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Ich fühle die Aufregung, das Adrenalin, wie es durch meine Blutbahn rast. Vor vier Stunden ist unser Flieger in Berlin gelandet. Gleich nach der Ankunft habe ich Lara, meiner besten Freundin, eine Nachricht geschickt. Nach der Schule erwartet sie mich. Ich muss ihr dringend von dem Ring erzählen.

Als sie mich entdeckt, springt sie mir freudig in die Arme.

„Schön, dich wieder bei mir zu haben.“

„Ich bin auch froh, wieder hier zu sein.“

„Wie war es in New York? Also bis auf die Beerdigung, meine ich.“

„Du hast ja keine Ahnung.“

Sie hakt sich bei mir unter. „Dann schlage ich vor, wir ändern das schnellstens.“

Ob Lara weiß, wie viel mir ihre Freundschaft und ihre bedingungslose Loyalität bedeuten? Ich bin mir sicher, dass sie mir glauben wird, auch wenn ich zugeben muss, dass meine Geschichte absolut verrückt klingt. Ich würde Lara alles anvertrauen, dabei kenne ich sie erst seit einem Jahr. Damals stand sie plötzlich mit ihrem blonden Bob, den sie inzwischen knallrot gefärbt hat, und der riesigen Nerdbrille in der Tür zu unserem Klassenraum.

„Ich bin ganz Ohr.“

Gemeinsam mit Lara sitze ich an unserem Lieblingsplatz. Es ist ein altes, stillgelegtes Parkhaus. Vor zwei Jahren wurde es dichtgemacht, um nicht weit entfernt ein größeres und moderneres zu bauen. Statt es abzureißen und ein paar Bäume zu pflanzen, ließ man es einfach stehen. Doch nach und nach nimmt sich die Natur, was ihr gehört. Efeu und andere Rankgewächse, hauptsächlich Unkraut, haben bereits einen Großteil der Außenfassade zurückerobert. Wilder Wein schlängelt sich daran empor. Auch zwischen schmalen und breiten Rissen wuchert im Frühjahr und Sommer eine Unzahl an Pflanzen. Mitten in einer Stadt voller Hektik und Schnelllebigkeit strahlt dieser Ort eine gewisse Ruhe aus. Nicht immer, denn inzwischen dient das Parkhaus dazu, illegale Autorennen oder Partys stattfinden zu lassen. Aber unter der Woche ist hier kaum was los, Lara und ich können ungestört über alles reden. Lediglich den ein oder anderen Sprayer oder auch mal ein knutschendes Pärchen verschlägt es hierher.

Lara und mich zieht es meistens auf die oberste Ebene. Dort, auf dem Dach des Häuschens, in dem sich die Fahrstuhlschächte befinden, lassen wir unsere Tage Revue passieren. Im Sommer, wenn die Hitze sich in den Straßen staut und hier oben ein laues Lüftchen weht. Im Frühling, wenn die Sonne den Beton unter uns wärmt. In der Dunkelheit, wenn die Sterne zum Greifen nah sind und die Stadt nur an diesem Ort zu schlafen scheint. Und wie jetzt, im Winter. Wenn das, was wir uns zu erzählen haben, niemand anders hören soll.

Mit den Beinen baumele ich über dem Dachvorsprung und suche nach Worten. Plötzlich fällt es mir schwer zu beginnen. Wie erkläre ich etwas, das ich selbst nicht verstehe? Das völlig verrückt klingt. So sehr mich das Übernatürliche in Filmen und Büchern begeistert, so wenig gehört es in die Realität. Je länger ich darüber nachdenke, desto alberner komme ich mir vor. Mit dem Daumen reibe ich über die Stelle an meinem Ringfinger, an der ich den winzigen Stich verspürt habe. Nichts ist mehr zu sehen. Natürlich nicht. Wäre ja auch zu einfach, wenigstens einen kleinen Beweis zu haben.

„Spann mich nicht auf die Folter. Erzähl endlich“, fordert Lara mich auf.

Ich seufze. Die Arme leicht ausgestreckt und auf die Hände gestützt, lehne ich mich nach hinten und schaue in den Himmel. Der Sturm der vergangenen Tage hat nachgelassen, aber ich habe das Gefühl, er tobt nun in mir.

„So schlimm?“, interpretiert Lara mein Schweigen.

„Ja … nein … keine Ahnung.“ Ich schließe die Augen, sammele mich und beginne mit dem wirren Gerede von Evelyn, Mums Feindseligkeit ihr gegenüber, dem Typen im Central Park und ende mit dem Ring.

„Ich habe ihn anprobiert und …“

„Und was?“, drängt sie weiter.

„Kurz hatte ich das Gefühl, mich sticht etwas. Also wollte ich ihn wieder vom Finger ziehen, aber dann …“

„O Mann, Greta. Könntest du die Sätze mir zuliebe bitte beenden und mich nicht so auf die Folter spannen?“

Ich muss lachen, während ihre Augen sich vor Neugier weiten.

„Er hat sich verfärbt. Rötlich. Als würde er sich mit meinem Blut vollsaugen. Es war faszinierend und gleichzeitig voll unheimlich. Und dann, ganz plötzlich, war alles vorbei.“ Gespannt sehe ich sie an.

„Du glaubst also, der Ring hat dich gestochen?“ Ihre Worte sind ein Flüstern. In ihrem Ton schwingt Aufregung mit. Selbst im matten Licht des Tages können ihre Augen das Funkeln nicht verbergen.

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Es hat danach ausgesehen, ja. Aber klingt das nicht total dämlich in deinen Ohren?“

„Nein, das ist überhaupt nicht dämlich. Deine Großmutter hat dir den Ring aus einem bestimmten Grund gegeben. Sollte es tatsächlich mehr damit auf sich haben, wird sie es wissen.“

„Ja, du hast recht. Ich sollte Evelyn anrufen und fragen.“

„Gleich nachdem du mir den Ring gezeigt hast. Hast du ihn dabei?“

„Klar.“ Ich greife in die Hosentasche, lege den Ring in die hohle Hand und präsentiere ihn Lara.

„Aber hallo, wenn der nicht funkelt, weiß ich auch nicht.“ Mit dem Zeigefinger fährt sie vorsichtig über den Diamanten. „Nur, spooky sieht er nicht aus.“ Sie hält ihn ein Stück von sich weg.

„Ich weiß und deswegen glaube ich ja, ich habe mich von Evelyns wirrem Gerede bloß anstecken lassen.“

„Bestimmt sehnt sich die Musterschülerin in dir nach einem kleinen Abenteuer“, zieht Lara mich auf und ich knuffe sie in die Hüfte.

„Du bist ja nur neidisch.“

„Auf jeden Fall.“

Wir lachen beide. Es tut gut, mit Lara zu reden. Sie ist immer herrlich positiv. Aber nicht nur von innen strahlt sie wie die Sonne. Sie trägt den Sommer praktisch auf der Haut. Heute hat sie sich für pinke Turnschuhe und bunte Ringelleggins entschieden. Darüber einen schwarz-weiß gepunkteten Rock. Unter ihrem geblümten Wintermantel blitzt ein Stück ihres lila Pullis durch. Ich drücke sie an mich, bevor wir das Dach über eine Eisentreppe verlassen, die sich an der Außenfassade des Gebäudes befindet.

An der nächsten Haltestelle verabschiede ich mich von Lara und tauche kurz darauf in eine der Unterführungen zur U-Bahn ein. Mit der Masse der Menschen ströme ich tiefer Richtung Bahnsteig. Meine Nackenhaare stellen sich auf, als ein leichtes Kribbeln am Hinterkopf meine Aufmerksamkeit für sich beansprucht. Ich schaue kurz von meinem Handy auf, sehe mein Spiegelbild in den Fenstern eines U-Bahn-Abteils vor mir. Plötzlich stockt mir der Atem und ich bin wie gelähmt. Hinter mir, nicht weit entfernt, steht ein Mann mit dunklem Mantel und Hut. Ich fühle mich in den Central Park zurückversetzt. Die aufkommende Panik lässt sich nur schwer fernhalten. Die Bahn im Gleis vor mir fährt an. Die vorbeigleitenden Scheiben geben die Sicht nur noch schemenhaft frei. Ich zähle bis drei, dann drehe ich mich um. Mein Blick huscht hin und her. Keine Spur eines Mannes mit Hut. Blöde Kuh, schelte ich mich. Jetzt leidest du schon unter Verfolgungswahn.

Auch wenn ich weiß, dass ich mich albern benehme, zittern meine Hände leicht, als ich endlich die Wohnungstür aufschließe. Ein ungutes Gefühl hat sich in meiner Magengegend eingenistet. Nur langsam fällt die Anspannung von mir ab und das unangenehme Kribbeln ist nur noch eine vage Erinnerung.

Draußen hat es zu regnen begonnen. Der Wind hat aufgefrischt. Mit jeder Böe schiebt er Regenmassen vor sich her, die gegen die Fensterscheiben prasseln. Ich kuschele mich mit einer Decke auf die Couch und warte auf Mum. Zwischendurch versuche ich ein weiteres Mal, Evelyn zu erreichen. Ohne Erfolg.

Ich höre die Haustür ins Schloss fallen.

„Bin zu Hause“, ruft Mum.

Es fühlt sich gut an, nicht mehr allein zu sein. Gemütlich sitzen wir nebeneinander vor dem Fernseher. Seit wir wieder in Deutschland sind, ist Mum wie ausgewechselt und zwischen uns herrscht Waffenstillstand. Gegen zehn beobachte ich, wie ihr Kopf in immer kürzer werdenden Abständen zur Seite kippt. Ich stupse sie amüsiert an.

„Ich sollte mich schlafen legen. Wird wieder ein langer Tag.“

Mum arbeitet Vollzeit in einem Restaurant. Einige Monate nachdem wir damals aus Amerika hergezogen sind, hat sie die Stelle bekommen. Zuvor hatte sie sich von Job zu Job gehangelt. Ihr Talent und ihre Begeisterung fürs Kochen blieben vom Chefkoch nicht lange unentdeckt. Und auch ihre mandelförmigen Augen fanden seinen Zuspruch. Mum und Mario verliebten sich ineinander. Er ist ein lieber Kerl und tut ihr gut. Und zusammen versorgen mich die beiden mit köstlichem Essen.

Kurz nachdem Mum in ihrem Schlafzimmer verschwunden ist, gehe ich ebenfalls ins Bett. Achtlos werfe ich Jeans und Pulli auf meinen Schreibtischstuhl. Ich schlüpfe unter die Decke und ziehe sie bis zum Kinn. Lange liege ich wach, der Jetlag und die Ereignisse der vergangenen Tage machen mir zu schaffen. In der Stille und Dunkelheit meines Zimmers kommen auch die Bilder zurück. Der fremde Mann im Central Park. Hat er mich wirklich verfolgt? Und was war heute in der U-Bahn? Alles nur Einbildung? Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich da in etwas hineingeraten bin. Oh Mann Greta, das macht doch alles keinen Sinn. Entschlossen schiebe ich meine Gedanken auf die Seite. Irgendwann kämpft sich die Müdigkeit bis in meinen Kopf durch. Dankbar gebe ich mich ihr hin.

Der Wecker reißt mich aus dem Schlaf. Hinter den Vorhängen hat die Nacht den Himmel noch nicht freigegeben. Erschöpft von einem unruhigen Schlaf tapse ich ins Badezimmer. Das kühle Wasser der Dusche weckt meine Lebensgeister nur im Ansatz. Ich hatte gehofft, mit dem Beginn eines neuen Tages Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Doch die Fragezeichen sind nicht weniger geworden. Ohne Evelyn wird sich daran auch so schnell nichts ändern.

Wüsste ich mehr über unsere Familiengeheimisse, wenn mein Leben in New York stattgefunden hätte?

Nur vier Wochen nachdem Dad und mein Bruder Aaron bei dem Autounfall starben, brach Mum alle Zelte hinter sich ab und kehrte mit mir nach Deutschland zurück. Damals war ich vier. Ich erinnere mich nicht mehr an diese Zeit. Genauso wenig wie an meine Großeltern. Immer wenn dieses Thema auf den Tisch kam, hat Mum dasselbe erzählt. Schon als Dad noch lebte, haben sie sich von ihnen distanziert. Als fanatisch und realitätsfremd hat Mum sie bezeichnet. Naja, wenn man lang genug nur Schlechtes von Menschen hört, verliert man irgendwann das Interesse. Bis Evelyns Brief eintraf.

Ich nehme ein Glas aus dem Badezimmerschrank, fülle es mit Wasser und werfe eine Aspirin hinein. Während die Tablette sich zischend auflöst, überlege ich, was mit dem Ring geschehen soll. Auf keinen Fall lasse ich ihn aus den Augen. Nicht, solange ich nicht weiß, was genau es mit ihm auf sich hat. Warum hat Evelyn ihn mir gegeben? Was meinte sie damit, als sie sagte, es sei mein Schicksal? Ich bin durcheinander. Einmal mehr wird mir klar, wie wenig ich sie kenne. Doch trotz allem habe ich ihr gegenüber eine gewisse Sympathie empfunden. Aber wenn der Ring tatsächlich etwas Besonderes ist, warum meldet sie sich nicht und erklärt mir seine Bedeutung? War es am Ende nicht Intelligenz, sondern vielleicht Kälte, die das Blau in ihren Augen so klar hat aussehen lassen? Daran will ich nicht glauben und nehme mir vor, sie am Nachmittag erneut anzurufen. Irgendwann muss doch mal jemand ans Telefon gehen.

Ich krame in meinem Schmuckkästchen nach einer etwas längeren Gliederkette. So kann ich den Ring am Körper tragen, ohne dass er für jeden gleich sichtbar ist. Ich binde mir die blonden Haare zum Pferdeschwanz. Ein letzter Blick in den Spiegel. Sollte gehen.

In der Küche treffe ich auf Mario. Gutgelaunt umarmt er mich. „Guten Morgen, Greta. Ihr habt gestern beide schon geschlafen, als ich nach Hause gekommen bin. Schön, dass ihr wieder heil gelandet seid. Was darf ich dir anbieten? Kaffee? Toast?“

„Sehr gern.“ Ich sehe ihm dabei zu, wie er mit geübten Fingern mein Frühstück zubereitet.

Inzwischen ist Mario so etwas wie ein Ersatzvater für mich und weil er und Mum unter der Woche in der Regel später aufstehen und ich normalerweise allein frühstücke, koste ich die Zeit bis auf die letzte Minute aus.

Als ich im Flur in meine Turnschuhe schlüpfe, öffnet sich Mums Schlafzimmertür. Müde lächelt sie mich an. Dann verliert sich ihr Lächeln. Ihre Gesichtszüge wirken wie versteinert. Die Augen sprühen vor Zorn. Verwirrt starre ich sie an.

„Was ist das da um deinen Hals?“, zischt sie.

Im ersten Moment weiß ich nicht, wovon sie spricht. Dann fällt mir der Ring ein. Erst da merke ich, dass die Halskette unter meinem Shirt hervorgerutscht ist. Das hat ja bestens funktioniert. Ich seufze innerlich. Wappne mich gegen eine Auseinandersetzung.

„Greta, warum hast du dieses Ding noch?“

„Weil ich ihn nicht in den Briefkasten geworfen habe. Evelyn hat ihn mir geschenkt.“

„New York war ein Fehler. Vergiss Evelyn. Sie vergiftet deine Gedanken. Nimm ihn ab und gib ihn mir! Sofort!“ Ihre Stimme duldet keine Widerworte.

Trotzdem erwidere ich: „Es ist nur ein Ring und er gehört jetzt mir.“

„Greta, benimm dich nicht wie ein trotziges Kleinkind! Gib mir den Ring!“

Du benimmst dich wie ein Kind. Schon in New York warst du unerträglich. Wenn ich dich frage, antwortest du nicht. Bist stur ohne Ende. Ich bin deine Tochter. Ich kann auch stur sein.“ Demonstrativ umschließe ich den Ring mit meinen Fingern. Fast im selben Augenblick strömt ein Kribbeln durch meinen Körper, ein Windstoß fährt durch meine Haare und hinter Mum fällt die Schlafzimmertür mit einem lauten Knall ins Schloss.

Erschrocken dreht sie sich um. Ich nutze den Moment der Ablenkung, lasse den Ring wieder unter meinem Shirt verschwinden, greife nach Jacke und Tasche und rausche aufgewühlt aus der Wohnung.

Auf der Straße bleibe ich kurz stehen, versuche mir einzureden, dass das, was gerade geschehen ist, Zufall war. Doch noch immer spüre ich ein leichtes Vibrieren in mir nachhallen. Was hat das alles zu bedeuten, und warum reagiert Mum derart aggressiv? Hasst sie Dads Eltern so sehr, dass sie mir nicht mal ein Erbstück gönnt? Oder weiß sie vielleicht sogar mehr über den Ring? Verdammt, wenn sie doch nur nicht jedes Mal gleich an die Decke springen würde, sobald es um meine Großeltern geht. Wie gern würde ich ihr Fragen stellen. Sie ist außer Evelyn die Einzige, die mir Antworten geben kann. Heute Abend werde ich versuchen, ihr ein paar davon zu entlocken. Hoffentlich hat sie sich bis dahin wieder beruhigt.

Die Straßen sind vollgestopft mit Autos. An den Ampeln geht es nur stoßweise voran. Auch auf dem Bürgersteig herrscht Hochbetrieb. Im Zickzackkurs laufe ich um entgegenkommende Menschen herum. Bei dem Wetter und dazu um die Uhrzeit, sind die Gesichter tief in Jacken und Schals vergraben. Trotzdem bilde ich mir ein, ihre Blicke auf mir zu spüren. Nicht nur wegen des Schreckens in der U-Bahn vom gestrigen Tag. Es ist eigenartig, aber vielleicht liegt es daran, dass ich das Gefühl habe, mich selbst von außen zu beobachten. Irgendetwas geht in meinem Leben vor sich, nur ist es nicht greifbar.

„Hey, wie geht’s dir?“ Lara nimmt mich in den Arm.

„Keine Ahnung“, gebe ich ehrlich zu.

„Ich konnte auch die halbe Nacht nicht schlafen. Die Geschichte ist einfach unglaublich. Diese Beerdigung, das komische Verhalten deiner Mum, dann dieser unheimliche Kerl und um das Ganze zu toppen, ein geheimnisvoller Ring.“

„Der geheimnisvoll bleibt, wenn ich Evelyn nicht erreiche.“

„Immer noch nichts?“

„Nein. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.“

„Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen.“

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Und es nicht zu wissen, quält mich. Vergeblich versuche ich mich auf den Unterricht zu konzentrieren, aber mir jagen tausend Gedanken durch den Kopf. Wie Laub, das durch einen Windstoß immer wieder aufgewirbelt wird und von selbst nicht in der Lage ist, zur Ruhe zu kommen.

Meine Laune verfinstert sich. Diese andauernde Unwissenheit nervt. Ich werde nicht zulassen, dass ein kleiner Ring mein Leben auf den Kopf stellt. Frustriert balle ich die Hände zu Fäusten und setze mich aufrecht hin. Noch bevor ich das Kribbeln wahrnehme, fliegen krachend die Fenster auf. Erschrockene Schreie hallen durch den Klassenraum. Der hereinströmende Wind reißt die Blätter von den Tischen und wirbelt sie durch die Luft. Ungläubig beobachte ich die Szene. War ich das?

Ich starre auf meine Hände, sehe mich dann im Raum um. Neben mir sitzt Lara. Unsere Blicke treffen sich. Meine Verwirrung spiegelt sich in ihrem Gesicht.

„Alles okay mit dir?“ Lara sieht mich besorgt an.

„Ich …“ Meine Stimme versagt, während mein Kreislauf in den Keller sackt.

Lara wendet sich an unsere Lehrerin. „Greta sollte sich hinlegen. Sie ist ganz blass.“

Noch immer irritiert durch die merkwürdige Unterbrechung ihres Unterrichts, nickt Frau Pauli. Langsam stehe ich auf und gehe unter den neugierigen Blicken der anderen zur Tür. Lara stützt mich, lässt mich auch auf dem Flur nicht los.

„Wie krass das eben war. Hast du so was schon erlebt? Da hat der kleine Windstoß den kompletten Unterricht lahmgelegt.“ Lara kichert.

„Ich denke, der Wind … das war ich.“

Laras Kichern endet abrupt. Sie zieht an meinem Ärmel. Wir bleiben stehen. „Wie meinst du das?“ Sie erforscht mein Gesicht nach Anzeichen für einen Scherz. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass sie außer einen Hauch von Hysterie etwas finden wird.

„Wie ich es sage. Es …“

Hinter uns öffnet sich eine Tür. Ich verstumme und setze mich wieder in Bewegung. Laut ausgesprochen klingt diese Vermutung absolut verrückt. Lara hat es offensichtlich die Sprache verschlagen, denn sie hakt vorerst nicht weiter nach. Im Krankenzimmer angekommen, lege ich mich auf eine Liege. Noch immer sind meine Beine nicht so standfest wie sie sein sollten.

Lara setzt sich neben mich und flüstert mit aufgeregter Stimme. „Du willst mir also sagen, dass du die Fenster geöffnet hast? Ohne sie anzufassen?“

„Ja. Das klingt total dämlich, ich weiß.“

„Egal, erklär es mir trotzdem.“

Seufzend schaue ich auf die nicht mehr ganz so weiße Decke über mir und schildere Lara meine Vermutung. Ich erzähle ihr von dem Kribbeln, sobald ich den Ring über den Finger streife. Und dass genau dieses Kribbeln heute schon zweimal aufgetreten ist, bevor in meiner Nähe eine Tür zu- oder Fenster aufgeflogen sind.“

„Dann hast du dank des Rings also eine Art Superkraft entwickelt?“

Ich schaue sie hilflos an. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, ich bilde mir das alles keinesfalls ein.“

„Ich glaube dir.“ Lara greift nach meiner Hand. „Aber genau deshalb sollten wir dringend an mehr Infos kommen.“

Wir. Das Wort beruhigt mich. Ich bin nicht allein, egal, welche Katastrophe sich in meinem Leben auch gerade entwickeln mag.

„O Mann, wer weiß, woher deine Familie wirklich stammt.“ Laras Blick gleitet vielsagend zur Zimmerdecke empor.

„Außerirdische? Echt jetzt?“

Sie zuckt nur mit den Schultern und grinst. „Wäre doch cool.“

„Ähm, ja …“ Ich seufze und beiße mir nachdenklich auf die Innenseite meiner Unterlippe.

„Na gut, das Wort cool ist vielleicht nicht angebracht.“ Sie schweigt kurz. „Denn wenn da wirklich etwas mit dir geschieht, lässt dich deine Familie damit ziemlich im Regen stehen.“

Laras Worte treffen mich, aber leider entsprechen sie der Wahrheit.

„Kannst du es wiederholen?“

„Keine Ahnung, aber auf keinen Fall hier.“ Ich setze mich auf. „Gehen wir erstmal zurück.“

Im Klassenzimmer versuche ich vergeblich, meine Gedanken zu ordnen. Das schrille Klingeln der Schulglocke erlöst mich. Ich brauche Bewegung und frische Luft. Wie eine Herde aufgescheuchter Wildpferde galoppieren die Gedanken durch meinen Kopf. Mit schnellen Schritten bin ich aus der Klasse. Im Strom hunderter anderer Schüler treibe ich die Treppe hinunter Richtung Ausgang. Dort befreie ich mich aus der Masse. Nur Sekunden später taucht Lara neben mir auf und wir machen uns auf den Weg zum Parkhaus. Wir versuchen uns mit oberflächlicher Unterhaltung von dem eigentlichen Thema abzulenken. Dort angekommen schaut Lara mich jedoch erwartungsvoll an. Mit kalten Fingern löse ich den Verschluss der Kette und lege den Ring in meine Hand.

„Darf ich?“, fragt Lara.

„Sicher.“

Sie schiebt ihn über den Ringfinger und wartet. „Mich mag er wohl nicht.“

„Du Glückliche.“

„Hier, versuch es.“

Ich greife danach und streife ihn über. Sofort spüre ich die Verbindung. Das Gefühl ist stärker als die beiden Male zuvor. Die Geräusche um mich herum dringen nur noch gedämpft an mich heran. Ich schließe die Augen. Die Luft gerät in Schwingung. Das leichte Rauschen in meinen Ohren wird zu einem Flüstern. In diesem Augenblick bin ich mir sicher, es ist der Wind, den ich bis tief in mich hinein spüre. Ein Gefühl von Schwerelosigkeit erfasst meinen Körper. Und erfüllt gleichzeitig jede Zelle mit Energie. Doch bevor ich begreife, was hier geschieht, strömt diese Energie durch mich hindurch. Mit unbändiger Kraft nimmt sie von mir Besitz. Mein Puls schießt in die Höhe. Ich kann es nicht kontrollieren, will, dass es wieder aufhört, weiß aber nicht, wie ich es stoppen kann. Das anfängliche Flüstern in meinen Ohren wird zu einem unerträglich schmerzhaften Heulen.

„Greta.“

Wie durch Watte höre ich Lara meinen Namen rufen. Ich kämpfe mich durch den Sturm, der in mir tobt und öffne die Augen. Sie sitzt auf dem kalten Beton, mit dem Rücken an die Fassade des Parkhauses gelehnt und hält sich schützend die Hände vors Gesicht. Wind peitscht über uns hinweg. Mit letzter Kraft ziehe ich mir den Ring vom Finger und sacke zu Boden. Schon nach wenigen Sekunden hat sich die Natur beruhigt und die Geräusche der Großstadt, die an uns herandringen, haben fast etwas Beruhigendes.

„Scheiße, was war das denn?“

Irritiert blicke ich mich um. Im Schutz eines Pfeilers steht Finn, ein Typ aus unserer Klasse. Er kommt näher, lässt mich dabei nicht aus den Augen.

„Bei dir alles in Ordnung?“ fragt er in Laras Richtung, die nun wieder steht.

Lara nickt und läuft zu mir. Ich bin völlig entkräftet und nicht in der Lage, mich zu bewegen.

„Was ist mit dir?“, will sie wissen. „Geht es dir gut?“

„Nein.“ Tränen brennen in meinen Augen. Vor Erschöpfung, aus Angst oder Erleichterung, dass niemandem etwas geschehen ist. Vom allem ein bisschen vermutlich. „Das war beängstigend.“

„Was genau war das denn nun?“, will Finn abermals wissen. „Scheiße, du hättest uns alle umbringen können.“

„Hör auf zu fluchen und lass Greta in Ruhe“, verteidigt Lara mich. „Was willst du überhaupt hier?“

Finn greift in seine Jackentasche und lässt Kopfhörer in seiner Hand hin und her baumeln, bevor er sie Lara reicht. „Die hast du auf dem Tisch liegenlassen. Ich bin hinter dir her, um sie dir zu bringen. Außerdem war ich neugierig, warum ihr es so eilig hattet wegzukommen. Warst du das vorhin in der Klasse auch?“, wendet er sich wieder an mich.

Leugnen wäre eine Option, aber aufgrund des gerade Erlebten ziemlich aussichtslos. Mein Schweigen deutet Finn als ein Ja.

„Oh Mann, bist du jetzt Berlins Supergirl? Wie hast du das gemacht?“

„Finn, bitte. Du siehst doch, dass es ihr nicht gut geht. Hilf mir lieber, sie nach Hause zu bringen.“

„Wenn ihr mir im Gegenzug Details liefert?“

„Finn!“

„Schon gut, ich helfe auch ohne Gegenleistung. Obwohl … so ein Kuss …“

Ich muss lächeln. Es tut gut, in diesem Chaos ein wenig Normalität zu entdecken. Finn stand schon auf Lara, da war sie kaum einen Tag in unserer Klasse. Erst vor Kurzem hat sie mir anvertraut, dass sie sich inzwischen ebenfalls mehr vorstellen könnte.

„Ich überlege es mir.“ Ihre Mimik ist nicht zu deuten, doch ihre Augen funkeln. „Dann zeig mal, wie heldenhaft du sein kannst.“

Finn und Lara helfen mir auf. Ich stecke den Ring in die Hosentasche. Noch immer spüre ich die Nachwirkungen. Dieser Anfall oder wie auch immer man es nennen mag, hat mich immense Kraft gekostet. Als hätte die Energie, die ich in mich aufgenommen habe, meine kompletten Reserven angezapft, als sie verpufft ist. Mit wackeligen Beinen klettere ich die Eisentreppe nach unten. Erst allmählich nehme ich die Kälte wahr, die meinen Körper zum Zittern bringt.

Den gesamten Weg hakt Finn mich bei sich unter. Lara läuft auf der anderen Seite und lässt mich nicht aus den Augen. Keiner spricht ein Wort, während zum ersten Mal seit Tagen die graue Wolkendecke aufreißt und ein Stück blauen Himmel freigibt. Unter anderen Umständen würde ich mich darüber freuen. Doch ich kann nur daran denken, was eben geschehen ist. Ich hatte recht, der Ring ist etwas Besonderes. Er scheint eine Verbindung zur Natur zu haben, zum Wind und er setzt Kräfte in mir frei, die ich nicht kontrollieren kann. Dieses Wissen ruft eine nie dagewesene Angst in mir hervor.

Das Treppenhaus ist leer und still. Unsere Schritte hallen laut darin wider. Ich bin froh, endlich zu Hause zu sein. Lara und Finn treten zur Seite, damit ich aufschließen kann. Noch immer zittert meine Hand. Ich schiebe die Tür auf und gehe hinein. Ungefähr eine Nanosekunde später stellen sich meine Nackenhaare auf. Das unangenehme Kribbeln ist wieder da. Dann höre ich auch schon Lara hinter mir die Luft scharf einziehen. Beim Anblick der Wohnung wird uns allen sofort klar, dass etwas nicht stimmt. Aus dem Kommodenschrank im Flur wurden alle Schubladen herausgezogen. Der Inhalt ergießt sich über den Boden. Ein Blick in die Küche zeigt mir, dass auch hier jemand drin gewesen ist. Finn hält mich am Arm fest und schiebt sich an mir vorbei. Seine große, kräftige Gestalt wirkt beruhigend. Ich bin dankbar, dass er jetzt hier bei uns ist.

Die Tür zum Wohnzimmer ist angelehnt. Mit dem Fuß stößt Finn dagegen. Sie schwingt auf. Dahinter befindet sich das pure Chaos. Fassungslos lege ich mir die Hand vor den offenen Mund. Da hat jemand ganze Arbeit geleistet. Nicht ein einziges Teil scheint noch an seinem Platz zu sein. Sprachlos starre ich in den Raum hinein, während Lara und Finn sich das ganze Ausmaß näher ansehen.

Ohne auf die beiden zu warten, drehe ich mich um. Ich ahne, dass mein Zimmer der gleichen Verwüstung zum Opfer gefallen ist. Aber ich muss es mit eigenen Augen sehen. Die Tür steht offen. Eine Gänsehaut bildet sich auf meinem Körper. Das ungute Gefühl, welches ich beim Eintreten in die Wohnung bereits verspürt habe, verstärkt sich. Meine Handflächen sind feucht. Dann stehe ich in meinem Zimmer und die Vermutung bestätigt sich. Auch hier ist jemand nicht zimperlich mit dem Eigentum anderer Menschen umgegangen. Er sucht nach dem Ring, meldet sich meine innere Stimme zu Wort. Es ist nur eine Ahnung, aber nach allem, was ich inzwischen weiß, kann ich es nicht mehr ausschließen.

Im nächsten Augenblick mache ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung aus. Ehe ich zu irgendeiner Reaktion fähig bin, wird mein Körper mit Wucht gegen die Zimmerwand geschleudert. Benommen sacke ich zu Boden.

Diamond Legacy

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