Читать книгу Das Tagebuch der Jenna Blue - Julia Adrian - Страница 20

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»Ich wusste, dass es dir steht!«

Scarletts Mund lächelt, doch ihre Augen sind so ausdruckslos wie mein Gesicht. Nebeneinander stehen wir vor dem Spiegel, der jede Ballerina vor Neid erblassen ließe. Wie Scarlett es aushält, sich durchgehend selbst zu betrachten – am Schreibtisch, beim Umziehen, im Bett –, ist mir schleierhaft. Ich würde mich beobachtet fühlen.

Vielleicht ist es gerade das, was ihr gefällt.

Vielleicht kann sie nicht mehr ohne.

»Was sagst du dazu?« Sie zupft den Träger auf meiner Schulter mit spitzen Fingern zurecht. Ich weiß nicht, wann wir uns das letzte Mal so nah waren. Ich erinnere mich nicht einmal daran, wie sie sich anfühlt. Der Gedanke, ihre Hand zu halten, sie gar in den Arm zu nehmen, ist so surreal, dass ich unweigerlich einen Schritt zur Seite trete. Scarlett quittiert es mit einer gehobenen Braue.

»Gefällt es dir nicht?«

Nein. »Doch.« Ich betrachte mich im Spiegel.

Ich trage niemals Rot. Es ist Scarletts Farbe. Ihre Schuhe, ihr Haarreifen, ihr Mantel. Ihre Farbe. Selbst in der Schule wagt niemand darauf zurückzugreifen. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz. Rot liegt ihr im Blut. Oder besser noch: im Namen. Mich in diesem Kleid zu sehen, fühlt sich an, als würde ich ihre Haut tragen.

»Vertrau mir«, sagt sie und streift sich das Top über den Kopf. »Es ist perfekt.«

»Was ziehst du an?«

»Ich gehe nackt«, scherzt sie und stellt sich neben mich, als sei es ihr tatsächlich ernst. Das Gefühl, im falschen Körper zu stecken, wird durch den Kontrast der Farben verstärkt: sie lilienbleich, ich blutrot. Als wären wir durch den Spiegel in ein verdrehtes Wunderland gefallen, fragt sich nur, wer den Kopf verliert.

Ich? Oder sie?

Zu meinem Entsetzen greift sie auch noch zu dem alten Stoffhasen, den sie von Geburt an besitzt. Das Fell, ehemals flauschig weiß, ähnelt mehr dem eines Kadavers, dem Gesicht fehlt ein Auge und Wolle quillt wie Gedärm aus einem Riss, den sie stets verbot zu flicken.

»Wie spät ist es?«, frage ich.

»Zu früh«, sagt sie und winkt ihrem Spiegelbild mit der Hasenpfote zu. Wahrscheinlich existiert in jedem Haushalt ein solches Kuscheltier, dessen Ablaufdatum längst überschritten ist, das dennoch nicht entsorgt werden kann; zu viele Erinnerungen sind daran geknüpft, zu viele Tränen hat es aufgesogen, zu viele Nachtmahre in die Flucht geschlagen – falls Scarlett je Albträume hatte.

Was ich bezweifle. Nicht Scarlett.

Ich selbst besitze kein solches Tier. Kein Kissen. Keine Decke. Nichts. Anna sagt, ich hätte nie etwas gebraucht, ich hätte gar alles, was sie mir als Kind ins Bett legten, wieder hinausgeworfen. Vielleicht hat sich bereits darin mein Hang zur Einsamkeit angedeutet, so wie in Scarletts Hasen die Eigenheit, ihren Freunden alles abzuverlangen. Zerliebt nennt sie den Zustand, in dem er ist.

Zerstörerische, vernichtende Liebe.

Entspannt greift sie nach einem ultrakurzen Paillettenkleid, das ich noch nie an ihr gesehen habe – und auch nicht in ihrem Schrank, dabei kenne ich jedes Kleidungsstück. Beinahe zwanghaft suche ich ihr Zimmer auf, sobald sie das Haus verlässt. Ich weiß, in welcher Schublade sie ihre Unterwäsche aufbewahrt und was sie zwischen den Seidenstoffen versteckt. Ich kenne den Inhalt ihres Schreibtisches so gut wie den ihres Mülleimers oder den der Briefe, die sie regelmäßig an Mutter schreibt. Sie sind kurz und knapp, mehr eine distanzierte Zusammenfassung der Erlebnisse, denn der Versuch echter Teilhabe. Ich weiß nicht, wozu sie die Briefe schreibt; genauso wenig wie ich weiß, woher das Kleid stammt.

Scarletts Mund verzieht sich spöttisch. »Ein Geschenk.«

Als wüsste sie, dass ich stöbere. Dass ich sie dafür verachte, wie leichtfertig sie Geld ausgibt. Papas Staatshilfe reicht kaum für die Nebenkosten. Anna führt Buch über alle Ausgaben und einigen Dorfbewohnern den Haushalt, um das Nötigste dazuzuverdienen. Ich trage meinen Teil bei, indem ich den örtlichen Friedhof pflege, das Gras stutze und die Grabsteine säubere.

Nur Scarlett … ist eben Scarlett.

»Schau nicht so.« Sie wedelt meinen Vorwurf davon, ehe ich ihn in Worte fassen kann. »Heute Abend haben wir Spaß, du wirst schon sehen.«

In mir wächst ein kleiner drückender Knoten, den ich verzweifelt zu ignorieren versuche. Sie ist all das, was ich nicht bin. Unbekümmert. Frei. Sorglos. Beliebt. Sie fühlt sich wohl in ihrer Haut, besitzt Freunde, die ihr etwas schenken, und einen Freund, der ihr verfallen ist. Alle sind das, einfach weil sie sie ist. Und ich bin ich.

Und manchmal ist das einfach scheiße.

Sie reicht mir einen Lippenstift. »Sie werden dir zu Füßen liegen.«

Ich widerstehe dem Drang, ihn aus dem geöffneten Fenster zu schmeißen und den Abend zu streichen. Anna zuliebe.

Während des Abendbrots verlor sie kein Wort darüber, doch ihr Blick sprach Bände. Geh mit. Ob sie wirklich glaubt, dass ein Abend etwas ändert, wage ich zu bezweifeln. Anna ist pragmatischer Natur, nicht umsonst hat sie uns die letzten Jahre getrennt.

Scarlett, in dein Zimmer, Jenna, ab in den Garten.

Scarlett, komm mit mir, Jenna, bleib bei Papa.

Scarlett hier, Jenna da.

Wir teilen nichts. Kein Hobby, keine Freunde, ja, nicht einmal das Badezimmer. Scarlett nutzt das, welches Papa kurz vor Mamas Verschwinden renovierte, ich das mit der Wanne und dem Fisch. Einzig die gemeinsamen Abendessen fallen aus dem Muster, auf die besteht Anna aus unerfindlichen Gründen und wir nehmen klaglos teil: Anna zuliebe. Auch das hat System. Der Grund, warum wir uns bisher am Leben ließen und die Existenz der anderen stillschweigend dulden: Anna zuliebe.

Sie hält uns zusammen.

Deshalb stehe ich hier und trage das Kleid, nach dem es Maria verlangt. Die Vorstellung ihrer Enttäuschung, sollte sie mich darin sehen, verschafft mir auf unerklärliche Weise Genugtuung. Der Schlafmangel ist schuld. Er bringt die schlechtesten Seiten in mir zum Vorschein, die ich am liebsten Scarlett zuschreiben würde.

»Der Stift trägt sich nicht von allein auf«, neckt sie und der Knoten in meinem Magen wiegt schwerer, weil ich ihr selbst jetzt, da wir uns gemeinsam vorbereiten, nur die niedersten Motive unterstelle. Ich suche geradezu nach dem Haken, der Falle, dem Grund, warum sie nett zu mir ist.

Rasch trage ich den Lippenstift auf. Was ich im Spiegel erblicke, gefällt mir. Meine Züge sind zwar nicht so fein wie Scarletts, doch meine Augenfarbe ist schöner und mein Mund überraschend sinnlich. Wahrhaftig. Das Rot ist magisch.

»Du siehst aus wie Mama.« Die Gesichtszüge entgleisen mir. Scarlett lacht. »Kein Grund zur Panik. Das ist gut. Mama ist wunderschön.«

»War«, korrigiere ich automatisch.

»Ist«, hält Scarlett dagegen. Sie hasst, dass ich unsere Mutter als verstorben betrachte. Mir hingegen ist die Vorstellung unerträglich, dass sie irgendwo in der Welt herumspaziert, wohl wissend, dass es uns gibt, es ihr aber schnurzpiepegal ist. »Ich habe noch eine passende Tasche«, wechselt Scarlett in unverfängliche Gefilde.

»Kein Bedarf.«

Skeptisch hebt sie die Brauen. »Und deine Sachen?«

»Welche Sachen?«

»Lippenstift, Deo, Tampons, Taschentücher, Kondome.«

»Kein Bedarf.«

»Zumindest dein Smartphone solltest du mitnehmen!«

»Ich besitze keins.«

Ihr fallen fast die Augen aus dem Kopf. »Ernsthaft?«

Ich schweige dazu. Was könnte ich auch sagen? Dass es an nur drei Orten unseres Dorfes Empfang gibt? Das würde sie nicht überzeugen, immerhin gelten dieselben Bedingungen für sie. Es ist viel erbärmlicher. Abgesehen davon, dass ich es mir nicht leisten könnte (und keine Ahnung habe, wie ihr die Finanzierung gelang), wüsste ich nicht, mit wem ich Kontakt halten sollte. Mit Maria? Nein danke.

Scarlett starrt mich ein paar Herzschläge lang an, dann gibt sie nach. Punkt für mich. Welch denkwürdiger Tag.

»Können wir los?«, frage ich, was ihr ein selbstzufriedenes Lachen entlockt.

»Wir werden abgeholt. Von Derek.«

Derek, der Junge mit dem Ball, hat mir gerade noch gefehlt. »Weiß er, wo wir wohnen?«

»Natürlich nicht. Er holt uns beim Spukhaus ab.«

Diesmal schießen meine Brauen in die Höhe.

»Nicht so herablassend«, tadelt sie und kommt mir dabei selbst schrecklich überheblich vor. »Er weiß selbstverständlich, dass wir nicht dort wohnen. Es ist lediglich der Treffpunkt. Es ist schwer genug für ihn, überhaupt hierherzufinden.«

Ob das an der Unsichtbarkeit unseres Dorfes oder dem Verstand ihres Freundes liegt, wage ich nicht zu fragen. Scarlett mag Derek. Derek mag Scarlett. Heute fährt er uns zur Party. Uns – wie seltsam das klingt.

»Dann lass uns gehen«, versuche ich es erneut, »zum Spukhaus, meine ich.«

»Er kommt in einer Stunde«, klärt sie mich auf. »Wir haben Zeit.« Sie schnappt sich ihre winzige Handtasche (in die unmöglich passt, was sie vorhin aufgezählt hat) und tritt zum Fenster, unter dem das Stalldach liegt. »Folge mir.«

Wie sie es in dem extrakurzen Paillettenkleid auf den Fenstersims und hinaus schafft, ist mir ein Rätsel. Ich brauche drei Anläufe und fürchte bis zuletzt, dass ich dabei mein Tagebuch verliere. Ich lasse es niemals aus den Augen, selbst dann nicht, wenn Scarlett in meiner Nähe ist und ich es in Sicherheit weiß. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Als ich den Giebel erreiche, sitzt sie bereits da, in der einen Hand ihr Smartphone, in der anderen eine glühende Zigarette.

»Auch eine?«, fragt sie und bläst den Rauch in den dunkelnden Himmel.

»Weiß Anna davon?«

»Himmel, nein! Und du wirst nichts sagen, verstanden?«

»Zu Befehl«, erwidere ich zynisch und sinke neben ihr nieder. Unter uns liegt der Hof, eine verwilderte Betonfläche, die im Schatten des Stalls versinkt. Gras sprießt aus sämtlichen Ritzen, Löwenzahn und Vergissmeinnicht erobern trotzig den unwirtlichen Grund. Dass etwas so Unscheinbares wie ein Samenkorn Betonplatten zu sprengen vermag, gibt mir den Mut, nicht aufzugeben.


Das Tagebuch der Jenna Blue

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