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Von Moskau nach Nischnij-Nowgorod
ОглавлениеVor Michael Strogoff lag ein Reiseweg von nicht weniger als 5523 Kilometern. Früher, als es noch keinen Telegraphendraht zwischen dem Ural und der ostsibirischen Grenze gegeben hatte, war der Depeschendienst ausschließlich von Kurieren besorgt worden. Selbst wenn man diesen Boten die besten Transportmittel zur Verfügung stellte, brauchten die allerschnellsten achtzehn Tage für die Strecke von Moskau nach Irkutsk; die meisten aber benötigten vier bis fünf Wochen.
Da Michael Strogoff weder Frost noch Schnee fürchtete, wäre er lieber zur kalten Jahreszeit gereist. Er hätte dann für die gesamte Reisestrecke den Pferdeschlitten benutzen können. Im Winter sind die mannigfachen Hindernisse, die das Fortkommen in Sibirien schwer machen, durch die hohe Schneedecke beseitigt. Kein Wasserlauf verlegt den Weg, und der Schlitten kann über die glatten Eisflächen nur so dahinfliegen. Natürlich bringt der Winter auch besondere Gefahren für den Reisenden. Er muss den dichten Nebel fürchten oder auch die ungeheuer heftigen Schneestürme, denen ganze Reisekarawanen zum Opfer fallen. Nicht selten machen ausgehungerte Wölfe zu Tausenden die Ebenen unsicher. Trotzdem hätte Michael Strogoff den Winter zur Ausführung seines Auftrags vorgezogen; denn eines war gewiss: die Kälte würde die tatarischen Eindringlinge in die Städte treiben, die Steppe würde nicht durch Marodeure unsicher gemacht, und jede Truppenbewegung wäre unmöglich. Bei der gefährlichen Lage der Dinge konnte er aber weder Zeit noch Stunde wählen, er musste unverzüglich abreisen.
Diesmal kamen ihm nicht die üblichen Vorrechte eines Zarenkuriers zustatten. Niemand durfte auch nur den leisesten Verdacht haben, dass er im Sonderauftrag des Monarchen reiste, und das vom Feind überfallene Land wimmelte sicher von Spionen. So hatte ihm General Kissoff zwar eine großzügig bemessene Geldsumme übergeben, die die Reise erleichtern sollte, dazu aber nur einen einfachen Pass ohne den Zusatz ›im Sonderauftrag des Zaren‹, der dem Kurier sonst alle Türen öffnete.
Der Pass war ausgestellt auf den Namen Nikolaus Korpanoff, Kaufmann aus Irkutsk. Das Papier berechtigte Korpanoff, sich nötigenfalls von ein oder zwei Personen begleiten zu lassen; ferner erlaubte es dem Inhaber, Russland zu verlassen, auch wenn die Regierung eine allgemeine Ausreisesperre verhängen sollte. Außerdem gestattete der Pass Michael Strogoff, Postpferde zu requirieren. Von dieser Erlaubnis durfte er aber nur Gebrauch machen, solange seine Person keinen Verdacht erregte, auf jeden Fall nur, solange er sich auf europäischem Boden befand. Danach musste er seinen eigenen Kräften und seiner Erfindungsgabe vertrauen. Für ihn gab es jetzt nur ein Ziel: sich einzuprägen, dass er der Kaufmann Nikolaus Korpanoff war, dass er keinerlei Sonderrechte in Anspruch nehmen durfte und Irkutsk unerkannt erreichen musste.
Noch vor dreißig Jahren bestand die Eskorte eines Sibirienreisenden von Stand aus nicht weniger als zweihundert berittenen Kosaken, zweihundert Mann Fußvolk, fünfundzwanzig Baschkiren zu Pferde, dreihundert Kamelen, vierhundert Pferden, fünfundzwanzig Wagen, zwei tragbaren Booten und zwei Kanonen. Nur so ausgerüstet wagte man die Reise durch Sibirien.
Michael Strogoff freilich durfte weder über Kanonen noch Reiter, noch Tragtiere verfügen. Er musste im Wagen, zu Pferd oder, wenn nötig, zu Fuß vorwärtskommen. Die ersten 1493 Kilometer zwischen Moskau und der russischen Grenze konnten kaum Schwierigkeiten bereiten. Eisenbahnen, Postkutschen, Dampfer, Pferde zum Wechseln waren allen Reisenden, folglich auch Michael Strogoff, zugänglich.
Schon früh am Morgen des 16. Juli begab er sich zum Bahnhof. Statt seiner Uniform trug er einen einfachen Überrock, der in der Taille eng gegürtet wurde, weite Beinkleider und eng anliegende Stiefel. Dazu hatte er einen Reisesack geschultert. Dem Anschein nach war der Reisende unbewaffnet; er trug aber einen Revolver und das Waidmesser der sibirischen Jäger wohlverborgen unter dem Gürtel.
Auf dem Bahnhof in Moskau herrschte großes Gedränge. Die russischen Bahnhöfe sind beliebte Treffpunkte, nicht nur für die Reisenden, sondern auch für bloße Zuschauer. Man benutzt sie fast als kleinen Umschlagplatz für Nachrichten.
Die Eisenbahn sollte Michael Strogoff zunächst nach Nischnij-Nowgorod bringen. Die Stadt war Endstation einer Linie, die von St. Petersburg über Moskau führte, und der Zug würde für die 426 Kilometer etwa zehn Stunden brauchen. In Nischnij-Nowgorod konnte er sich dann für die Weiterreise zu Land oder zu Wasser entscheiden; auf jeden Fall musste er die schnellste Reisemöglichkeit zum Ural nutzen.
Der Kurier machte es sich auf einem Eckplatz seines Abteils bequem. Er konnte ein braver Bürger sein, den seine Geschäfte nicht sonderlich beunruhigten und der sich die lange Reisezeit durch ein bisschen Schlaf verkürzen wollte. Da er nicht allein im Abteil war, schlief er sozusagen nur mit einem Auge, lauschte dafür aber umso aufmerksamer und mit beiden Ohren den Gesprächen der Mitreisenden. In der Tat war das Gerücht von der Erhebung der Kirgisen und dem Einfall der Tataren schon durchgesickert. Die vom Zufall hier zusammengewürfelten Reisenden sprachen davon jedoch noch mit einer gewissen Zurückhaltung.
Der ganze Zug war besetzt mit Kaufleuten, die zur großen Handelsmesse nach Nischnij-Nowgorod fuhren. Juden saßen neben Türken, Kosaken und Weißrussen neben Georgiern und Kalmücken; doch fast alle beherrschten die russische Sprache.
Man besprach das Für und Wider der Entwicklung, die sich jenseits des Ural anbahnte, und die Kaufleute schienen einschränkende Maßnahmen der Regierung für die Grenzgebiete und damit auch für ihren Handel zu befürchten.
Sie betrachteten den Krieg, also die Niederschlagung der Erhebung und den Kampf gegen das Invasionsheer, ausschließlich vom Gesichtswinkel ihrer gefährdeten Geschäfte. Die Anwesenheit eines einzigen einfachen Soldaten in Uniform hätte genügt, die Rede dieser Kaufleute zu zügeln, hatte man doch in Russland außerordentlichen Respekt vor der Uniform. Aber da Michael Strogoff sein Inkognito wahrte, glaubte man unter sich zu sein und schwatzte munter darauf los.
»Die Preise für Karawanentee sollen heraufgehen«, sagte ein Perser, dessen Nationalität man an der pelzbesetzten Mütze und dem Schnitt des ein wenig fadenscheinigen weitfaltigen Rockes erkannte.
»Der Teehandel hat wirklich nichts zu befürchten«, antwortete ein verdrießlich dreinschauender Jude. »Die Messeware jedenfalls kann mit hohen Absatzpreisen im Westen des Reiches rechnen. Mit den Teppichlieferungen aus Buchara steht es da weit schlechter.«
»Erwarten Sie denn eine Sendung?«, fragte der Perser.
»Nicht aus Buchara, aber aus Samarkand, was noch unsicherer ist. Verlassen Sie sich einmal auf Einfuhren aus einem Land, das bis hinunter zur chinesischen Grenze von den Khans aufgewiegelt ist!«
»Sie haben recht«, warf ein anderer Reisender ein. »Waren aus Asien wird es auf der Messe kaum geben, keine Teppiche aus Samarkand, keine Wollwaren, keine Seifen, keine Öle, keine Seidentücher.«
Ein russischer Reisender, der den Gesprächen mit spöttischer Miene zugehört hatte, unterbrach die Aufzählung.
»Na, Väterchen, nehmen Sie sich nur in Acht, dass Sie keine Fettflecke in die Seidentücher bekommen, wenn Sie sie mit den Seifen und Ölen zusammenpacken!«
»Das finden Sie wohl sehr komisch!«, erwiderte der Angeredete mit säuerlicher Miene.
»Und wenn Sie sich jetzt die Haare raufen und Asche aufs Haupt streuen, ändern Sie den Lauf der Dinge um keinen Deut.«
»Sie sind sicher kein Kaufmann!«
»Gott behüte! Nein! Ich verkaufe weder Hopfen noch Tee, auch nicht Pökelfleisch, Kaviar, Bänder, Leder oder sonst etwas.«
»Aber vielleicht kaufen Sie davon?«, warf der Perser ein.
»So wenig wie möglich, und nur für meinen Privatbedarf«, entgegnete der Russe augenzwinkernd.
»Das ist ein Spaßvogel«, meinte der Jude.
»Oder ein Spion«, erwiderte der Perser. »Wir wollen vorsichtig sein und nicht mehr als nötig reden. In solchen Zeiten ist die Polizei nicht gerade feinfühlig, und man weiß nicht, mit wem man zusammensitzt.«
In einer anderen Ecke des Abteils sprach man weniger von Handelsgeschäften, umso mehr aber vom Tatareneinbruch und seinen möglichen Folgen.
Ein Reisender meinte: »Man wird in Sibirien alle Pferde requirieren. Es wird kaum noch Verbindungswege zwischen den Provinzen von Zentralasien geben.«
Und sein Nachbar fragte: »Stimmt es denn, dass die Kirgisen der Mittleren Horde mit den Tataren gemeinsame Sache machen?«
»Das sagt man jedenfalls«, antwortete der Angesprochene halblaut. »Aber wer kann in diesem Land schon behaupten, etwas mit Sicherheit zu wissen!«
»Ich hörte von Truppenzusammenziehungen an der Grenze. Die Don-Kosaken sollen bereits an der Wolga stehen. Man will sie den Kirgisen entgegenwerfen.«
»Wenn die Kirgisen dem Lauf des Irtysch gefolgt sind, muss auch die Straße nach Irkutsk unsicher sein«, bemerkte einer der Reisenden. »Ich wollte übrigens gestern ein Telegramm nach Krasnojarsk aufgeben, das ist nicht mehr durchgekommen. Ich fürchte, die Tataren brauchen nicht lange, um ganz Ostsibirien zu isolieren.«
»Also haben die Kaufleute ganz recht, wenn sie um ihre Geschäfte besorgt sind. Sind die Pferde erst einmal requiriert, kommen die Schiffe an die Reihe und nach und nach alle anderen Transportmittel, und zuletzt wird man im ganzen Reich nicht mehr einen Schritt tun dürfen. Die Messe wird wohl kaum so glänzend enden, wie sie begonnen hat. Aber was hilft es! Geschäfte sind eben nur Geschäfte, und die Sicherheit Russlands geht vor.«
Im ganzen Zug wurde über dasselbe Thema gesprochen. Ein unvoreingenommener Beobachter kam aber nicht umhin, festzustellen, dass alle Gespräche mit auffallender Zurückhaltung geführt wurden. Wagte sich jemand auf das Gebiet der Tatsachen, ging er nie so weit, Spekulationen über die Absichten der Regierung anzustellen oder gar ihre Maßnahmen zu kritisieren.
Diese Erfahrung musste auch ein Reisender machen, der in einem der vorderen Wagen des Zuges saß. Es handelte sich offensichtlich um einen Ausländer. Er hatte die Augen überall und stellte unaufhörlich Fragen, auf die er aber nur ausweichende Antworten bekam. Zum Ärger seiner Mitreisenden hatte er das Abteilfenster heruntergelassen und lehnte sich weit hinaus, um auch jeden Punkt der vorübergleitenden Landschaft genau sehen zu können. Er erkundigte sich nach den Namen völlig unbedeutender Ortschaften, nach ihrer geographischen Lage, ihrer Industrie und ihren Einwohnerzahlen, ja sogar nach der durchschnittlichen Sterbeziffer für beide Geschlechter. Was immer er in Erfahrung bringen konnte, wurde sofort in einem kleinen Notizbuch festgehalten, das schon von Anmerkungen wimmelte. Der Fragesteller war kein anderer als Alcide Jolivet, der versuchte, aus den kargen Antworten seiner Mitreisenden doch noch etwas Interessantes für seine ›Cousine‹ zu erhaschen. Natürlich sah man in ihm einen Spion und streifte die Tagesereignisse mit keiner Silbe.
Als Alcide Jolivet einsah, dass er hier über den Tatareneinfall gar nichts erfahren würde, notierte er: »Reisende äußerst zurückhaltend. Nur sehr schwer zu politischen Gesprächen zu bewegen.«
Während der Franzose hier im vorderen Zugabschnitt mit peinlicher Genauigkeit Reiseeindrücke sammelte, betrieb sein englischer Kollege in einem der hinteren Abteile dasselbe Geschäft. Die beiden Journalisten waren sich am Morgen auf dem Bahnhof in Moskau nicht begegnet; keiner wusste also vom anderen, dass er bereits zum Kriegsschauplatz aufgebrochen war.
Den schweigsamen Harry Blount verdächtigte niemand als Spion. Die Mitreisenden plauderten vor ihm ohne Zurückhaltung, sie gingen sogar ein wenig weiter, als es bei ihrer angeborenen Vorsicht sonst üblich war.
Harry Blount konnte nach ihren Gesprächen also mit einer gewissen Berechtigung notieren: »Reisende sehr beunruhigt. Alles spricht von Krieg mit Offenheit, die für das Land zwischen Wolga und Weichsel erstaunlich ist.«
Da Harry Blount auf der linken Seite des Zuges saß, sah er nur einen Teil der Landschaft, ein hügeliges Gebiet. Es hätte ihm zu viel Mühe gemacht, die Augen auch einmal zur anderen Seite zu wenden, wo die Landschaft vollkommen platt war. So fügte er seiner Notiz hinzu: »Zwischen Moskau und Wladimir Bergland.«
Es war unvermeidlich, dass die Regierung angesichts der ernsten Lage in Sibirien auch im Landesinnern strenge Maßnahmen ergriff. Noch hatte der Aufstand vor der Grenze zwischen Sibirien und Russland haltgemacht, aber man hegte doch schlimme Befürchtungen für die benachbarten Wolgaprovinzen.
Die Polizei suchte immer noch die Spur Iwan Ogareffs. War dieser Verräter, der die Fremden aufhetzte, zu Feofar-Khan gestoßen, oder schürte er vielleicht die Empörung im Gouvernement von Nischnij-Nowgorod, wo sich zur Messezeit ein buntes Völkergemisch tummelte, das später den Aufruhr bis ins Innere des Reiches tragen konnte? Welche von diesen Vermutungen richtiger war, ließ sich in einem Land wie Russland schwer sagen.
Der Herrscher aller Reußen gebot über ein Gebiet von nicht weniger als zwölf Millionen Quadratkilometern, die von vielen, oft sehr unterschiedlichen Völkerschaften bewohnt wurden. Diese siebzig Millionen Menschen sprachen dreißig verschiedene Sprachen. Nur die Länge der Zeit und die Weisheit der Regierung würden alle diese Weißrussen, Polen, Litauer, Kurländer, Finnen, Esten, Lappen, auch Deutschen, Griechen und Tataren und viele andere Stämme zu einem einheitlichen Staat zusammenschweißen können.
Jedes Mal, wenn der Zug an einer Station hielt, erschienen jetzt Kontrolleure, die die Reisenden scharf musterten. Sie fahndeten im Namen des Polizeichefs nach Iwan Ogareff; denn die Regierung glaubte immer noch am ehesten, dass er sich im europäischen Teil Russlands aufhielt. War ein Reisender verdächtig, musste er den Beamten in das Polizeibüro folgen und sich ausweisen, während der Zug weiterfuhr, ohne sich um den unfreiwilligen Nachzügler zu kümmern.
Es ist zwecklos, mit russischen Polizeibeamten, die für ihre Rücksichtslosigkeit bekannt sind, verhandeln zu wollen. Sie haben militärischen Rang und handeln entsprechend als Soldaten, und sie sind auch das Mittel, mit dem sich ein allmächtiger Souverän Gehorsam erzwingt, der seinen Erlassen mehr als fünfzig fürstliche Titel voransetzen kann und der einen Doppelkopfadler im Wappen führt, dessen Krallen eine Erdkugel umklammern.
Michael Strogoff war durch seinen Pass vor allen Behelligungen durch die Kontrolleure geschützt.
Im Bahnhof von Wladimir hatte der Zug kurzen Aufenthalt, und neue Reisende stiegen zu. Im Abteil gab es noch einen freien Platz, der jetzt von einem jungen Mädchen belegt wurde. Ihr ganzes Gepäck bestand offenbar aus einer bescheidenen roten Ledertasche, die sie neben sich stellte. Da sie einen Rücksitz bekam, wollte Michael Strogoff dem Mädchen seinen eigenen Platz anbieten, doch sie lehnte mit einer leichten Verbeugung dankend ab und setzte sich für die mehrstündige Fahrt zurecht, ohne ihre zufälligen Reisegefährten auch nur einmal angesehen zu haben.
Das Mädchen mochte sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein. Ihr Gesicht hatte rein slawische, also etwas strenge Züge, und sie würde einmal eher schön als nur hübsch werden. Unter ihrem Kopftuch quoll eine Fülle goldblonden Haares hervor, und ihre braunen Augen hatten einen unendlich sanften Ausdruck. Ihre Wangen waren schmal und blass, und der feingeschnittene Mund schien schon lange nicht mehr gelächelt zu haben. Ihre Gestalt musste, soweit man sie unter dem weiten Pelzübermantel erraten konnte, groß und schlank sein. Die Stirn der Reisenden war trotz der Jugendlichkeit des Mädchens bereits gut entwickelt, und die Form der unteren Gesichtspartie verriet einen Menschen von ungewöhnlicher Energie. Offenbar hatte das Mädchen schon manches durchlitten und sah auch keiner rosigen Zukunft entgegen. Dennoch schienen ihr Selbstvertrauen und ihre innere Ruhe unerschütterlich zu sein. Michael Strogoff war von ihren Gesichtszügen gefesselt. Er betrachtete die junge Reisende jetzt aufmerksam, doch so zurückhaltend, dass sie sich nicht belästigt fühlen musste. In ihrer Kleidung glaubte er die Tracht der Livländerinnen zu erkennen. Der ärmellose Pelz bedeckte eine dunkle Tunika über dem knöchellangen Kleid, dessen Saum eine bescheidene Stickerei zierte. Die kleinen Füße steckten in ledernen Halbstiefeln mit kräftiger Sohle, Schuhwerk also, das für eine längere Reise gedacht war.
Doch wohin fuhr das junge Mädchen so ganz ohne den Schutz der Eltern oder eines Bruders? Kam sie wirklich geradewegs aus den baltischen Provinzen, und wollte sie nach Nischnij-Nowgorod oder gar noch weiter über die östliche Reichsgrenze hinaus reisen? Wurde sie am Reiseziel von irgendwelchen Verwandten erwartet, oder würde sie auch dort so einsam sein, wie sie hier im Zugabteil zu sein glaubte? Jedenfalls zeigte ihr ganzes Auftreten, die Art, wie sie sich auf ihrem Platz für die Reise einrichtete und jede Belästigung der Mitreisenden ängstlich vermied, dass sie gewohnt war, stets auf sich gestellt zu handeln. Michael Strogoff beobachtete sie mit wachsendem Interesse; da er aber selbst verschlossen war, suchte er keine Gelegenheit zu einem Gespräch mit ihr.
Nur einmal, als der neben dem Mädchen sitzende Kaufmann im Schlafe mit dem Kopf hin- und hertaumelte und seine Nachbarin zu belästigen drohte, griff er ein. Er weckte den Mann und forderte ihn mit barschen Worten auf, sich rücksichtsvoller zu betragen.
Der ein wenig ungehobelte Kaufmann knurrte etwas von »Leuten, die sich in Dinge mischen, die sie nichts angehen«, stützte sich aber nach einem wenig freundlichen Blick Michael Strogoffs auf die gegenüberliegende Armlehne, so dass seine Nachbarin nun unbehelligt blieb. Strogoff wurde durch einen dankbaren Blick der jungen Mitreisenden belohnt.
Kurz vor Nischnij-Nowgorod bekam er Gelegenheit, den Charakter des Mädchens noch mehr schätzen zu lernen.
Der Zug wurde in einer scharfen Kurve von einem heftigen Stoß erschüttert und rollte noch eine Minute weiter auf dem hochgelegenen Gleiskörper, bis er zum Stehen gebracht werden konnte. Die Reisenden wurden durcheinandergeschüttelt und brachen in Geschrei aus. Man befürchtete ein Unglück, und schon ehe der Zug richtig stand, sprangen die Türen auf, und die entsetzten Menschen verließen Hals über Kopf die Abteile.
Michael Strogoffs erster Gedanke galt seiner Nachbarin. Doch während die anderen Reisenden schreiend zur Tür hinausdrängten, war sie auf ihrem Platz sitzen geblieben und höchstens noch ein wenig blasser geworden.
Sie wartete ruhig, und Michael Strogoff wartete mit ihr.
»Was für ein mutiges Mädchen!«, dachte er.
Inzwischen wurde die Gefahr beseitigt. Man hatte einen Achsenbruch am Gepäckwagen entdeckt, der erst den Stoß und dann das Anhalten des Zuges veranlasste. Es hätte in der Tat nicht viel gefehlt, und der Zug wäre entgleist und den hohen Bahndamm hinuntergestürzt. Es gab einen einstündigen Aufenthalt, dann wurde die Reise fortgesetzt, und um halb neun Uhr abends fuhr der Zug in Nischnij-Nowgorod ein.
Ehe die Reisenden aussteigen durften, erschienen wieder die unvermeidlichen Kontrollbeamten.
Michael Strogoffs Pass auf den Namen Nikolaus Korpanoff wurde nicht beanstandet. Auch die anderen Mitreisenden im Abteil, die ihr Ziel erreicht hatten, waren zu ihrem Glück unverdächtig.
Das junge Mädchen zeigte keinen richtigen Reisepass vor, denn im Landesinnern wurde keiner mehr verlangt. Dafür hatte sie eine Bescheinigung mit einem besonderen Siegel, und der Beamte las das Schreiben sehr aufmerksam durch. Dann ließ er sich die Angaben bestätigen:
»Sie sind aus Riga und reisen nach Irkutsk?«
»Ja«, erwiderte das Mädchen.
»Welche Strecke wollen Sie nehmen?«
»Die Strecke über Perm.«
»In Ordnung«, sagte der Beamte, »aber vergessen Sie nicht, den Schein hier in Nischnij-Nowgorod bei der Polizei abstempeln zu lassen.«
Das junge Mädchen nickte. Michael Strogoff schwankte jetzt zwischen Bewunderung und Mitleid für sie. Dieses halbe Kind wollte also nach Sibirien reisen, jetzt, wo das Land dort von Feinden überschwemmt war! Würde sie jemals ihr Reiseziel erreichen? Was konnte ihr unterwegs alles zustoßen!
Als die Wagentüren nach beendigter Kontrolle geöffnet wurden, wollte Michael Strogoff das Mädchen ansprechen, aber die junge Livländerin war augenblicklich ausgestiegen und in der Menschenmenge auf dem Bahnsteig untergetaucht.