprachenmischung verstand, musste ein wenig lachen. Ausgerechnet ihn hielt man für einen Spion, ihn, der vielleicht schon von Spionen verfolgt wurde! Dann horchte er auf. Der Zigeuner antwortete jetzt der Frau: »Schon gut, Sangarra. Morgen sind wir doch nicht mehr hier.«
»Morgen schon?« Die Stimme der Frau verriet Überraschung.
»Ja, Sangarra. ›Väterchen‹ schickt uns fort – dahin, wo wir sowieso hingehen wollten.«
Nach diesen Worten fiel die Wagentür zu. Michael Strogoff dachte nicht allzu viel über die geheimnisvolle Rede des Zigeuners nach und machte sich auf den Rückweg zur Herberge. Er erkannte jetzt an der großen Zahl der Buden und Wagen, dass er sich auf dem Hauptmarkt von Nischnij-Nowgorod befunden hatte. Auch die Wolga, deren Lauf er nun folgte, war hier so dicht mit Booten aller Art bedeckt, dass man kaum noch das Wasser sah. In der Herberge sank er sofort aufs Bett, das einem Ausländer recht hart vorgekommen wäre. Erst spät am anderen Morgen erwachte er aus unruhigem Schlaf.
Während der fünf Stunden bis zur Abfahrt des Dampfers wollte sich Michael Strogoff noch einmal das Messetreiben von Nischnij-Nowgorod ansehen, übertraf doch die Stadt zu jener Zeit an Bedeutung noch Leipzig! Zunächst aber vergewisserte er sich an der Dampferanlegestelle, dass die ›Kaukasus‹ auch zur angegebenen Zeit abgehen werde. Dabei kam ihm der Gedanke, dass die junge Livländerin höchstwahrscheinlich dasselbe Schiff benutzen musste; denn auch sie hatte als nächste Reiseetappe Perm angegeben.
Der obere Stadtteil von Nischnij-Nowgorod war jetzt seltsam verödet; dafür barst die Unterstadt vor Leben. Sogar der Gouverneur hatte seinen Sitz im Kreml oben verlassen, um höchstpersönlich von seinem provisorischen Palast im Hauptmessegelände aus den Handel und das nicht immer gesetzmäßige Treiben der Zugereisten zu überwachen. Die Ebene war vollkommen bedeckt mit Holzbuden und Kaufständen jeglicher Art, und in den breiten Gängen dazwischen flutete die Menschenmenge unaufhörlich auf und ab. Die verschiedenen Handelszweige waren übersichtlich in Gruppen geordnet, so dass man vom Wollwaren- zum Rauchwarenviertel, vom Eisenwaren- zum Holzwarenviertel und immer so fort überwechseln konnte. Es gab merkwürdige Dinge zu sehen: Manche Kaufleute hatten ihre Teekistchen oder Rauchfleischstücke wie Ziegelsteine zu richtigen Gebäuden aufgetürmt, und sie versuchten mit dieser amerikanischen Reklameart besonders viele Käufer anzulocken.
Träger, Kamele, Esel, Boote und Fuhrwerke, was immer eine Last tragen konnte, war zum Warentransport angestellt. Russen, Sibirier, Deutsche, Perser, Chinesen, kurz Vertreter aller europäischen und asiatischen Völker redeten aufeinander ein, stritten und feilschten miteinander. Alle nur erdenklichen Waren aus Europa, Asien und sogar Amerika wurden feilgeboten. Kaschmirtücher, türkische Teppiche, kaukasische Waffen, Schweizer Uhren, Samt und Seide aus Lyon, Baumwollstoffe aus England, Pelze, Edelsteine, selbst Früchte und Arzneien waren hier in unvorstellbaren Mengen aufgehäuft.
Der Lärm, den Händler, Käufer und Zuschauer veranstalteten, spottete jeder Beschreibung. Er wurde aber noch übertönt vom Spektakel der umherziehenden Sänger, Tänzer, Wahrsager und Akrobaten, die das Volk mit Ausrufern und Musik zu ihren Vorstellungen lockten. Ein Chor angeblicher Wolgaschiffer hockte auf dem Boden und ahmte während des Singens die rhythmischen Bewegungen der Ruderer nach.
In den Gängen zwischen den Kaufständen zogen Bärenführer mit ihren Tieren umher, und aus den Käfigen der Zirkusleute drang das Wutgeheul gequälter Kreaturen, die gerade die Peitsche oder das rotglühende Eisen zu spüren bekamen.
Plötzlich stiegen, gleich einer Wolke, über den Köpfen der Menschenmenge mit befreitem Gezwitscher Hunderte von Vögeln auf. Man hatte die Tiere in kleinen Käfigen zur Messe gebracht und öffnete nun ihre Gefängnisse gegen einige Kopeken, die von mitleidigen Seelen gespendet wurden.
Wir müssen noch erwähnen, dass sowohl England wie auch Frankreich diese Messe mit je einem Musterexemplar ihrer Zivilisation beschickt hatten. Die Herren Blount und Jolivet hatten sich hier eingefunden, um zur Unterhaltung ihrer Leserkreise Stoff zu sammeln. Beide waren fleißig am Werk, denn ihnen blieben nur wenige Stunden bis zur Abfahrt der ›Kaukasus‹, auf der auch sie Plätze gebucht hatten. Sie waren nicht sonderlich erstaunt, einander hier in diesem Jagdrevier zu begegnen, wechselten aber kein Wort miteinander, sondern beschränkten sich auf einen knappen Gruß.
Alcide Jolivet war Optimist. Er glaubte berichten zu können, dass die Messe zur allgemeinen Zufriedenheit verliefe. Der Zufall hatte ihm obendrein eine angenehme Herberge mit reicher Tafel beschert, so dass er für die Stadt Nischnij-Nowgorod recht lobende Worte fand.
Harry Blount dagegen war es böse ergangen. Zunächst hatte er sich vergeblich um ein Abendessen bemüht und schließlich unter freiem Himmel übernachten müssen. Kein Wunder, dass er einen grollenden Artikel über diese Stadt plante, in der die Wirte Fremde von den Türen wiesen, Gäste, die ohnehin schon bereit wären, sich für eine Unterkunft »physisch und moralisch misshandeln« zu lassen.
Michael Strogoff dagegen schien dem Messetreiben völlig gelassen, fast gleichgültig zuzuschauen. Er schlenderte umher, hatte eine Hand in der Tasche stecken und hielt mit der anderen die lange Pfeife. Doch ließen seine zusammengezogenen Brauen erkennen, wie sehr er seine innere Ungeduld zügeln musste. Zwei Stunden lief er nun schon durch die Stadt und kehrte, fast gegen seine Absicht, immer wieder zum Messeplatz zurück. Dabei entging ihm nicht, dass allmählich jene Kaufleute von Unruhe ergriffen wurden, deren Handelspartner aus Zentralasien stammten. Mochten die Taschenspieler und Seiltänzer ihr Treiben fortsetzen, ihre Geschäfte waren mit keinem Wagnis verbunden; der Handel aber erlahmte sichtlich unter dem Eindruck des Tatareneinfalls in Sibirien.
Noch eines fiel dem Beobachter auf: In Russland gibt es Uniformen an jedem Ort, bei jeder Gelegenheit, und natürlich pflegten auch auf der Messe von Nischnij-Nowgorod Soldaten, Polizisten und Kosaken in großer Zahl für Ordnung zu sorgen. An diesem Morgen aber waren sie aus dem Stadtbild verschwunden. Man hielt sie in den Kasernen zurück.
Dafür gab es umso mehr Offiziere, die in großer Eile Botschaften aus dem Gouverneurspalast in alle Himmelsrichtungen trugen. Immer neue Stafetten jagten von Wladimir heran, wurden zum Ural hin weitergeleitet. Unaufhörlich wechselten die Depeschen zwischen Moskau und St. Petersburg. Die Lage Nischnij-Nowgorods so nahe der sibirischen Grenze erforderte besondere Vorsichtsmaßnahmen. Man hatte nicht vergessen, dass die Stadt im 14. Jahrhundert zweimal Beute jener Tataren gewesen war, deren Nachkommen jetzt unter der Führung Feofar-Khans durch die Kirgisische Steppe heranjagten.
Der Polizeipräfekt teilte die Last der Arbeit mit dem Gouverneur. Tag und Nacht mussten seine Beamten Dienst tun und den Stadtbewohnern und Fremden, die die Büros belagerten, Auskünfte erteilen. Michael Strogoff war gerade wieder einmal auf dem Hauptmesseplatz angekommen, als sich das Gerücht verbreitete, der Polizeipräfekt sei dringend zum Gouverneur gerufen worden. Bald danach hieß es, eine ungewöhnliche Verordnung solle bald verkündet werden; es gab Mutmaßungen aller Art.
»Die Messe soll geschlossen werden!«, meinten die einen.
»Das Regiment Nischnij-Nowgorod muss sicher ausrücken«, vermuteten andere – »Die Tataren stehen schon vor Tomsk!«, wussten wieder andere zu melden. – »Der Polizeipräfekt kommt!«, erscholl es plötzlich von allen Seiten.
Lautes Geschrei erhob sich, verebbte aber bald und machte lautloser Stille Platz. Jeder spürte, dass gleich eine schwerwiegende Verordnung bekannt gemacht werden musste. Eine Abteilung Kosaken begleitete den Polizeipräfekten und bahnte ihm mit rücksichtslosen Stößen den Weg durch die Menge.
Schließlich hatte der hohe Beamte die Mitte des Messeplatzes erreicht, und die Umstehenden konnten sehen, dass er ein Papier in der Hand hielt.
Endlich verlas er mit erhobener Stimme den Inhalt des Schreibens: »Verordnung des Gouverneurs von Nischnij-Nowgorod:
1 Kein russischer Untertan darf das Land verlassen.
2 Alle Fremden asiatischer Herkunft haben das Land binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen.«