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Der Unfall

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Holger wollte heute etwas früher zur Arbeit fahren. Miriam stand in der Küche und wunderte sich darüber. „Warum bist du denn schon wach? Musst du heute schon wieder früher los? Du arbeitest zu viel.“, flüsterte Miriam um ihren gemeinsamen Sohn nicht zu wecken. „Ja, die haben ein spontanes Meeting anberaumt.“, war seine knappe Antwort.

Dieses „Meeting“ hatte er in letzter Zeit häufiger benutzt, um seiner Frau eine Antwort auf ihre neugierigen Fragen zu liefern. Wenn die wüsste… Holger war Abteilungsleiter für Finanzen bei einem Stahlzulieferer. Nächtelang war er wach gelegen, um sich einen ausgeklügelten Plan zu überlegen, wie er seiner Firma etwas Geld abzapfen konnte.

Er hatte lange auf eine Gehaltserhöhung hingearbeitet, doch als er endlich den Mut gefasst hatte, seinen Chef danach zu fragen, wurde er abgewiesen. Dann würde er sich eben selbst einen Weg schaffen, um an das hart verdiente Geld zu kommen.

So fuhr er auch heute schon früher los, um vor der Arbeit noch das Schweizer Nummernkonto zu überprüfen, das er dafür eingerichtet hatte. Vor dem Haupteingang der Bank hielt er an und stieg aus. Schon als er den Eingangsbereich betrat fluchte er vor sich hin: „Oh nein! Nicht schon wieder!“ Sein Nachbar stand wieder am Schalter und sah ihn neugierig an. „Hoffentlich erzählt der nicht irgendwann mal meiner Frau, was ich am frühen Morgen wirklich vor der Arbeit erledige!“

Höflich nickend begab sich Holger zum Selbstbedienungsterminal. Fünf Minuten später stieg er selbstzufrieden grinsend wieder in sein Auto um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen.

Es waren wieder 10.000 € auf seinem Konto eingegangen. Und niemand hatte etwas gemerkt. Leichter konnte man seine Lohnerhöhung nicht bekommen.

Nur ein kleines schlechtes Gewissen plagte ihn von Zeit zu Zeit, doch dieses konnte er schnell wieder von sich schieben. Er hatte sich das Geld schließlich verdient!

Am Bürogebäude angekommen stieg er in den Aufzug und drückte den Knopf für die oberste Etage. Er machte es sich an seinem Schreibtisch gemütlich und ging seiner gewohnten Arbeit nach.

Um 16 Uhr beschloss er, dass er genug für heute erledigt hatte und ging auf die Toilette, bevor er sich auf den Heimweg machte. Wie immer ging er in die dritte Kabine von rechts. Diese Stehtoiletten waren ihm nicht ganz geheuer. Ständig kam einer seiner Mitarbeiter und versuchte ihm ein Gespräch aufs Auge zu drücken, obwohl er sich gerade nur erleichtern wollte.

Während er sein Geschäft verrichtete, fiel ihm ein Umschlag auf, der an der Innenseite der Tür mit Klebeband befestigt war. Noch im Sitzen griff er danach und öffnete ihn. Sein Herz begann zu rasen, als er sah, dass dieser an ihn gerichtet war.

Sehr geehrter Herr Auckert,

Zuerst dachte er, dies sei wohl ein schlechter Scherz einer seiner Mitarbeiter, die von seinen Toilettengewohntheiten wussten. Doch als er weiter las, stockte ihm der Atem und Schweiß bildete sich auf seinem Rücken.

Ich weiß genau was du da jede Woche auf der Bank machst. Du solltest dich schämen!

Man sollte meinen, ein Mann in deiner Position hätte so etwas nicht nötig.

Aber so sehr kann man sich irren. Gerade du solltest wissen, dass Veruntreuung von Unternehmensgeldern immer ans Licht kommt.

Aber ich gebe dir noch eine Chance. Am Samstag um 10 Uhr wirst du das komplette Geld, das auf dem Nummernkonto liegt, bar in eine Tasche packen und hier zurück lassen.

Du wirst mit einem Schraubendreher die Tür von außen verriegeln und anschließend deine Kündigung schreiben.

Wenn du meinen Anweisungen nicht folgst, werde ich zu drastischeren Mitteln für einen Betrüger, wie du es bist greifen.

Ich hoffe du hast mich verstanden.

Sein Puls raste. Natürlich war der Brief nicht unterschrieben.

Wie in Trance steckte Holger den Brief ein und wusch seine Hände, um anschließend mit dem Aufzug in die Tiefgarage zu fahren, wo er seinen Wagen am Morgen abgestellt hatte. An seinem Auto angekommen ließ er sich in den Sitz fallen und verschloss sofort die Autotür von innen.

Mehrmals atmete er langsam ein und aus, um seinen Puls wieder zu beruhigen. Als er sich sicher war, dass seine Fahrtüchtigkeit nicht beeinträchtigt war, ließ er den Motor an und fuhr los.

Er hatte das dumpfe Gefühl beobachtet zu werden. Wie auf Autopilot fuhr er aus der Garage.

Was war wohl mit den drastischen Mitteln gemeint? Würde der Erpresser ihn nur auffliegen lassen oder plante er etwas Größeres?

Dieser Gedanke ließ ihm auf dem Heimweg keine Ruhe. Gedankenverloren fuhr er über die mäßig befahrenen Straßen. Bis er auf einmal hoch schreckte, gefolgt von einem Knall. Und alle Lichter gingen für ihn aus.

Es war schon 18 Uhr und langsam machte sich Miriam Sorgen. Den quengelnden Kai auf dem Arm lief sie immer wieder im Wohnzimmer auf und ab. „Wo bleibt denn der Papa heute wieder? Erst geht er mitten in der Nacht aus dem Haus und dann kommt er abends nicht wieder.“, sprach sie zu ihrem Sohn.

Der Fernseher lief stumm vor sich hin. Er brachte auch keine Ablenkung. Dann würde Miriam eben alleine zu Abend essen.

Doch als sie einsam am Holztisch saß und in ihrem Essen herum stocherte, brachte sie keinen Bissen hinunter.

Szenarien spielten sich vor ihrem geistigen Auge ab. War er immer noch in einem Meeting? War ihm etwas zugestoßen? Hatte er eine Andere? Aus dem Küchenfenster blickend, nahm sie eine Bewegung war. Ein Auto fuhr vor und hielt in der Einfahrt.

„Da ist er ja endlich!“ Miriam ging erleichtert mit Kai auf dem Arm zur Tür um sie zu öffnen.

Doch vor ihr stand nicht ihr Mann, auf den sie so lange gewartet hatte, sondern ein Fremder.

Und das Auto, das in der Einfahrt stand, hatte ein Blaulicht und einen grünen Schriftzug.

Miriams Puls beschleunigte sich. Es war also doch etwas passiert!

Der Beamte sah auf die Frau mit dem Kind im Arm, begrüßte sie und bat eintreten zu dürfen. Miriam, den Blick geradeaus ins Leere geheftet, nickte nur kurz und ging vorweg ins unordentliche Wohnzimmer. Überall lag Kais Spielzeug auf dem Boden verteilt.

Miriam setzte ihren Sohn in den Laufstall und ließ sich aufs Sofa fallen. Der Polizist blieb stehen, schaute kurz um sich und blickte mitleidig in die Augen der Frau, die vor ihm saß.

Wie er diese Situation doch hasste! Das war das unangenehmste an seinem Job. 20 Jahre war er nun schon im Dienst, doch solche Situationen ließen ihn immer noch nicht kalt.

„Frau Auckert?“, fragte er mit gedämpfter Stimme, um Verwechslungen auszuschließen. Miriam nickte. „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ihr Mann einen Verkehrsunfall hatte.“ Der Polizist schluckte. „Dabei ist er ums Leben gekommen.“

Miriam schaute ihn an, als würde er eine Fremdsprache sprechen, die sie nicht verstand. Sie bedankte sich und wies den Beamten an zu gehen. „Sind Sie sicher, dass ich nicht noch etwas für Sie tun kann? Soll ich vielleicht einen Verwandten für Sie anrufen?“. Miriam antwortete mit belegter Stimme: „Nein danke. Ich möchte jetzt lieber alleine sein.“

Und so ging der Beamte vollbrachter Dinge. Sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, konnte sich Miriam nicht mehr zurück halten und fing an bitterlich zu weinen.

Nach einer Stunde hatte sie all ihre Tränen aufgebraucht. Kai hatte sie mittlerweile hingelegt, er schlief tief und fest, nachdem er anfangs in das Weinen seiner Mutter mit eingestimmt hatte. Miriam nahm Kai hoch und ging mit ihm ins Schlafzimmer um erschöpft in einen unruhigen Schlaf zu fallen voller verwirrender Träume. Sie träumte von ihrer Hochzeit, von Kais Geburt, doch am Schluss blieb nur noch das Bild ihres Mannes, wie er tot in seinem Auto saß.

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