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Die Laterne
ОглавлениеNachdem Amelia und Miriam ziellos durch die Straßen des Dorfes gefahren waren und Nachbarn nach Kai befragt hatten, kehrten sie ohne neue Erkenntnisse nach Hause zurück. Es wurde langsam dunkel und Gewitterwolken bäumten sich am Himmel auf.
Miriam wollte die Suche nach ihrem Sohn nicht aufgeben, doch Amelia konnte sie davon überzeugen, dass die Suche heute keinen Sinn mehr hatte. Amelia verabschiedete sich herzlich von ihrer Nachbarin mit der Bitte anzurufen, falls es Neuigkeiten gab.
Miriams Nachbarin schloss erschöpft ihre Haustüre auf. In der Küche brannte bereits Licht. Ralf war also bereits von der Arbeit zurück. Mit „Hallo, mein Schatz! Du siehst ja total fertig aus!“ wurde sie begrüßt. „Ja. Miriam wollte die Suche gar nicht aufgeben, aber ich konnte sie dann doch davon überzeugen es für heute gut sein zu lassen. Von Kai fehlt immer noch jede Spur.“ Ralf schenkte ihr einen flüchtigen Kuss und machte sich wieder über sein Spiegelei her.
„Wie war dein Arbeitstag? Hoffentlich nicht ganz so anstrengend wie mein Tag.“ „Ganz gut. Nichts Außergewöhnliches heute. Es war recht ruhig.“, teilte ihr Ralf mit. Miriam setzte sich zu ihm an den Tisch und stocherte in ihrem Essen, das Ralf ihr vorbereitet hatte. Jedoch hatte sie keinen richtigen Appetit. Anschließend legten sich beide schlafen mit der Hoffnung Kais Verschwinden am nächsten Tag lösen zu können.
Um sieben Uhr klingelte schrill das Telefon, das Amelia sicherheitshalber auf ihren Nachttisch gelegt hatte. Sie hoffte Miriam würde ihr die gute Nachricht von Kais Rückkehr überbringen. Doch ihre Hoffnungen wurden jäh zerstört, als sich Miriam mit den Worten meldete, dass Hildegard, eine ältere Dame aus dem Dorf, sie angerufen hatte um ihr ihr Beileid auszusprechen. Miriam war einem Nervenzusammenbruch nahe. Es hatte sich heraus gestellt, dass im Dorf wieder einmal zu viel getratscht wurde. So wurde die Geschichte von Kais Verschwinden umgedichtet in Kais Tod. Amelia versprach gleich zu ihrer Nachbarin zu kommen, sie wollte sich noch schnell fertig machen und etwas frühstücken.
Eine Stunde später ging Amelia aus ihrem Haus und ging aufs Nachbargrundstück. Dort stand eine Laterne vor der Tür mit einem Brief. Amelia wunderte sich, wer aus dem Dorf noch die Geschichte von Kais Tod glaubte und der armen Miriam eine Laterne mit einem Grablicht und eine Beileidsbekundung vor die Tür gelegt hatte.
Was sollte sie nun tun? Sollte sie nicht lieber die Laterne zu Miriams Schutz wegnehmen?
Amelia beschloss, dies sei die beste Lösung und hob beides auf. Amelia war nur wenige Schritte mit dem makaberen Geschenk in der Hand gegangen, als sich Miriams Haustüre öffnete. „Was hast du denn da? Findest du das alles etwa witzig?“, fragte Miriam sie misstrauisch. Amelia antwortete stotternd „ Nein. Das stand vor deiner Tür, als ich kam. Ich wollte dir den Anblick ersparen.“ Lange schaute Miriam zweifelnd in Amelias Gesicht bis sie sie hereinbat.
„Dann wollen wir uns mal gemeinsam anschauen, welches Weib meint solch ein Geschenk sei in meiner Situation angebracht.“ Amelia zögerte kurz, folgte Miriam dann aber in die Küche, wo ihr sogleich der Duft frisch gebrühten Kaffees in die Nase stieg.
Die Küche war unordentlicher als Amelia sie in Erinnerung hatte. Miriams Haus war, im Gegensatz zu Amelias, etwas in die Jahre gekommen. Dies sah man auch an der Inneneinrichtung. In der Ecke stand ein alter Holztisch, auf dem Miriam und Kai immer ihr Essen zu sich nahmen. Dahinter eine Eckbank mit kurioser Bespannung im 70er Jahre Stil. Die Küche war in rustikaler Eichenoptik gestaltet, was den Raum noch kleiner und dunkler wirken ließ. Die Furniere waren an manchen Stellen aufgequollen oder bereits abgesplittert.
Diesen Anblick war Amelia bereits gewohnt, doch heute war alles anders. Hunderte Bilder lagen kreuz und quer verteilt auf dem Esstisch, der Arbeitsplatte und sogar auf dem Boden.
Dazu gesellten sich etwa 15 Kuscheltiere, die ordentlich aufgereiht auf der Eckbank drapiert worden waren. Diese machten die Szene, die sich ihr bot, noch skurriler.
Miriam entschuldigte sich kurz für die Unordnung und schob behutsam einige Fotos beiseite, die flatternd zu Boden fielen, um Platz für die Laterne zu schaffen. Im Inneren brannte das Licht einer roten Kerze.
Amelia trat behutsam ein, um nicht auf eines der Bilder zu treten und stellte die Laterne auf den Tisch. Noch immer hatte sie den Brief in dem Umschlag in der Hand. „Was hast du da?“, fragte Miriam, die vorher nur die Laterne gesehen hatte. „Das lag auch vor deiner Tür.“.
Misstrauisch beäugte Miriam den Umschlag in den Händen ihrer Nachbarin bis sie diesen aus ihren Fingern zog. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Bestimmt ist das eine Beileidskarte einer verschrumpelten Oma, die meinte sie würde dir damit einen Gefallen tun.“, warf Amelia ein. Miriam drehte nachdenklich den Umschlag in ihren Händen hin und her, bis sie mit einem Achselzucken die Falz öffnete und einen gefalteten Brief daraus hervor zog. Miriam trat näher, um besser den Inhalt lesen zu können.
Hallo,
stand dort in feiner Handschrift. „Komische Beileidsbezeugung.“, sprach Amelia ihre Gedanken laut aus und las weiter.
Vermisst du schon deinen kleinen Jungen?
Keine Angst, er ist bei mir in guten Händen. Ich werde ihm nichts tun.
Dafür musst du mir aber etwas entgegen kommen. Ich möchte, dass du 200.000 € in einen Umschlag packst und ihn zur alten Eiche an den Waldrand bringst.
Dort legst du ihn unter den großen Stein und verschwindest. Und keine Polizei!
Tust du dies nicht, bis die Kerze abgebrannt ist, wirst du deinen Sohn nie wieder sehen.
Dies war das Ende des Briefes. Amelia stockte der Atem. Miriam brach auf der Bank in sich zusammen.
„Wer tut denn nur so was? Ich habe nicht so viel Geld, das ich dem Erpresser geben kann. Mein Geld reicht gerade so zum Überleben!“ Amelia dachte kurz nach. „Aber Holger hat doch bestimmt ganz gut verdient.“ lautete Amelias vorsichtiger Versuch, Miriam zu beruhigen. „Nein, nicht so gut, wie man meinen sollte in seiner Position. Kurz vor seinem Tod hatte er noch um eine Gehaltserhöhung gebeten. Diese wurde aber abgelehnt. Wer erpresst nur jemanden um Geld, der keines hat?“
Amelia wusste nicht mehr was sie darauf erwidern sollte.