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Erstes Kapitel

Ein Fest im Neuen Palais

Zum Hofball im Neuen Palais der kaiserlichen Residenz waren die höchsten Würdenträger des russischen Reiches geladen. Gegen zwei Uhr nachts hatte das glanzvolle Fest seinen Höhepunkt erreicht. Seit Stunden schon spielten die Kapellen der Regimenter von Preobrajensky und von Paulowsky zum Tanz auf. Polka, Mazurka, Schottischer Tanz und Walzer lösten einander ab, und die Großfürsten, ihre Adjutanten und Kammerherren vom Dienst führten die tanzenden Paare an. Unter den strahlenden Kronleuchtern, deren Licht von den Spiegelwänden hundertfach zurückgeworfen wurde, ordnete man sich jetzt zur Polonaise, dem Nationaltanz der Gesellschaft. Die eleganten spitzenüberrieselten Ballroben der Damen mischten sich mit den prächtigen ordensgeschmückten Galauniformen der Herren, und über den Tänzern schienen aus der gewölbten mattgoldenen Decke des Großen Salons unzählige Sterne zu funkeln.

Einige Gäste mochten sich nicht an den Tänzen beteiligen. Sie hatten sich in die tiefen Fensternischen zurückgezogen und beobachteten das Spiel von Licht und Finsternis auf dem Vorplatz des Schlosses. Die mächtigen Lichtkegel, die aus den Rundbogenfenstern der Salons fielen, erfassten die Silhouette einiger Glockentürme und, weiter unten noch, die ungefüge Form der großen Schiffe, die draußen auf dem Strom langsam vorbeizogen. Schweigsame Wachtposten mit geschultertem Gewehr marschierten im Garten des Schlosses auf und ab. Die Spitzen ihrer Pickelhauben blitzten hell auf, wenn sie in den Lichtstrahl einer Fensteröffnung gerieten. Vom Vorplatz des Palais schollen die Anrufe der Posten herüber. Man hörte die schweren Tritte der Patrouillen, die an Exaktheit noch die Tanzschritte drinnen auf dem Parkett übertrafen. Der Gastgeber des heutigen Festes wurde dicht umringt von einem Kreis festlich gekleideter Gäste. Ihm selbst war aller Pomp zuwider. Er trug, wie an anderen Tagen auch, die schlichte Uniform eines Offiziers der Gardejäger. Mit freundlicher, wenn auch ein wenig sorgenvoller Miene schritt er von einer Gruppe zur andern, sprach aber wenig und schenkte weder dem heiteren Geplauder der Jugend noch den ernsteren Gesprächen der hohen Beamten und Offiziere rechte Aufmerksamkeit. Einige der stets scharf beobachtenden Politiker glaubten in den Zügen des Gastgebers Zeichen von Unruhe zu entdecken. Den Grund dafür konnten sie sich nicht erklären, wagten aber auch nicht, danach zu fragen; denn dem Zaren lag offensichtlich daran, die Feststimmung nicht durch seine Sorgen zu beeinträchtigen. Im Übrigen war das riesige Reich dazu erzogen, selbst noch den unausgesprochenen Gedanken seines Herrschers zu gehorchen.

So nahm der Ball ungestört seinen Fortgang.

Die Polonaise hatte gerade begonnen, als der General Kissoff den Großen Salon betrat, sofort den Gastgeber ansprach und sich mit ihm in eine der Fensternischen zurückzog. Der General überreichte dem Zaren ein Telegramm.

»Eine neue Depesche, Majestät.«

»Woher?«

»Aus Tomsk.«

»Und östlich von Tomsk ist die Leitung unterbrochen?«

»Seit gestern kommen von dort keine Nachrichten mehr durch.«

»General, wir müssen stündlich ein Telegramm nach Tomsk aufgeben lassen. Ich möchte auf dem Laufenden gehalten werden.«

Der Zar überflog den Inhalt der Depesche, und seine Miene verdüsterte sich zusehends. Unwillkürlich fuhr seine Hand zum Degengriff, glitt dann aber weiter zu den Augen und beschattete sie einen Moment. Man konnte meinen, der Schein der tausend Kerzen blende den Monarchen, und er suche die Dunkelheit, um seine Gedanken besser zu ordnen. Der General wartete vergeblich auf die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen. Der Zar begann noch einmal Fragen zu stellen.

»Wir haben also seit gestern keine Verbindung mehr mit meinem Bruder in Irkutsk?«

»Leider nein, Majestät, und wir fürchten, dass bald überhaupt keine Telegramme mehr über die Grenze nach Sibirien gelangen werden.«

»Aber die Truppen in Jakutsk, im Amur-Gebiet und in Transbaikalien haben doch schon Marschorder nach Irkutsk erhalten?«

»Ja, Majestät, mit dem letzten Telegramm, das noch über den Baikal-See hinausging.«

»Und wie steht es mit der Verbindung nach Jenisseisk, Omsk, Tobolsk und Semipalatinsk?«

»Von dort bekommen wir noch Nachrichten. Wir wissen auch, dass die Tataren zur Stunde den Irtysch und den Ob noch nicht überschritten haben.«

»Und was wissen Sie von diesem Verräter Iwan Ogareff?«

»Leider gar nichts«, antwortete General Kissoff. »Der Chef der Polizei vermag nicht zu sagen, ob er sich diesseits oder jenseits der sibirischen Grenze befindet.«

»Lassen Sie seine Personenbeschreibung unverzüglich nach Nischnij-Nowgorod, Perm, Omsk, Tomsk, Kolywan und an alle anderen Poststationen durchgeben, mit denen wir noch Verbindung haben. Und, bitte, bewahren Sie Stillschweigen über den Fall Ogareff.«

»Die Befehle Eurer Majestät sollen sofort ausgeführt werden.«

Der General verbeugte sich knapp, tauchte in der Gästeschar unter und verließ bald darauf unbemerkt das Neue Palais.

Der Zar blieb noch kurze Zeit in Gedanken verloren stehen, mischte sich dann aber wieder mit ruhiger und gefasster Miene unter die kleinen Gruppen von Offizieren und Diplomaten im Großen Salon.

Die Ereignisse, die den Zaren und den General Kissoff beschäftigten, waren der Öffentlichkeit nicht ganz so verborgen geblieben, wie die beiden Männer glaubten. Man sprach zwar nicht über die Vorgänge jenseits der Grenze, aber einige hohe Beamte waren doch schon mehr oder weniger genau informiert.

Nur zwei Ballgäste kümmerten sich nicht um die stillschweigende Vereinbarung, die jüngsten Ereignisse zu ignorieren. Die beiden Herren trugen weder Uniformen noch irgendwelche Auszeichnungen, die üblicherweise zur Teilnahme an dergleichen Hoffesten berechtigten. Aus ihren leise geführten Gesprächen war jedoch zu entnehmen, dass sie über erstaunlich genaue Informationen verfügten.

Aus welchen Quellen bezogen diese gewöhnlichen Sterblichen ihr Wissen, wenn selbst sehr hochgestellte Persönlichkeiten noch im Dunkeln tappten? Einer der Herren war Engländer, der andere Franzose. Sie waren beide hochgewachsen und schlank, der eine aber hatte die dunklen Züge des typischen Südfranzosen, während der andere mit seiner frischen Gesichtsfarbe an einen Landedelmann aus Lancashire denken ließ. Der kühle, fast phlegmatische Angelsachse gab sich sparsam in Worten und Bewegungen, während der Galloromane mit Lippen, Augen und Händen zugleich sprach. War der Franzose stets »ganz Auge«, so der Engländer »ganz Ohr«. Der Gesichtssinn des einen war durch dauernde Übung geschärft wie das Auge des Taschenspielers, während sein Kollege die Umwelt ausschließlich über den Gehörsinn aufzunehmen schien. Hatte er eine Stimme nur einmal gehört, erkannte er sie unter tausend anderen selbst nach zehn oder zwanzig Jahren wieder.

Diese Vollkommenheit von Auge und Ohr kam beiden Männern bei der Ausübung ihres Berufes zustatten. Der Engländer, Harry Blount, war Korrespondent des ›Daily Telegraph‹, und der Franzose, Alcide Jolivet, arbeitete für – ja, wen eigentlich? Auf direkte Fragen antwortete er stets scherzhaft, er korrespondiere mit seiner ›Cousine Madeleine‹. Trotz seiner zur Schau getragenen Redseligkeit war er sogar noch ein wenig verschwiegener als der Korrespondent des ›Daily Telegraph‹.

Beide übten ihren Beruf mit Leidenschaft aus. Es gab für sie kein Hindernis, sie setzten über Hecken und Flüsse, wenn es galt, die letzte Neuigkeit zu erjagen.

Zur Ehre der beiden Journalisten muss noch hinzugefügt werden, dass sie das Privatleben ihrer Umgebung stets achteten, also nur im besten Sinne des Wortes die »politischen und militärischen Korrespondenten« ihrer Blätter waren, wie man ihresgleichen seit Kurzem zu nennen pflegte.

Ihre Zeitungen geizten übrigens nicht mit Geld, das auch heute noch am schnellsten und sichersten zur besten Information verhilft.

In dieser Nacht vom fünfzehnten zum sechzehnten Juli waren beide Journalisten beruflich auf dem Hofball anwesend. Sie begegneten sich zum ersten Mal und beobachteten sich argwöhnisch, denn beide jagten im selben Revier. Andererseits suchte einer die Gesellschaft des anderen, um vielleicht noch eine Neuigkeit zu erfahren, die ihm selbst entgangen war.

Beide spürten an diesem Abend, dass etwas in der Luft lag. Nachdem General Kissoff den Salon verlassen hatte, versuchten sie vorsichtig, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Alcide Jolivet begann die Unterhaltung mit einer ausgesprochen französischen Redewendung.

»Ein entzückendes Fest, nicht wahr?«, sagte er zu Harry Blount, und der antwortete kühl und sehr englisch: »Wirklich splendid! Habe schon Bericht telegraphiert.«

»Allerdings«, fuhr Jolivet fort, »musste ich meiner Cousine mitteilen …«

»Ihrer Cousine?«, wiederholte Blount erstaunt.

»Ganz recht, ich korrespondiere mit meiner Cousine Madeleine, und sie erwartet stets genaue und schnelle Nachrichten. Ich musste also meiner Cousine mitteilen, dass die Stirn unseres hohen Gastgebers leicht umwölkt war.«

»Das möchte ich nicht behaupten; ich fand seine Laune glänzend«, erwiderte Harry Blount, der seine wahre Meinung zu diesem Thema nicht preisgeben wollte.

»Also lassen Sie den Monarchen in den Spalten des ›Daily Telegraph‹ auch strahlen?«

»Natürlich.«

»Herr Blount«, fuhr Jolivet fort, »Sie erinnern sich doch noch der Ereignisse von Wilna im Jahre 1812. Dann wissen Sie auch, dass Zar Alexander während eines Balles die Nachricht erhielt, Napoleon habe den Njemen überschritten. Der Zar wusste genau, dass seine Herrschaft in Gefahr war, aber er zeigte sich nicht beunruhigter als …«

»… der Gastgeber des heutigen Abends, nachdem er von General Kissoff erfahren hatte, dass die Telegraphenleitung nach Irkutsk unterbrochen sei.«

»Sie kannten schon die Einzelheiten?«

»Aber sicher. Meine letzte Depesche kam nur bis Krasnojarsk«, sagte Blount selbstzufrieden.

Doch Jolivet ergänzte voller Genugtuung:

»Meine nur bis Udinsk. Dann wissen Sie natürlich längst, dass die Truppen in Nikolajewsk Marschbefehl erhalten haben und dass die Kosaken im Gouvernement Tobolsk zur Verteidigung aufgerufen worden sind.«

»Natürlich. Man wird einen interessanten Feldzug verfolgen können, Herr Jolivet.«

»Dann sehen wir uns vielleicht auf einem Terrain wieder, das weniger sicher ist als das Parkett dieser Salons … jedenfalls weniger glatt!« Mit diesen Worten fing Alcide Jolivet seinen Kollegen, der auszugleiten drohte, in den Armen auf.

Als sich die Journalisten trennten, wussten beide, dass keiner dem anderen auch nur eine Nasenlänge voraus war.

Nun wurden die Türen zu den angrenzenden Sälen geöffnet. Man sah mehrere große Tische, die verschwenderisch mit erlesenem Porzellan gedeckt waren. Der mittlere, der den Prinzen, Prinzessinnen und Mitgliedern des Diplomatischen Korps vorbehalten war, trug als Krönung einen Tafelaufsatz von unschätzbarem Wert aus Londoner Werkstätten. Rund um dieses Meisterwerk der Goldschmiedekunst funkelten im Glanz der Kerzen unzählige Stücke herrlichen Geschirrs aus den Manufakturen von Sèvres. Man begab sich gerade zur Tafel, als General Kissoff wieder eintrat und auf den Zaren zuging.

»Wie ist die Lage?«, fragte der Monarch sogleich.

»Tomsk schweigt, Majestät!«

»Sofort einen Kurier besorgen!«

Der Zar verließ den Großen Salon und begab sich in ein danebenliegendes einfach möbliertes Arbeitskabinett. Dort riss er ein Fenster auf, als fiele ihm das Atmen schwer. Dann trat er auf den Balkon hinaus und sog die laue Luft der schönen Julinacht in tiefen Zügen ein.

Vor seinen Augen lag im Mondlicht ein befestigter Stadtteil, aus dem sich die Silhouetten von zwei Kathedralen, drei Palästen und einem Waffenarsenal erhoben. Außerhalb der Befestigungsanlagen waren deutlich drei ausgedehnte Stadtteile zu erkennen, Kitai-Gorod, Beloi-Gorod und Semljano-Gorod. Diese großen chinesischen, europäischen und tatarischen Wohnviertel wurden überragt von unzähligen Türmen und Minaretten, von dreihundert Kirchen mit grüngoldenen Kuppeln und silbernen Kreuzen darauf. Ein Fluss mit vielfach gewundenem Lauf fing hier und da die Mondstrahlen ein. Dieser Fluss, jene Wohnviertel und der befestigte Stadtteil hier, die der Zar so nachdenklich betrachtete, das waren die Moskwa, Moskau und der Kreml, die alte Stadt der Moskowiter.

Der Kurier des Zaren

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