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Das Verschwinden

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Es war acht Uhr morgens. Die Rollläden des Schlafzimmers zur Nordseite des Hauses wurden geöffnet. „Gerade noch rechtzeitig!“, sprach Amelia in einem Monolog vor sich hin. „Nicht dass die Nachbarn noch die Polizei rufen, weil sie meinen, mir wäre etwas passiert.“

Die Nachbarn. Das waren die Bewohner der Frühlingsstraße im beschaulichen Dorf Mühnacker. „Wie bist du da nur hin gekommen?“ fragte einmal Kerstin, Amelias Freundin aus der Schulzeit am Telefon. Kerstin wohnte mittlerweile in München und war zu einer richtigen High-Society-Lady geworden. Diese Frage stellte sich Amelia nun auch schon seit einiger Zeit.

In Mühnacker war das Zusammenleben einfach und zugleich kompliziert. Einfach, weil man aufeinander Acht gab. Kompliziert, weil man nicht darauf Acht gab, dass Niemandem etwas passierte, sondern vielmehr darauf, dass man das Geschehene mitbekam und gleich der nächsten Nachbarin erzählen konnte. Diese Geschichte wurde dann brühwarm mit leichten Veränderungen und etwas mehr Dramatik der nächsten Nachbarin weitergeleitet. Das geschah vor oder nach der Kirche, manchmal auch währenddessen, vorm Kindergarten, wenn die Mütter noch einige Minuten beisammen standen und ihr tägliches Pläuschchen abhielten oder wo auch immer ein Platz im Dorf vorhanden war, an dem man stehen und sich unterhalten konnte.

Manchmal sah Amelia beim Vorbeifahren die älteren Damen an ihren Fenstern sitzen, um auf ein neues Opfer zu warten und den neuesten Klatsch und Tratsch weiter zu geben. Durch die stetige Veränderung der ursprünglichen Geschichte kamen einige Male recht kuriose Geschichten heraus. Letztens erst wurde Kai, Amelias Nachbarsjunge, auf seinem Schulweg von Brunhilde angesprochen, wie es ihm denn nach der schweren OP ginge. „Hat sich der Krebs weiter ausgebreitet, als angenommen?“ war der Höhepunkt der Befragung. „Ich habe meine Mandeln raus bekommen!“ antwortete der Junge trotzig. Brunhilde lief schnell davon, eine passende Antwort darauf war ihr nicht eingefallen. Und die Röte in ihrem Gesicht konnte sie auch schlecht kaschieren.

Genau aus diesen Gründen öffnete Amelia, wie gewohnt, ihre Rollläden um punkt acht Uhr morgens an einem sonnigen Aprilmorgen.

Schlurfend ging sie die Treppe hinunter in die Küche, um ein spärliches Frühstück zu sich zu nehmen. Dies bestand aus Kaffee, einer sehr großen Tasse Kaffee, einem kleinen Glas Orangensaft, Vitamine mussten schließlich sein und einem Salamibrot.

Ihr Mann Ralf war bereits zur Arbeit gefahren und so hatte sie das Haus für sich. Ralf war auch der Grund, warum es sie nach Mühnacker verschlagen hatte. Vor zwei Jahren hatten sie geheiratet, ein Paar waren sie bereits seit sechs Jahren. Ralf war 1,82m groß, hatte schwarze Haare, blaue Augen und arbeitete in einer Bank im Nachbarort. Er war schon immer ihr Traummann gewesen.

Amelia und Ralf kannten sich schon seit der Schulzeit und sie hatte schon immer für ihn geschwärmt, bis vor sechs Jahren jedoch unerwidert. Wenn sie jemals jemanden heiraten wollte, dann ihn.

So kam es, dass Amelia ihre Anstellung als Grundschullehrerein aufgab, um zusammen mit Ralf ihr Leben in Mühnacker zu verbringen. Schon seit zwei Jahren suchte sie nun schon nach einem Job in den Schulen der Nachbargemeinden, jedoch ohne Erfolg. So gab sie sich vorübergehend mit dem Dasein als Hausfrau zufrieden.

Ralf verdiente genug als Filialleiter einer Bank um ihnen beiden ein gutes Leben zu ermöglichen und den Hauskredit abzubezahlen.

Amelia ging nach dem Frühstück ins Bad um sich fertig zu machen. Nachdenklich stand sie vor ihrem Spiegelbild und blickte in ihr hübsches Gesicht, das von langen braunen Haaren umrandet wurde. „Noch keine einzige Falte ihm Gesicht und schon Hausfrau!“ Sie hing noch etwas diesem Gedanken nach, während sie sich ihre Haare bürstete und zu einem Zopf band. Sie beschloss diesen Gedanken zu verdrängen und verabschiedete sich achselzuckend von ihrem Spiegelbild.

In der Küche angekommen kontrollierte sie den Kühlschrank und die Vorräte, um sich anschließend mit einem Einkaufszettel bewaffnet auf den Weg zum Supermarkt zu machen.

Amelia wollte gerade von ihrer Einfahrt auf die Straße abbiegen, da kam ihr ihre Nachbarin Miriam mit wedelnden Händen entgegen. Amelia öffnete ihr Fenster. Außer Atem kam Miriam bei ihr an. „Hast du heute Kai gesehen?“. Amelia war verwundert über diese Frage. Miriam hatte immer ein wachsames Auge auf ihren achtjährigen Sohn. „Nein, tut mir Leid, Miriam. Ich habe ihn heute noch nicht gesehen. Ist etwas passiert? Müsste er nicht schon in der Schule sein?“, antwortete Amelia leicht besorgt. „Ich weiß nicht. Heute Morgen lag er nicht in seinem Bett, als ich ihn wecken wollte. Er ist einfach verschwunden!“

Tränen füllten sich in den Augen der besorgten Mutter. Amelia fand, dass der Einkauf warten konnte und nahm Miriam in ihre Arme, nachdem sie das Auto abgestellt hatte.

„Alles wird wieder gut. Beruhig dich erst mal wieder. Es gibt bestimmt eine Erklärung dafür. Komm erst mal mit rein.“ Miriam nickte mit tränenüberströmten Augen und ließ sich von Amelia ins Haus führen.

Amelias Wohnzimmer war sehr gemütlich eingerichtet. Alles war in Erdtönen gehalten und viele kuschelige Kissen lagen auf dem Sofa. Darauf nahm Miriam Platz und nahm den Tee, den Amelia gekocht hatte dankend an.

„Wann hast du Kai denn das letzte mal gesehen?“, fragte Amelia, nachdem sie neben Miriam Platz genommen hatte. „Gestern Abend. Ich habe ihn wie immer ins Bett gebracht und ihm eine Geschichte vorgelesen. Ich weiß, er ist zu alt dafür. Aber wir haben das schon immer so gemacht.“ Dieser Gedanke löste in Miriam wieder eine kleine Tränenschleuse.

„Hast du schon in der Schule angerufen? Vielleicht ist er dort.“ Miriam antwortete schluchzend: „Nein. Er war ja heute Morgen nicht mehr in seinem Bett, als ich ihn wecken wollte. Aber ich denke ein Anruf kann nicht schaden.“

Miriam beruhigte sich etwas und wählte auf ihrem Handy die Nummer von Kais Schule. Amelia blieb ruhig neben ihr sitzen und lauschte dem Gespräch, das Miriam wohl mit dem Sekretariat führte. „Die Sekretärin ruft mich gleich zurück. Sie fragt die Klassenlehrerein.“, antwortet Miriam auf Amelias fragenden Blick hin, nachdem sie aufgelegt hatte. Und so warteten die beiden Frauen auf den ersehnten Rückruf und schlürften etwas heißen Tee. Miriam mit zittrigen Händen und Amelia mit einem mulmigen Gefühl.

Eine halbe Ewigkeit später, tatsächlich waren nur 10 Minuten seit dem Anruf vergangen, klingelte das Handy schrill in der stillen Umgebung. Sofort nahm Miriam das Gespräch an.

„Er ist heute nicht zur Schule gekommen.“, bestätigte Miriam Amelias Vermutung nach dem Anruf. Während des Wartens auf den Rückruf hatte sich Miriam etwas entspannt, doch nach dieser Hiobs-Botschaft brachen wieder alle Dämme. Amelia drückte sie fest an sich und sprach mit klarere Stimme: „Dann werden wir jetzt die Polizei anrufen, damit die eine Vermisstenmeldung rausschicken.“ „Ich kann nicht!“, schrie die verzweifelte Mutter heraus.

10 Minuten versuchte Amelia die weinende Frau zu beruhigen und hatte schließlich auch etwas Erfolg damit. Mit zittrigen Händen griff Miriam zum Telefon und wählte die Nummer der nächsten Polizeidienststelle. Aufgeregt schilderte sie den Sachverhalt. Plötzlich schrie sie ins Telfon:“ Was soll das heißen? Noch nicht lange genug weg? 24 Stunden?“ Amelia war erschrocken zusammengezuckt. Aufgeregt lauschte Miriam weiter den Erklärungen des Beamten, bis sie sich schließlich bedankte und das Gespräch beendete. Sie wiederholte Miriam das Gesagte: „Sie werden erst nach 24 Stunden eine Vermisstenmeldung schreiben. Zu viele Kinder büchsen von zu Hause aus und sind nur wenige Stunden weg. Aber Kai macht doch so was nicht! Kai ist immer ein lieber Junge!“ Miriams Stimme brach.

Amelia wusste nicht mehr was sie tun sollte. So saß sie einfach da und wartete bis Miriam sich wieder beruhigt hatte.

Die besorgte Mutter hatte ihre Sprache wieder gefunden und beschloss mit fester Stimme: „Dann suchen wir Kai eben selbst!“

So fügte sich Amelia ihrem Schicksal und stieg mit Miriam in ihr Auto. „Ich rufe nur schnell Ralf an, damit der sich keine Sorgen macht, wenn er nach Hause kommt und ich bin nicht da!“ Das brachte Miriams Fass zum Überlaufen. Ihr Mann, Kais Vater, war vor sechs Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. „Wenn Holger doch noch bei uns wäre! Der wüsste was zu tun ist!“ Miriam versuchte die aufgewühlte Mutter zu beruhigen. „Wir schaffen das schon! Wir Frauen müssen doch zusammen halten. Wir werden Kai finden.“ Dies gab Miriam etwas Mut.

Nach fünf Minuten Autofahrt in der Siedlung, in der die beiden wohnten, fragte Amelia vorsichtig, welchen Weg sie nun einschlagen sollten. „Ich weiß es nicht!“, antwortete Miriam mit belegter, jedoch ruhiger Stimme. „Vielleicht sollten wir wieder nach Hause fahren. Vielleicht wartet Kai dort schon auf mich und alles war nur ein Missverständnis.“

Doch in der Frühlingsstraße angekommen war Miriams Haus leer. Kai war nicht zurückgekommen. Niemand saß am Küchentisch und Kais Bett war wie am Morgen verlassen.

„Seltsam ist das schon. Macht Kai immer sein Bett so ordentlich?“, machte Amelia ihre Nachbarin auf das säuberlich gefaltete Bett aufmerksam. „Nein, eigentlich nicht. Das mache immer ich, wenn Kai zur Schule gegangen ist. Vielleicht habe ich das heute Morgen auch gemacht aus reiner Gewohnheit.“ Amelia nahm die Antwort so hin und beschäftigte sich nicht mehr damit.

„Wollen wir mal schauen, ob Kais Sachen noch alle da sind? Vielleicht finden wir ja so einen Hinweis darauf wo er sein könnte.“ So durchsuchten sie Kais Zimmer, öffneten jede Schublade, doch fanden nichts Außergewöhnliches. „Oh, eine Sache fehlt!“, warf Miriam ein und zeigte auf das gemachte Bett. „Sein Lieblingsteddy. Den braucht er immer zum Einschlafen.“

Amelia durchsuchte das Bett genauer, doch auch sie fand vom Teddybären, den Kai „Herr Braun“ nannte, keine Spur.

„Habt ihr euch gestritten? Vielleicht ist Kai wirklich weg gelaufen und hat sein Kuscheltier als moralische Unterstützung mitgenommen?“, fragte Amelia vorsichtig. „Nein, wir streiten uns nie. Es war alles wie immer.“

So setzten sich die beiden an den Küchentisch und dachten darüber nach wie sie weitere vorgehen sollten.

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