Читать книгу Diamond Legacy - Juli Summer - Страница 5

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Ich komme gerade von der Beerdigung eines Mannes, von dem meine Mum sagt, er sei mein Großvater gewesen.

Noch immer bin ich mir nicht sicher, wie ich mich dabei fühlen soll. Er war ein Fremder für mich und doch fließt sein Blut auch durch meine Adern.

Ich weiß nicht viel über diesen Teil unserer Familie. Nein, halt, das stimmt so nicht ganz. Eigentlich weiß ich gar nichts darüber. Vielleicht der einzige Grund, weshalb ich diese Reise angetreten habe. Neugier - das beste Mittel gegen eine Mauer des Schweigens.

Mum hat meinem Drängen nur sehr widerwillig nachgegeben und dem Flug nach New York zugestimmt. Ich frage mich, ob mehr dahintersteckt.

Wer war dieser Mann? Warum kenne ich ihn nicht? Warum wurde er nie erwähnt? Ob damals etwas vorgefallen ist, worüber Mum nicht reden möchte? Warum sonst hat sie bis jetzt alles darangesetzt, meine Großeltern von mir fernzuhalten? Denn es gibt nicht nur einen mir unbekannten Großvater, es gibt eine dazugehörige Frau. Eine lebendige noch dazu. Der Brief war von ihr gekommen und direkt an mich adressiert. Zufall oder Absicht? Die Antwort interessiert mich, und ich kann es kaum erwarten, Zeit mit meiner Großmutter zu verbringen.

Eine ganze Schar schwarz gekleideter Menschen bevölkert in diesem Moment ihr Wohnzimmer. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich mit ihr zu unterhalten. Während der Trauerfeier glitt mein Blick immer wieder zu ihr hinüber. Ich suchte nach Ähnlichkeiten mit meinem Vater, aber auch nach Erinnerungen. Denn es gab eine Zeit in meinem Leben, in der meine Großeltern ein Teil meiner Welt waren. Meine ersten beiden Lebensjahre haben wir im selben Haus gewohnt, zwei weitere Jahre in derselben Stadt. Spätestens seit unserem Umzug nach Berlin sind sie aus meinem Leben verschwunden und bis zu dem Tag, an dem die Einladung (sagt man das in diesem Fall so?) zur Beerdigung ins Haus geflattert kam, wurde die Vergangenheit auch wie eine behandelt.

Ich bin meiner Mum deshalb nicht böse. Denn die Erinnerungen an damals sind bei ihr mit einer Menge Schmerz verbunden. Das Einzige, was mir geblieben ist, sind Fotos, die mich immer wieder daran erinnern, wie groß das Loch ist, das der Tod meines Vaters und meines Bruders in unser Leben gerissen hat.

In Gedanken versunken wandere ich durch das Haus. Es ist eines dieser typischen Stadthäuser, die man aus amerikanischen Serien kennt. Eine Steintreppe führt zur Eingangstür. Dahinter befinden sich drei Etagen, die durch eine imposante mahagonifarbene Holztreppe miteinander verbunden sind. Ich gehe die Stufen hinauf in die zweite Etage. Weg von dem Gemurmel der Trauergäste.

Obwohl ich meine ersten vier Lebensjahre in diesem Land verbracht habe, ist es merkwürdig hier zu sein.

Vielleicht liegt genau hier das Problem. Wieder an dem Ort zu sein, der eng mit dem Beginn meines Lebens verbunden ist. Der Ort, der mir so fremd ist, dass ich fast verzweifelt nach einem Krümel Erinnerung suche. Ich schlendere über den Flur, fahre mit den Fingern über das lackierte Treppengeländer. Berühre zaghaft die einzelnen Türklinken, als würde ich darauf warten, dass sie mir ihre Geschichte erzählen. Doch das Haus bleibt stumm.

Entschlossen öffne ich eine der Türen. Es sieht nach einem Arbeitszimmer aus. Ich gehe hinein und sehe mich um. An drei Seiten des Raumes befinden sich Bücherregale. Sie sind vollgestopft bis unter die Decke. Weil Bücher grundsätzlich eine magische Anziehungskraft auf mich ausüben, führen meine Füße ein Eigenleben. Gierig fliegt mein Blick über die verschiedenen Titel. Doch während bei mir Fantasyromane auf den vorderen Plätzen rangieren, scheint es sich hier hauptsächlich um geschichtliche Inhalte zu handeln. Meine Augen bleiben an Buchrücken hängen, die zusätzlich zum Titel mit mir unbekannten Zeichen versehen sind. Eines davon fesselt meine Aufmerksamkeit. Ich nehme es heraus und blättere gedankenverloren darin. Mein Englisch ist ziemlich gut, aber mit Fachbegriffen habe ich so meine Probleme. Ich muss mich konzentrieren. Griechische Mythologie, stelle ich nach einer Weile fest.

„Wie ich sehe, hast du den Lieblingsort deines Großvaters entdeckt.“

Ich erschrecke beim Klang der fremden Stimme so sehr, dass mir das Buch aus den Händen gleitet.

„Entschuldige, ich wollte dir keinen Schreck einjagen. Ich habe nach dir gesucht.“ Evelyn sieht mich mit ernstem Blick an.

Schon bevor ich hergekommen bin, hatte ich entschieden, meine Großmutter bei ihrem Vornamen zu nennen. Es erscheint mir passender. Großmutter, das klingt fremd in meinen Ohren. Mit diesem Wort verbinde ich Familie, Vertrautheit. So, wie bei den Eltern meiner Mum.

„Es tut mir leid, ich wollte nicht herumschnüffeln.“

Schnell bücke ich mich nach dem Buch. Mein Blick fällt auf eine Abbildung. Sie zeigt ein wunderschönes Amulett. Ich bin neugierig, fühle mich unter Evelyns ernstem Blick allerdings ein wenig unwohl. Außerdem will ich nicht unhöflich sein, deshalb klappe ich das Buch zu und lasse es zwischen den anderen Büchern im Regal verschwinden.

„Du musst dich nicht entschuldigen. Fühl dich ganz wie zu Hause. Früher bist du immer wie ein Wirbelwind durch die Räume geflitzt. Am liebsten hast du mit Aaron verstecken …“ Sie unterbricht sich selbst, als der Name meines Bruders fällt. „Wie dem auch sei. Schau dich nur um. Ich bin sehr froh, dich hier zu haben. Wenn da unten Ruhe eingekehrt ist, haben wir hoffentlich einen Augenblick für uns allein.“ Sie lächelt mich zärtlich an, doch dann legt sich ein Schleier über ihr Gesicht. „Es gibt so vieles, das ich mit dir besprechen muss.“

Für einen Moment sehen wir uns an. Sie wirkt unschlüssig. Ich folge ihrem Blick. In der Sekunde ballt sie die rechte Hand zur Faust. Darin scheint etwas verborgen. Kurz bevor sich ihre Finger schlossen, habe ich ein Aufblitzen wahrgenommen. Oder habe ich es mir nur eingebildet? Ehe ich sie fragen kann, was sie mir sagen möchte, nickt sie mir zu, und ich bin wieder allein. Merkwürdig.

Ich schaue mich um. Versuche mir vorzustellen, wie ich mit Aaron durch das Zimmer jage. Stelle mir meinen Großvater vor, wie er währenddessen an seinem Schreibtisch sitzt. Sieht er uns dabei zu? Freut er sich darüber oder fühlt er sich von uns gestört? Ich schließe die Augen und atme tief durch. Es spielt keine Rolle mehr. Inzwischen sind über fünfzehn Jahre vergangen. Weder ihn noch Aaron kann ich danach fragen. Sie sind beide nicht mehr da.

Plötzlich habe ich das dringende Bedürfnis, diesen Raum zu verlassen. Ein mulmiges Gefühl bildet sich in meiner Magengegend. Die Schatten der Vergangenheit liegen über diesem Raum. Mit schnellen Schritten bin ich bei der Tür. Auf dem Flur pralle ich fast mit Mum zusammen.

„Greta, wo warst du denn?“

„Ich habe es da unten nicht ausgehalten. Ich …“

„Du hast hier nichts zu suchen. Komm mit.“ Mum fasst mich am Arm und zieht mich hinter sich her.

Auf der Treppe drehe ich mich noch einmal um und werfe einen letzten Blick zurück. So leer wie der Flur fühlt sich auch mein Herz an. Es muss an diesem Ort liegen.

Zum Glück haben sich die Trauergäste inzwischen verabschiedet. Doch die Ruhe, die nun herrscht, wirkt keinesfalls friedlich. Mum verschwindet zielstrebig und mit aufeinandergepressten Lippen in der Küche. Evelyn hat eine Hausangestellte, die sich um alles kümmert. Das scheint Mum nicht aufhalten zu können. Kaum ist sie außer Sichtweite höre ich das Geschirr klappern.

Unschlüssig stehe ich im Wohnzimmer. Erneut frage ich mich, welchen Grund es für Mums Verhalten gibt. Sie scheint an jedem Ort der Welt lieber sein zu wollen als hier. Hat mit Evelyn kaum drei Worte gewechselt. Ihr Gesicht spricht Bände. Hasst sie ihre Schwiegereltern so sehr? Oder schmerzt sie die Erinnerung auch nach so langer Zeit noch derart, dass sie es kaum erträgt, Evelyn zu sehen?

Ich bereue nicht, hergekommen zu sein, aber ich sehne mich nach unserem Zuhause in Berlin. Nach meinem Zimmer, meinem Bett. Wie gern würde ich jetzt mit meiner besten Freundin Lara vor dem Fernseher sitzen, auf Netflix die Wiederholung einer Folge Vampire Diaries schauen und anschließend von Ian Somerhalder träumen. Um zu träumen muss ich nicht zwangsläufig das Land verlassen, trotzdem fehlt mir die Begeisterung. Auch das Wetter trägt zur Aufheiterung nicht bei.

Kurz überlege ich, die Gegend etwas zu erkunden, um der angespannten Stimmung im Haus zu entkommen, aber es ist Februar und ganz New York liegt unter einer dicken weißen Schneedecke. Seit wir gestern hier angekommen sind, hat es nicht aufgehört zu schneien. Die Räumfahrzeuge sind unermüdlich im Einsatz. Hinzu kommt ein starker Wind, der kalte Ostluft durch die Straßen bläst.

Obwohl ich selbst aus einer Großstadt komme, ist hier alles anders. Die Vorstellung, dies hätte mein Zuhause sein können, wäre dieser schreckliche Unfall nicht geschehen, ist eigenartig. Wie wäre mein bisheriges Leben verlaufen? Wäre ich dieselbe Person, die ich jetzt bin? Der Unfall hat unsere Familie zerstört. Ich durfte nicht erleben, wie es sich anfühlt, mit einem Dad aufzuwachsen. Wurde zum Einzelkind, statt einen großen Bruder an meiner Seite zu haben.

Plötzlich werde ich aus meinen trüben Gedanken gerissen.

„Da bist du ja.“ Evelyn tritt zu mir ans Fenster. „Setz dich doch einen Moment zu mir.“

Während sie zu der grauen Couch hinübergeht, betrachte ich sie. Sie wirkt erschöpft. Die vergangenen Tage und Stunden haben scheinbar an ihr gezehrt. Trotzdem strahlt sie Stärke aus. Als unsere Blicke sich treffen, liegt eine Bitte darin.

Ich wähle den Sessel ihr gegenüber und mustere Evelyn neugierig. Ihre blauen Augen sind aufmerksam, zeugen von Intelligenz. Wie ein Schwiegermonster sieht sie nicht aus. Über ihr Gesicht huscht ein flüchtiges Lächeln.

„Ich frage mich, was Maria über uns erzählt hat?“ Sie klingt gekränkt und doch ein wenig amüsiert.

„Gar nichts“, gebe ich ehrlich zu.

„Das wundert mich nicht. Sie hat damals einen Schlussstrich gezogen und nie zurückgeblickt.“

„Wieso?“

„Wie groß du in der Zeit geworden bist. Und so hübsch. Adam wäre stolz auf dich.“

Hat sie mich nicht gehört? Oder geht sie absichtlich nicht auf meine Frage ein? „Mochtet ihr euch früher, Mum und du?“, versuche ich es noch einmal.

„Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die der Mensch nicht immer begreift. Unsere Familie …“

„Evelyn!“ Die strenge Stimme von Mum setzt unserer Unterhaltung ein jähes Ende. „Komm Greta, wir gehen.“

„Mum.“ Ich sehe sie erschrocken an. Seit wir in New York angekommen sind, benimmt sie sich sonderbar. Sie ist kaum wiederzuerkennen.

„Keine Widerrede. Hol deine Jacke.“ Wie ein Pitbull steht sie zwischen mir und Evelyn. Jederzeit bereit, mich von ihr wegzuzerren.

„Was zum Teufel hast du für ein Problem?“, platzt es aus mir heraus.

„Wie redest du mit mir?“

„Was erwartest du denn? Du redest so gut wie nie über Dad und Aaron. Die Existenz meiner Großeltern wird totgeschwiegen. Die Reise ist für dich eine Art Höllentrip. Ich hatte gehofft, in den drei Tagen, die mir hier vergönnt sind, ein paar Antworten zu finden. Aber du verhältst dich wie eine Furie. Ich darf nicht durch das Haus laufen. Ich darf mich nicht unterhalten. Fehlt nur noch, dass du mir das Atmen verbietest!“ Mein Herz klopft aufgebracht.

Mums Augen funkeln zornig. Doch dann verändert sich ihr Blick. Wie aus einem angestochenen Ballon scheint die Wut aus ihr zu entweichen. „Du kannst das nicht verstehen.“

„Dann hilf mir dabei.“

Ich warte, doch sie bleibt stumm. Stattdessen sieht sie zu Evelyn und ihr Blick verhärtet sich erneut.

„Du versuchst es ja gar nicht erst“, presse ich enttäuscht hervor.

Aber bitte, stur sein kann ich auch. Ohne ein weiteres Wort rausche ich an Mum vorbei, schnappe mir meine Jacke und öffne die Haustür.

„Greta.“

„Lass ihr einen Moment“, höre ich Evelyn noch sagen, bevor ich die Tür hinter mir zuknalle.

Blind vor Tränen stapfe ich den Gehweg entlang. Wohin ist mir egal. Hauptsache weg von diesem fremden Haus, dieser erdrückenden Stille und dieser ständigen, die Luft verpestenden Aggressivität.

Kurze Zeit später verändert sich das Straßenbild, graue Betonriesen werden zu ausladenden Eichen. Ich laufe weiter, bis der Verkehrslärm nur noch dumpf an mich herandringt. Dann erst bleibe ich stehen und atme tief durch. Die frostige Luft füllt meine Lungen. Der Wind pfeift laut durch das Geäst der Bäume. Ich setze mich wieder in Bewegung. Der Schnee knirscht unter meinen Füßen. Plötzlich beginne ich zu lachen, die ganze Situation ist einfach zu verrückt. Ich spüre feuchte Kälte auf meinen Wangen. Erst da merke ich, dass aus meinem Lachen ein Weinen geworden ist. Ich ringe nach Atem, der in weißen Wölkchen in die Luft steigt und blinzele durch den Tränenschleier. Der Aufenthalt hier bringt mich völlig durcheinander.

Langsam beruhige ich mich wieder und schlage den Weg Richtung Central Park ein. Beschämt schaue ich mich nach Beobachtern meines kleinen Anfalls um. Dann schüttele ich den Kopf. Kann mir doch egal sein. Selbst wenn, was macht es für einen Unterschied? Doch plötzlich wird mir die fremde Gegend unheimlich. Viel zu lange bin ich ziellos in den Park hineingelaufen und inzwischen ist es dunkel geworden. Der Park ist menschenleer. Als ich plötzlich Schritte hinter mir höre, legt sich Angst wie eine schwere Decke über meinen Körper.

Intuitiv schaue ich mich um. Nicht weit von mir entfernt ist ein Mann stehengeblieben, der jetzt in meine Richtung starrt. Ich versuche, mich nicht verrückt zu machen. Alles nur Zufall. Aber der Typ rührt sich nicht von der Stelle. Er trägt einen langen schwarzen Mantel und starrt mich weiter unverwandt an.

Meine Haut beginnt zu kribbeln. Ich bin allein, mitten im Central Park. Entschlossen gehe ich in die entgegengesetzte Richtung. Ein Blick über die Schulter treibt meinen Puls in die Höhe. Er folgt mir. Oder bilde ich mir das nur ein? Nein, es besteht kein Zweifel. Mein Herz pocht bis zum Hals, während das Blut in den Ohren rauscht. Meine Schritte werden schneller. Verdammt, ich habe überhaupt nicht bemerkt, wie weit ich in den Park hineingelaufen bin. Unterwegs muss ich den Hauptweg verlassen haben. Überall ist Schnee. Zusätzlich peitscht der Wind kleine Eiskristalle durch die Luft, die wie feine Nadeln mein Gesicht treffen.

Dieser Kerl ist noch immer hinter mir. Der Abstand ist kleiner geworden. Ich wische mir über die Augen, um besser sehen zu können. Renne um Sträucher und Bäume herum. Mit gehetztem Blick suche ich nach dem erlösenden Ausgang. Ich kann den Verkehr hören, er wird lauter. Ich bin richtig, ich muss es einfach sein. Meine Lungen brennen, aber ich renne weiter. Angsterfüllt drehe ich mich um und lande im nächsten Augenblick schmerzvoll im Schnee. Ich muss über eine verborgene Wurzel gestolpert sein. Keuchend bleibe ich liegen.

Trotz der einsetzenden Dämmerung sehe ich den Schatten eines Menschen, der über mir auftaucht. Ich hebe schützend die Hände.

„Alles okay bei Ihnen? Können Sie aufstehen?“

Erstaunt über die Freundlichkeit der Stimme, blicke ich auf. Ein Mann mit dunkelblauer Daunenjacke und Wollmütze bekleidet, steht neben mir und schaut besorgt auf mich herab.

„Ja.“ Ich muss mich mehrmals räuspern, um meine Stimme wiederzufinden. „Ich denke schon.“ Ich ergreife die Hand, die er mir anbietet und lasse mir auf die Beine helfen. „Danke.“

„Keine Ursache. Aber in der Dunkelheit sollten Sie sich hier nicht alleine rumtreiben.“ Seine braunen Augen mustern mich kritisch.

„Ich weiß, ich dachte nur …“ Erneut aufkommende Panik lässt mich herumwirbeln. Keine Spur meines Verfolgers. Als hätte es ihn nie gegeben. Doch ich weiß, er war da. „Irgendwie scheine ich mich verlaufen zu haben.“

„Gleich da vorn ist die 5th Avenue. Na kommen Sie, ich bringe Sie hin.“

„Danke, ich komme klar.“ Es klingt cooler, als ich mich fühle.

Er nickt. „Verstehe, aber keine Sorge. Ich möchte nur helfen. Folgen Sie mir einfach unauffällig.“ Lächelnd setzt er seinen Weg fort.

Ich klopfe mir den Schnee von Jacke und Hose, bringe ein wenig Abstand zwischen uns, bevor ich ihm nachgehe. Auf dem Gehweg angekommen, dreht er sich noch einmal zu mir um.

„Kommen Sie gut nach Hause.“

„Danke.“

Ich bin froh, den Park verlassen zu haben. Und plötzlich sind ein fremdes Haus und eine anstrengende Mum das definitiv kleinere Übel. Das Licht hinter den Fensterscheiben fühlt sich nach Geborgenheit an. Weil ich keinen Schlüssel habe, muss ich klingeln. Ich habe den Finger noch auf dem Knopf, da reißt Mum auch schon die Tür auf.

„Gott sei Dank, da bist du ja. Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Erleichtert nimmt sie mich in den Arm.

„Ich bin siebzehn und kein Baby mehr. Mir geht‘s gut.“ Na gut, ging mir schon besser. Aber ich lebe. Immerhin.

„Wo warst du denn?“

„Spazieren. Ich brauchte frische Luft.“

Ich will die Tür schließen und drehe mich um. Gerade in dem Augenblick, als eine dunkle Gestalt aus dem Lichtkegel der Straßenlaterne in die Dunkelheit eintaucht. Ich könnte schwören, es war der Mann mit der blauen Daunenjacke. Ob er sich vergewissern wollte, dass ich gut nach Hause gekommen bin? Aber dann hätte er mir folgen müssen. Neue Gänsehaut überzieht meinen Körper. Okay, stopp. Es reicht, ich mache mich selbst verrückt.

„Wo ist Evelyn?“

„Sie ruht sich aus. Wir sollten ins Hotel fahren“, drängt Mum.

„Ich möchte mich noch verabschieden. Du kannst im Auto warten“, bemerke ich beiläufig, in der Hoffnung noch einmal mit Evelyn allein zu sein.

„Nein, schon gut. Ich warte hier.“ Sie lächelt gezwungen und folgt mir ins Wohnzimmer.

O Mann, was für ein Theater.

„Greta, meine Liebe.“ Evelyn liegt auf dem Sofa. Jetzt setzt sie sich auf und klopft neben sich. Kurz zögere ich, aber Mum bleibt ruhig und ich nehme Platz. „Ich habe mich wirklich gefreut zu sehen, dass aus diesem süßen kleinen Mädchen von damals eine starke junge Frau geworden ist. Dein Großvater ist davon stets überzeugt gewesen. Ich bin froh, dass er recht behalten hat.“ Sie macht eine kurze Pause. „Jetzt, wo du weißt, dass es mich gibt, zögere nicht, wenn du Rat benötigst. Meine Tür steht immer offen.“

Ich kann sehen, wie ihr Blick für eine Sekunde zu Mum gleitet.

„Schatz, wir sollten los“, beendet Mum unser Gespräch. Darin ist sie wirklich gut.

„Ja, das solltet ihr wohl. Der Sturm …“ Evelyn beendet den Satz nicht. Sorgenfalten bilden sich auf ihrer Stirn. Ihr Blick gleitet zum Fenster hinaus.

„Was ist mit ihm?“, frage ich neugierig.

„Er wird stärker. Es wird Zeit für einen neuen Ringträger, sonst gerät er außer Kontrolle. Die Erben Erebos’ sind sicher schon auf dem Weg hierher.“

„Geht’s dir nicht gut?“ Ängstlich sehe ich Evelyn an.

„Das reicht jetzt wirklich. Du bist keinen Deut besser als Alexander. Hört endlich auf mit diesen Horrormärchen.“

Ich sehe zu Mum und stehe auf. „Was für Märchen?“

„Keine Märchen. Eine Überlieferung“, übernimmt Evelyn das Gespräch wieder. „Die Meteorologen können sich den starken Wind aus gutem Grund nicht erklären. Es ist kein normaler Wind.“

„Verdammt, Evelyn! Ich wusste, es war ein Fehler herzukommen.“

Evelyn erhebt sich nun ebenfalls. „Du darfst die Augen nicht davor verschließen, Maria. Es ist Gretas Schicksal. Und nach Alexanders Tod ist sie die rechtmäßige Erbin.“

„Könnte mir einer erklären, wovon ihr redet?“, frage ich verwirrt.

„Da gibt es nichts zu erklären. Wir gehen. Verabschiede dich von deiner Großmutter.“

Tausend Fragen schwirren mir durch den Kopf, doch mir ist klar, ich werde im Augenblick keine davon beantwortet bekommen.

„Also dann.“ Mir fällt nichts Sinnvolles ein, was ich sagen könnte.

Evelyn legt zum Abschied ihre beiden Hände auf meine. Dabei sieht sie mich eindringlich und irgendwie merkwürdig an. Im nächsten Moment spüre ich, wie sie mir etwas in die Handfläche drückt. Ich möchte sie darauf ansprechen, doch ihr Blick lässt mich schweigen. Dann lächelt sie und umarmt mich.

„Von deinem Großvater“, flüstert sie dicht an meinem Ohr. „Nun gehört er dir.“

Mir ist klar, dass sie nicht möchte, dass Mum davon erfährt. Nach dem Wortgefecht von eben durchaus nachvollziehbar, auch wenn ich noch nicht dahintergekommen bin, um was genau es dabei eigentlich ging. Aber um nicht noch mehr Ärger heraufzubeschwören, nehme ich den Gegenstand stumm entgegen. Er fühlt sich an wie ein Ring. Eiskalt und erstaunlich schwer wiegt er in meiner Hand, trotzdem umschließe ich ihn fest in meiner Faust. Ich nicke ganz leicht, als sich Evelyn von mir löst. Unbemerkt verschwindet meine Hand kurz in meiner Hosentasche, wo der Ring vor Mums Augen sicher ist. Ich habe das Gefühl, ihn beschützen zu müssen.

Im Hotel angekommen verschwinde ich im Badezimmer, um mir den Ring genauer anzusehen. Er ist aus Gold und wirkt ziemlich alt. Vielleicht ein Familienerbstück. Und wow, ist das ein Diamant? Ob er echt ist? Ziemlich cool, aber nicht unbedingt die Art von Schmuck, die ich trage. Ich halte ihn weiter in der Hand und drehe ihn im hellen Licht hin und her. In mir regt sich etwas. Ein Kribbeln breitet sich in meinem ganzen Körper aus. Ich lasse den Ring keine Sekunde aus den Augen.

Eine plötzlich aufsteigende Traurigkeit drückt mir förmlich die Luft aus den Lungen. Sie sind fort. Alle. Dad, Aaron, mein Großvater. Nicht mal Erinnerungen sind mir geblieben. Nichts, wonach mein Herz greifen kann. Ich dachte immer, ich komme damit klar. Aber das stimmt nicht. Dieses Gefühl von Verlust, es hatte sich einfach nur sehr gut versteckt. Dieser Ring ist meine Verbindung in die Vergangenheit. Ein Erbstück, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Warum sonst hätte Evelyn ihn mir anvertrauen sollen?

Trotzig recke ich mein Kinn nach vorn. Mir ist egal, was Mum sagt. Er gehört mir. Und ich werde ihn behalten. Mit wilder Entschlossenheit nehme ich den Ring, streife ihn über den Ringfinger meiner linken Hand und strecke den Arm nach vorn aus. Verwundert stelle ich fest, dass der Ring mir perfekt passt. Das kühle Gold schmiegt sich sanft um meinen Finger.

„Au!“ Verdammt, was war das denn?

Es fühlt sich an, als hätte mich etwas gestochen. Blitzschnell und nicht fest. Oder war es bloß eine kleine Unebenheit am Material? Bevor ich dazu, komme den Ring abzuziehen, passiert etwas mit dem Diamanten. Zuvor noch klar, färbt sich das Innere nun rötlich. Rotierend wie ein Wirbelsturm saugt sich der Diamant immer voller.

Ich blinzele mehrmals, weil ich nicht glauben kann, was gerade geschieht. Als ich die Augen das nächste Mal öffne, ist das Rot verschwunden. Einfach weg. Mit klopfendem Herzen starre ich den Ring an. Das Ganze hat nur Sekunden gedauert. Doch ich bin mir zu tausend Prozent sicher, dass ich es mir nicht eingebildet habe. So viel Fantasie besitze ich eindeutig nicht. Schnell streife ich ihn vom Finger. Tatsächlich ist in meiner Haut eine winzige Einstichstelle zu sehen. Was hat das alles zu bedeuten? Evelyn ist die Einzige, die mir darauf eine Antwort geben kann.

Aufgewühlt trete ich aus dem Badezimmer. Mum sitzt im Sessel und wirkt nachdenklich.

„Ich muss noch einmal zu Evelyn“, komme ich gleich auf den Punkt.

„Wieso das?“

Ich halte den Ring hoch. „Deshalb. Er ist … es war merkwürdig, ich glaube, keine Ahnung, irgendetwas ist mit dem Ring.“

„Wovon redest du?“, fragt Mum gereizt. „Wann hat Evelyn ihn dir gegeben? Warum weiß ich nichts davon?“

„Das ist doch ganz egal. Sie hatte ihre Gründe, da bin ich mir sicher. Ich muss wissen, ob es eine logische Erklärung gibt.“

„Sie hat dich mit ihrem Gerede ja völlig durcheinander gebracht.“

„Ist das ein Ja oder Nein?“

„Es ist schon spät. Wir verschieben es auf morgen.“

„Dann lass mich sie anrufen.“

Mum verdreht seufzend die Augen, gibt mir aber ihr Handy, nachdem sie die Nummer rausgesucht hat. Ich lasse es dutzende Male klingeln.

„Sie hebt nicht ab.“

„Sicher schläft sie längst. Es war ein langer Tag.“

Frustriert gebe ich mich geschlagen und mache mich bettfertig. An Schlaf ist jedoch nicht zu denken. Im Dunkeln greife ich nach dem Ring, der auf dem Nachttisch neben dem Bett liegt. Erneut spüre ich das Kribbeln. Fasziniert und erschrocken zugleich gebe ich mich dem Gefühl hin. Ich schließe die Augen und fast ist mir, als würde ein leichter Wind meine Haut streicheln.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück gebe ich keine Ruhe, bis wir zu Evelyns Haus aufbrechen. Mum zeigt offen ihren Unmut. Weil ich ihr aber unmissverständlich zu verstehen gegeben habe, dass ich mich sonst allein auf den Weg mache, tut sie mir den Gefallen.

Der Wind hat nachgelassen, dafür schneit es unermüdlich. Schon nach kurzer Zeit sind unsere Fußspuren, die wir im Schnee hinterlassen, nicht mehr zu sehen. Trotz der Handschuhe sind meine Finger kalt, als ich auf den Klingelknopf drücke. Schweigend warten wir. Ich versuche es ein weiteres Mal, doch die Tür bleibt verschlossen.

„Ist das nicht seltsam?“

„Deine Großmutter ist mit neunundsechzig durchaus noch in der Lage, das Haus zu verlassen. Wahrscheinlich hat sie irgendwelche Termine.“

„Aber erst geht sie nicht ans Telefon und jetzt ist sie nicht zu Hause?“

Mum sieht auf die Uhr. „Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, wenn wir die Stadtrundfahrt noch machen wollen.“

„Dann bleiben wir einen Tag länger.“ Ich reibe die behandschuhten Hände aneinander.

„Sei nicht albern. Der Flug ist gebucht und du wusstest, dass du wieder zur Schule musst. Das hier ist schließlich keine Urlaubsreise.“

Ich weiß, sie hat recht. Wegen der Beerdigung und der damit verbundenen langen Flugzeit wurde ich für zwei Tage vom Unterricht befreit. Trotzdem wehrt sich alles in mir gegen eine Rückkehr nach Hause.

„Aber der Ring …“

„Wirf ihn ihr in den Briefkasten.“

„Was?“

„Na los, keine Widerrede.“

„Aber…“

„Greta, ich sagte …“

„Ist ja schon gut.“ Meine Finger umschließen den Ring. Dann greife ich nach der Münze, die sich ebenfalls in meiner Jackentasche befindet und lasse sie schnell im Schlitz des Briefkastens verschwinden. „Zufrieden?“

„Es ist besser so, glaub mir.“

Der Anflug eines schlechten Gewissens streift mein Bewusstsein. Gedanklich entschuldige ich mich bei Mum, dann schiebt sich Entschlossenheit an die Oberfläche. Am Ende spielt es keine Rolle, wo auf der Welt ich mich befinde. Ich werde herausfinden, ob der Ring eine bloße Spielerei ist oder ob mehr dahintersteckt.

Diamond Legacy

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