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I
Die gelähmte Supermacht, oder:
Wie die Corona-Krise Trumps Kulturrevolution ausbremste
ОглавлениеSEBASTIAN HESSE-KASTEIN
Wir waren seit neun Monaten zurück in den Vereinigten Staaten, als die Corona-Krise begann. Wir waren mit dem festen Vorsatz angereist, aus unserem Aufenthalt möglichst einen einzigen ausschweifenden Roadtrip zu machen. Wir wollten uns dem veränderten Amerika auf die einzige Weise nähern, die dem unendlich weiten Sehnsuchtsland wirklich entspricht: on the road. Bald zwanzig Jahre war es her, dass wir das erste Mal in die USA gezogen waren. Damals, von 2000 bis 2005, für fünf Jahre. Damals hieß der Präsident George W. Bush. Diesmal heißt er Donald J. Trump. Und dem Hörensagen nach sollte das Land ein anderes sein als damals. Wir wollten es bis in die letzten Winkel abklappern, um diesen Veränderungen nachzuspüren. Doch neun Monate nach unserer Ankunft war das reichste, mächtigste und vitalste Land der Erde zum Stillstand gekommen. Und damit auch wir.
Während unserer ersten Korrespondentenzeit war das prägende Ereignis der Terror vom 11. September 2001. Dieses Mal sollte es die Corona-Krise sein. 9/11 und die Folgen hatten wir vor Ort in Washington DC, dem zweiten Anschlagsziel neben New York City, hautnah miterlebt. Und jetzt standen wir die Corona-Krise im Lockdown und unter »Stay-at-home«-Order in der Vorstadtidylle von Glen Echo, Maryland, durch. Wir waren in ein Amerika zurückgekehrt, in dem ein richtungsweisender Kulturkampf tobt. Wie bei jeder erbitterten Auseinandersetzung geht es auch hier um Vorherrschaft: um die Deutungshoheit darüber, was es heißt, amerikanisch zu sein. Und um die gesellschaftlichen und politischen Weichenstellungen, die die jeweilige Idee von Amerika materialisieren sollen. In diesem Kulturkampf ist die Figur des Donald Trump vor allem Posterboy der aufbegehrenden Partei. Wie eine Monstranz tragen sie ihn, die Ikone der Vernachlässigten, vor sich her. Daher dominiert Trump das öffentliche Erscheinungsbild. Er gestaltet die Tagespolitik. Vor allem aber ist er das Instrument, das Vehikel, eines lange ignorierten Amerika, das im Verborgenen ausharrte und jetzt mit dem Kulturkampf, den es angezettelt hat, den Aufstand probt. Die Gräben, die sich in dem zerrissenen Land schon vor Trump aufgetan hatten, hat dieser Präsident vertieft.
Der Corona-Lockdown hatte zunächst ein eigentümliches Wir-Gefühl hervorgebracht, zumindest für kurze Zeit. Ähnlich wie nach dem 9/11-Terror suchte Amerika Trost darin, zusammenzurücken. Urplötzlich saßen alle im selben Boot. Damals, weil der Angriff dem ganzen Land galt. Diesmal, weil auf einmal alle gleich verletzlich schienen. Nach dem 11. September hatte George W. Bush seine größte Stärke ausgespielt, seine Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl, und Amerika für eine Weile geeint. Wer weiß, wie die Geschichte über Bush urteilen würde, wenn er nicht seinen neokonservativen Einflüsterern nachgegeben und mit fadenscheiniger Begründung einen Krieg angezettelt hätte. Donald J. Trump sah durch die Corona-Krise zunächst einmal seine Wiederwahl bedroht. Und lief erst wieder zu Hochform auf, als er das Potenzial im Krisenmanagement erkannte, eine neue Rolle für sich selbst zu kreieren: die des Kriegspräsidenten, der den Angriff eines unsichtbaren Feindes abwehrt. Anfang Juli, ausgerechnet als der Präsident mit aller Macht zur Vor-Corona-Normalität zurückkehren wollte, schnellten die Fälle vielerorts dramatisch in die Höhe. Statt seinen Lockerungskurs zu überdenken, heizte Trump umgehend einen weiteren Konflikt an. Der Kriegspräsident wurde zum »Law and Order«-Präsidenten, der mit harter Hand gegen gewalttätige Demonstranten und Bilderstürmer vorgeht. Nach dem Tod von George Floyd eskalierten mancherorts die Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt. Und der militantere Teil der »Black Lives Matter«-Bewegung begann, Denkmäler und Standbilder historischer Persönlichkeiten zu stürzen. Statt Mitgefühl mit Opfern zu zeigen, machte Trump alle Protestierenden zu Tätern. Neben dem »unsichtbaren Feind« gab es stets auch eine immer länger werdende List an sichtbaren Gegnern: »Black Lives Matter«, die Chinesen (Trump nennt Covid-19 gerne »Kung Flu«), die Medien, die Demokraten … Die erste Jahrhundertkrise (9/11) brachte die Stärken des damaligen Präsidenten zum Vorschein. Die zweite Jahrhundertkrise (Corona) offenbarte die Schwächen des späteren Präsidenten. Trump, der Spalter, funktioniert nur in einem zerrissenen Amerika. Und das ist nach seiner Logik nur dann GREAT, wenn ausreichend Konflikte schwelen, aus denen er als strahlender Sieger hervorgehen kann. Unmittelbar nach Ausbruch der Corona-Krise haben Julia und ich um das Zustandekommen dieses Buches gebangt. Wir dachten, unter den Bedingungen des Lockdowns könne man es nicht beenden. Doch dann wurde uns allmählich klar, dass die Ausnahmesituation wie unter einem Brennglas all das schärfer und konturierter vor Augen führen würde, was wir ohnehin als Gradmesser für Amerikas »greatness« anlegen wollten.
Wie so viele amerikanische Familien vertrieben wir uns die Zeit mit »binge watching«, dem exzessiven Konsum leichtverdaulicher TV-Kost. Netflix verzeichnete Rekord-Klickzahlen für den visionären Pandemie-Thriller »Contagion« aus dem Jahre 2011. Das ans Haus gefesselte Amerika staunte, wie präzise Regisseur Steven Soderbergh vorausgesehen hatte, was in Amerika passiert, wenn ein unbekanntes Virus aus China eingeschleppt wird. Den größten Suchtfaktor hatte dann aber eine neuartige Reality-TV-Serie. Wie alle Amerikaner klebten auch wir allabendlich am Fernsehschirm, wenn die POTUS-Show lief. POTUS – das ist die in den USA gebräuchliche Abkürzung für »President of the United States«. Mit dem Lockdown war auch zum Stillstand gekommen, was für ihn am meisten Stimulanz und Lebenselixier mit sich bringt, wobei er sich Rückhalt holt und als Entertainer zu Höchstform aufläuft: seine unnachahmlichen Wahlkampfveranstaltungen! Im Amerikanischen sagt man »Rallies«. Eine politische Rally hat nichts mit Autorennen zu tun. Gemeint ist eher ein politischer Wanderzirkus. Die Trump-Show, immer on the road. Diese großinszenierten Rallies dienen weniger dem Stimmenfang. Sie bieten dem Selbstdarsteller Trump die Bühne, die er braucht, um sich ganz ungeniert auszuleben. Volle Breitseite gegen seine Gegner feuern. Eimerweise Eigenlob über sich selbst auskübeln. Und von Zehntausenden im unmittelbaren Kontakt gefeiert werden. In seinem Vorleben als Kasino-Betreiber hatte Trump Box- und Wrestling-Spektakel für johlende Fans inszeniert. Die Trump-Rallies waren die Polit-Variante davon. Amphetamin für den Narzissten, das ihm durch die unerwartete Zwangspause entzogen worden war. Nach den ersten live übertragenen Pressekonferenzen mit seiner Corona-Task-Force dämmerte Trump jedoch, wie er die entstandene Lücke füllen könnte.
Donald Trump, der sein Talent zur telegenen Selbstinszenierung mit seinem TV-Hit »The Apprentice« verfeinert hatte, Trump, der Reality-TV-Star also, hatte nach holprigem Start seine neue Rolle gefunden: der omnipräsente Krisenmanager, der souveräne Kriegspräsident, umgeben und beraten von den besten Gesundheitsexperten des Landes, jeden Abend zur gleichen Einschaltzeit live auf den Bildschirmen der Nation. Die Krise war noch ganz am Anfang, da trompetete Trump schon verzückt, dass seine Corona-Show die höchsten Einschaltquoten aller Zeiten hätte, besser als die Dating-Show »The Bachelor«, besser als Football am Montagabend. Die meisten Zuschauer schalteten die allabendlichen Briefings natürlich an, weil sie das Neuste über die Pandemie wissen wollten. Andere suchten Trost oder aufmunternde Worte. Durchhalteparolen. Doch mehr und mehr wurden die Epidemiologen, Virologen und andere Mitglieder des Krisenstabes zu Statisten. Hilflos mussten sie miterleben, wie der Präsident sich Schlagabtausch nach Schlagabtausch mit den anwesenden Reportern lieferte. Trump wollte Claqueure, wie bei den Rallies und den Aufzeichnungen von »The Apprentice«. Gekommen waren Journalisten mit kritischen Fragen, was Trump von jeher als Majestätsbeleidigung empfindet. Auch in der Krise blieb er sich treu: leicht reizbar, dünnhäutig, immer im Angriffsmodus, nie selbstkritisch, stets voller Eigenlob. Regelmäßig, wenn der Präsident aufgebracht aus den Briefings kam, legte er auf Twitter nach. Etwa am 10. April, als er schrieb: »Weil die Einschaltquoten für die Pressekonferenzen des Weißen Hauses die höchsten überhaupt sind, tun die Opposition, die lahmarschigen Medien, die radikale Linke, die nichtstuerischen Demokraten und die paar verbliebenen RINOs alles in ihrer Macht stehende, um sie zu verunglimpfen und zu beenden.«
RINO, das steht für »Republicans in name only«, Republikaner nur dem Namen nach. So nennt Trump alle Parteifreunde, die ihn zu kritisieren wagen. Keine echten Republikaner, denn die bejubeln ihn ja. Doch auch in seiner eigenen Partei erntete Trump spätestens in dem Moment Kopfschütteln, als er während eines dieser Briefings allen Ernstes Lichttherapie und injizierte Desinfektionsmittel gegen Covid-19 in die Diskussion brachte. Tagelang hagelte es Hohn und Spott. Am 25. April riss dem POTUS der Geduldsfaden. Er twitterte: »Was ist der Sinn von Pressekonferenzen im Weißen Haus, wenn die lahmarschigen Medien nichts anderes tun, als feindselige Fragen zu stellen? Wenn sie sich dann weigern, die Wahrheit oder Fakten akkurat zu berichten? Die Medien bekommen Rekord-Einschaltquoten, und die Amerikaner kriegen nichts als Fake News. Das ist die Zeit und den Aufwand nicht wert!« Drei Tage lang hielt Trump es aus ohne die Corona-Show. Dann flimmerte sie, leicht verändert, wieder über die Fernsehschirme der Nation. So auch bei uns.
Wir leben in einer typischen amerikanischen Vorort-Idylle. »Mohican Hills« nennt sich das Wohnviertel, Mohikaner-Hügel. Die Straßen tragen allesamt indianische Namen. Hier, in der waldigen Hügellandschaft am Potomac, nördlich von Washington DC, ist alles unverändert während der Corona-Krise. Kinder spielen Basketball in den Driveways der McMansions. Die Anwohner führen ihre Hunde aus. Sie bleiben auf ein Schwätzchen stehen, mit Sicherheitsabstand. Das »social distancing« ist das Einzige, was anders ist als sonst. Meine Nachbarn fahren mit ihrem Subaru Outback oder ihrem Toyota Prius zum Einkaufen in die kleine, nahe gelegene Shopping-Mall. Für ein paar Tage steht dort auf dem Parkplatz ein Zelt, wo man »drive by« aus dem Auto heraus einen Corona-Test machen kann. Im »Safeway«-Supermarkt gibt es alles, auch Klopapier. Radiobeiträge für die ARD kann man auch aus dem Home-Office machen. Aber um über die zu berichten, die es deutlich härter getroffen hat als einen selbst, muss man die Komfortzone seiner Vorortidylle verlassen.
Am 33. Tag, nachdem der Bundesstaat Maryland seine »Stay-at-home«-Order« erlassen hatte, eine weitreichende Ausgangssperre, stehen wir in Frederick, eine knappe Autostunde nördlich von Washington, vor der »Francis Scott Key Mall«. Auf einem gewaltigen Parkplatz, der sich allmählich füllt. Ein Autokorso soll lautstark hupend und fahnenschwenkend von Frederick, nahe Baltimore, über die Kent Island nach Salisbury im Süden von Maryland rollen. Um für ein sofortiges Aufheben der Einschränkungen zu demonstrieren. »ReOpen Maryland« nennt sich dieser Ableger einer immer stärker werdenden Protestbewegung, die es mittlerweile in allen Bundesstaaten gibt. Ein blecherner Lindwurm formiert sich, der in ganz Maryland zu sehen sein soll. Alle Demonstranten geschützt in ihrem Blechkokon. Wie bei den Gottesdiensten in Autokinos, die es seit einiger Zeit wieder überall dort gibt, wo diese nostalgische Art des Filmgenusses noch möglich ist.
Kaum angekommen, begegnet uns eine Frau mit einem Hakenkreuz-Plakat. Das Nazi-Symbol ist auf ihrem Protestposter mit der deutschen Reichskriegsflagge verschmolzen. Und wir zucken natürlich zusammen: Diese Symbolik taucht in den USA sonst bei Aufmärschen von Rechtsextremen auf. Doch die Frau in Frederick propagiert keine »White Supremacy, sondern warnt im Gegenteil vor antidemokratischen Tendenzen: »Shut up and obey – Germany began this way!« – »Haltet die Klappe und gehorcht – so begann das damals in Deutschland!« Wir kommen ins Gespräch.
Natalie Brown ist Mitte vierzig, stammt aus der Gegend von Frederick und ist seit sechs oder sieben Wochen ans Haus gefesselt. Und Natalie ist stinksauer auf den Gouverneur von Maryland, Larry Hogan, einen Republikaner. Hogan ist die Hassfigur schlechthin auf dem Parkplatz in Frederick: »Lawless Lockdown Larry! You’re killing US!!«, steht auf einem Plakat. Hogan hatte einen der striktesten Lockdowns in den USA in Kraft gesetzt. Und immer wieder scharf kritisiert, wenn Präsident Trump erste Lockerungen in Aussicht gestellt hatte. Natalie nennt Hogan einen Tyrannen. »Klappe halten und gehorchen, keine Fragen stellen, nicht selbstständig denken, tut, was wir euch sagen: So hat der Holocaust begonnen!«, schimpft sie. Dieses Gefühl der Ohnmacht gegenüber staatlicher Willkür hat die Demonstranten in ganz Amerika in Rage gebracht. »America – Land of the Free?« – fragt ein Banner. Misstrauen gegenüber Obrigkeiten und eine tiefsitzende Abscheu gegen staatliche Gängelei sind ganz tief verankert in der amerikanischen DNA. Jetzt vom Staat auf unabsehbare Zeit in Hausarrest versetzt worden zu sein, zur Untätigkeit verdammt, entmündigt: »Dagegen lehnen wir uns auf«, sagt Natalie.
Hinzu kommen existenzielle Ängste. Maryland hat wie alle anderen Bundesstaaten definiert, was »essential business« ist, essenziell für die Gesellschaft. Alle Betriebe, Geschäfte und Unternehmen, die nicht »essential business«, systemrelevant, sind, mussten dichtmachen. Natalie Brown betreibt ein kleines Reisebüro. Das hat natürlich zu. Aber selbst, wenn es aufhätte, würden die Kunden ausbleiben: »Die müssen zusehen, dass sie irgendwie Geld verdienen, ihre Rechnungen bezahlen und Lebensmittel kaufen können!« Natalie muss sich nicht ganz so existenzielle Sorgen machen. Ihr Mann geht einer »essenziellen« Tätigkeit nach und generiert weiterhin ein Einkommen. »Ich demonstriere hier für alle anderen, die nicht so viel Glück haben«, sagt Natalie. »Ich habe auch mal als alleinerziehende Mutter von der Hand in den Mund gelebt. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Das wird man niemals mehr los!«
So geht es Graham, der mit seiner Mutter aus dem Nachbarstaat West Virginia zum Demonstrieren nach Frederick gekommen ist. Graham ist 23 Jahre alt und hat bis vor kurzem als Verkäufer bei »Yankee Candle« gearbeitet, einer Kerzenhandlung. Die Filiale musste vor 45 Tage dichtmachen. Seither hat er keinen Job und kein Einkommen mehr. So gnadenlos hat es viele durch den Lockdown erwischt: Von einem Tag zum anderen ohne Existenzgrundlage. Kein engmaschiges soziales Netz, das einen auffängt. So brutal ist der amerikanische Arbeitsmarkt. Leute wie Graham erwischt es mit voller Härte. Er findet es unfair, dass große, finanzstarke Ketten wie »Walmart« geöffnet bleiben dürfen, aber kleine Geschäfte wie seine Kerzenhandlung geschlossen wurden. »Bei uns gibt es niemals lange Schlangen mit vierzig Leuten, die an der Kasse anstehen«, sagt Graham, »bei uns kann man gut den Sicherheitsabstand wahren.« Überhaupt sei es unamerikanisch, anderen Vorschriften zu machen, sie zu entmündigen. Amerikaner könnten eigenständig verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen, sagt er, so sei man schließlich erzogen. »Ich jedenfalls gehe lieber ein Risiko ein, als dass ich obdachlos werde und nichts zu essen habe!«
Viele der Teilnehmer am Autokorso empfinden so. Und viele wissen derzeit nicht, wie sie finanziell über die Runden kommen sollen. »Wir sind alle essenziell! Wir müssen uns gegenseitig vertrauen! Unsere Leben, unsere Entscheidung!«, steht auf einem Banner. So sieht es auch ein älterer Herr, 65 Jahre alt, der uns seinen Namen nicht nennen will. »Wenn Sie ein gesunder Amerikaner sind«, sagt er, »dann gibt es keinen Grund, weshalb Sie nicht so leben sollten, wie es in diesem Land vorgesehen ist!« Freiheit, Eigenverantwortung, Unabhängigkeit, Selbstständigkeit: Amerika verkümmert, wenn man ihm sein Fundament nimmt. Und ganz pragmatisch: Maryland ist nicht New York. Hier gäbe es nicht annähernd so viele Fälle. Natürlich müsse man die Gefährdeten schützen: »Meine Mutter lebt in einem Pflegeheim. Die besuchen wir im Moment nicht. Sie ist 95 und hat kein besonders gutes Immunsystem.« Ansonsten werde sich die Pandemie genau wie jede Grippe irgendwann von selbst erledigen. »Die Politik hat das maßlos aufgeblasen«, schimpft er, »das ruiniert unser Land! Das ist eine Form von Sozialismus!«
»Facts not Fear!« – ist auf einem der rund 200 Fahrzeuge, die an dem Autokorso teilnehmen, zu lesen. Wir blicken der davonrollenden Blechlawine hinterher und unterhalten uns darüber, dass es eigentlich überraschend ist, wie lange sich die Amerikaner während der Corona-Krise geduldig in ihr Schicksal gefügt haben. Und dass insgesamt doch so wenige auf die Straße gegangen sind, weit weniger als in Deutschland. Staatliche Anordnungen als Gängelei und Schikane zu empfinden, das ist ein natürlicher Reflex in einer Gesellschaft, in der Eigenverantwortung Staatsraison ist. Und dass sich Menschen kritische Fragen stellen, denen das Wasser finanziell bis zum Hals steht, gehört zu jeder freien Gesellschaft. Und dass sich auch solche zwischen die Protestierenden mischen, die ihr Sonderanliegen dazumogeln wollen, ist wohl unvermeidbar. In Frederick stand ein Waffennarr neben uns. Er hatte eine Flagge über der Schulter, die ein gewaltiges Sturmgewehr zeigt. Darunter stand: »Come and take it!« – »Hol sie dir doch!« Das ist ein Standardspruch derjenigen, die sich erbittert gegen schärfere Waffengesetze wehren. Von denen wird in diesem Buch noch ausführlich die Rede sein. »Hol sie dir doch!« – das geht an die Adresse derjenigen, die auf die Idee kommen könnten, gesetzestreue Bürger zu entwaffnen. Das ist die Verbindung zu den Corona-Protesten: Überschreitet der Staat seine schmalen Befugnisse, dann setzt sich der freie Mensch zur Wehr!
Demonstrationen wie die von Frederick bekamen dann recht schnell sprachgewaltige Argumentationshilfe aus den rechten, Trump-nahen Medien. So titelte die Washington Times am 28. April: »Der Coronavirus-Hype ist der größte politische Schwindel aller Zeiten!« – »Political Hoax«, damit setzte das Trump-treue Blatt bewusst einen Lieblingsbegriff des Präsidenten ein. In dem Artikel heißt es: »In der Tat wird Covid-19 in die Geschichtsbücher eingehen als eine der weltgrößten, am meisten schamlos aufgeblasenen, überhypten, irrational aufgeblasenen und irreführenden fehlerhaften Antworten in einer Gesundheitsfrage in der amerikanischen Geschichte. Eine, die überwiegend aus den Mündern von Medizinern stammt, die keinerlei Ahnung davon haben, wie man eine Regierung oder ein Wirtschaftsunternehmen führt!« Am nächsten Tag, dem 29. April, war diese Schlagzeile zu lesen: »Covid-19 stellt sich heraus als von den Medien angerichteter Schwindel!« Wieder das Trump-Wort: Hoax! Und wieder das rechte Narrativ: Die Medien haben die Gefahr durch das Virus maßlos übertrieben. Und damit fahrlässig die amerikanische Wirtschaft in die Knie gezwungen. Corona sei nicht einmal so schlimm wie die Grippe in einem schlechten Jahr. Und: Die Einschaltquoten der Medien seien »in die Höhe geschnellt, weil sie allen Amerikanern eine Scheißangst eingejagt haben, so dass diese jetzt vierzig Tage das Haus nicht verlassen haben. Und wenn, dann höchstens, um Klopapier zu kaufen. Und selbst dann haben sie sich hinter Masken versteckt und konnten vor Angst nur noch auf Zehenspitzen gehen.« So polemisch ist von den Demonstranten, mit denen wir in Frederick gesprochen haben, keiner geworden.
Seltsamerweise kommt in keiner dieser Argumentationen vor, woher die verhassten Verhaltensmaßregeln kamen. Nämlich aus der Task-Force von Donald Trump. Von den Gesundheitsexperten, Epidemiologen und Virologen, die für den Präsidenten die Situation analysierten, Maßnahmen vorschlugen und Warnungen aussprachen. Und dass es Präsident Trump höchstpersönlich war, der diese Maßregeln in Kraft setzte. Es waren zwar nur »Guidelines«, Richtlinien, an denen sich die eigentlichen Entscheidungsträger, die Gouverneure, zu orientieren hatten. Doch niemand anderes als Trump schärfte sie den Amerikanern in jeder Folge seiner POTUS-Show ein. Dass bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen massenhaft »Trump/Pence«-Flaggen wehten, scheint auf den ersten Blick widersinnig. Heldenverehrung für Leute, gegen deren Politik man auf die Straße geht?
Da war es auch während der Krise wieder: das Trump-Paradoxon! Der Staatschef soll helfen beim Kampf gegen den Staat. Zum Heilsbringer wird, wer das Unheil zu verantworten hat. Kulturkampf paradox. Gewürzt mit einer ordentlichen Prise Verschwörungstheorie. Denn so lautet das rechte Narrativ: Eine gewaltige Verschwörung zur Umerziehung Amerikas konnte gerade noch rechtzeitig aufgedeckt werden. Zu den Mitverschwörern gehören Washingtoner Bürokraten, Linke, Progressive und deren Sprachrohr: die Medien. Trump kam dieser Konspiration auf die Schliche und führt seither den Widerstand dagegen an. Entsprechend versuchen seine Gegenspieler, ihn mit allen Mitteln zu vernichten: mit haltlosen Behauptungen wie angeblicher russischer Wahlmanipulation. Mit konstruierten Affären wie beim Impeachment. Und jetzt das Endspiel: mit der Zerstörung von Trumps größter Errungenschaft, dem beispiellosen Wirtschaftsboom. Das, so die Verschwörungstheorie, ist das eigentliche Ziel der maßlosen Angstkampagne.
Diese Mär verbreitete, wenig überraschend, auch der legendäre ultrarechte Radiotalkshow-Host Rush Limbaugh. Dem hatte Trump gerade erst die höchste staatliche Auszeichnung, die »Presidential Medal of Freedom«, ans Revers geheftet. »Das Virus ist nichts anderes als eine ganz normale Erkältung«, behauptete Limbaugh. Für ihn waren Lockdown und die »Stay-at-home«-Verordnungen nichts als ein weiterer Versuch, Präsident Trump zu Fall zu bringen. »Viele derjenigen, die die anhaltende Stilllegung der Wirtschaft befürworten, tun das nur, weil sie glauben, es könne Präsident Trump schaden.« Ins gleiche Horn blies Trish Regan, Moderatorin des Fox-News-Ablegers Fox Business. Sie sah im Coronavirus nur »einen weiteren Versuch, den Präsidenten des Amtes zu entheben, ihn zu dämonisieren und zu zerstören!« Eine Erhebung des »Pew Research Centers« ergab, dass 79 Prozent der Fox-News-Zuschauer der Meinung sind, dass die Medien die Bedrohung durch das Virus übertreiben. Wer so tickt, der sucht den Befreiungsschlag.
Besonders beängstigend war die Aktion, die schwer bewaffnete Demonstranten am 30. April, einen Tag vor dem Autokorso von Maryland, in Michigan durchzogen. Die Bewaffneten stürmten das Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Lansing, in militärischem Camouflage-Outfit, mit Palästinensertüchern vorm Gesicht und Sturmgewehren im Anschlag. Sie bezogen Stellung vor dem Büro der demokratischen Gouverneurin Gretchen Whitmer. Sie ist neben ihrem Amtskollegen in Virginia, Ralph Northam, eines der wirkungsvollsten Feindbilder für die Rechte in den USA. Beiden wird vorgeworfen, sie hätten den Corona-Ausnahmezustand dazu missbraucht, in die Schutzmaßnahmen Einschränkungen einzuschmuggeln, die ideologisch motiviert waren und nichts mit dem Schutz vor Ansteckung zu tun hatten. In Virginia hatte Northam die Gun-Shops schließen lassen, da Waffenkäufe nicht systemrelevant seien. Von Northams Dauerfehde mit der Waffenlobby wird später in diesem Buch noch die Rede sein. Und in Michigan wurde Gretchen Whitmer angefeindet, weil sie den Verkauf von Saatgut, das die Farmer dringend benötigen, untersagt hatte.
Die vielgescholtene Gouverneurin war zwar nicht im Haus, als die Bewaffneten das Parlamentsgebäude stürmten, dafür aber eine Reihe von Abgeordneten. Einige von ihnen zogen kugelsichere Westen an, nachdem die Nachricht von der Stürmung die Runde machte. Gegen das Gesetz verstoßen hatten die martialischen Protestierer übrigens nicht. Das Waffentragen in Regierungsgebäuden ist in Michigan legal.
Als zwei Wochen zuvor rund 3 000 Aufgebrachte mit Sturmgewehren, anderen Feuerwaffen, Konföderiertenflaggen und »Trump/Pence«-Plakaten ebenfalls durch Lansing zogen, auch da schon aus Protest gegen Whitmers Ausgangsbeschränkungen, da twitterte Trump: »Das sind sehr gute Menschen, aber sie sind zornig. Die wollen ihr altes Leben zurück, in Sicherheit!« Ende Mai dann, nach dem gewaltsamen Tod des Schwarzen George Floyd in Minneapolis, als landesweit gegen rassistische Polizeigewalt demonstriert wurde, nannte Trump die Protestierer in einem Tweet: THUGS! Schläger! In landesweit über 140 Städten gingen die Menschen auf die Straßen. Dabei wurde auch geplündert und randaliert. Dieser Volkszorn ließ sich für Trump nicht instrumentalisieren.
Am 16. April 2016 erschien in der Washington Times, der Hauspostille des republikanischen Amerikas, ein Kommentar mit der Überschrift: »Ziviler Ungehorsam kann die Coronavirus-Dummheit beenden.« Dazu gestellt hatten die Redakteure das Foto eines der Demonstranten von Lansing, der eine Stars-&-Stripes-Flagge schwenkt. In ihrem Text argumentierte die Kolumnistin Cheryl K. Chumley, die besten Nachrichten dieser Coronavirus-Wochen seien in Gestalt von Videobildern aus Michigan gekommen. Darauf seien gute Bürger zu sehen, »die die Nase voll haben von ihrer tyrannischen Gouverneurin, die in Massen und ohne Masken auf die Straße gehen, um ein Ende der Tyrannei zu verlangen«. Die Kolumnistin appelliert an ihre Leserschaft, der Bevormundung mit zivilem Ungehorsam zu begegnen.
Mir ist nicht nach Aufbegehren zumute, als ich während der Corona-Krise bei strahlendem Sonnenschein über die M Street in Georgetown schlendere. Dort reiht sich Shop an Shop, Pub an Pub und Restaurant an Restaurant. Um diese Jahreszeit, wenn das Leben nach dem kurzen, aber oft heftigen DC-Winter wiedererwacht, wimmelt es üblicherweise nur so von Menschen auf der beliebten Flaniermeile. Jetzt, im März 2020, ist die M Street fast leer. Ich überlege, wann ich das letzte Mal eine derart gespenstische Ruhe und irritierende Menschenleere erlebt habe. Es war kurioserweise auch hier auf der M Street, in den Tagen nach dem 11. September 2001.
Mir geht durch den Kopf, dass ich alle drei Male in meinem Leben, bei denen ich vor Corona mit Unbehagen und Verunsicherung zu kämpfen hatte, ebenfalls hier in Georgetown war. Am 11. September 2001. Eine Woche danach, als ab dem 18. September ein Unbekannter begann, tödliche Milzbranderreger per Post zu verschicken. Und dann im Oktober 2002, als die Sniper im Großraum Washington wahllos Menschen erschossen. Drei Mal innerhalb eines Jahres lag Angst über der Stadt.
9/11 konnte ich zwar nicht mit eigenen Augen sehen, wie die gekaperte Passagiermaschine in das Pentagon einschlug. Das US-Verteidigungsmuseum liegt vom Georgetowner ARD-Studio aus auf der anderen Seite des Potomac, mehrere Meilen flussabwärts. Aber die Gerüchte, die Panik verursachten, verbreiteten sich rasend schnell. Von einer radioaktiven »dirty bomb« im State Department, dem Außenministerium, wurde gemunkelt. Blechlawinen quälten sich in Zeitlupe aus der Stadt. Wie in einem Katastrophen-Thriller aus Hollywood.
Und dann die Anthrax-Sendungen. Ein Unbekannter hatte den Milzbranderreger in Briefumschlägen verschickt, erst an zwei demokratische Senatoren, dann wahllos in mehrere Stadtteile. Fünf Menschen kamen ums Leben. In meiner Straße klebten die Nachbarn die Briefschlitze ihrer Haustüren mit Isolierband ab. Die Briefverteilzentren wurden zwischenzeitlich aus Sicherheitsgründen geschlossen. Der Hauptverdächtige des FBI, der in einem staatlichen Biowaffenlabor arbeitete, beging Selbstmord, bevor ihm die Anschlagserie nachgewiesen werden konnte. Sie gilt bis heute als »cold case«, als ungeklärter Fall.
Ein gutes Jahr später begangen die sogenannten Sniper eine der irrwitzigsten Mordserien aller Zeiten. John Allen Muhammad, damals 41 Jahre alt, und Lee Boyd Malvo, damals minderjährig, waren zwischen dem 2. und dem 24. Oktober im Großraum Washington unterwegs und schossen wahllos und willkürlich aus ihrem Auto auf Passanten. Zehn Menschen kamen dabei ums Leben, drei weitere wurden schwer verletzt. Ihr Fahrzeug, einen Chevrolet Caprice Kombi, hatten sie so umgebaut, dass der Schütze bäuchlings ausgestreckt in dem Wagen liegen und durch eine Öffnung im Heck seine Opfer mit einem Bushmaster-Scharfschützengewehr töten konnte. Einer ihrer Morde fand an einer Tankstelle auf der Wisconsin Avenue, in unmittelbarere Nähe zu unserem damaligen Haus, statt. Julia war zu diesem Zeitpunkt mit dem Auto unterwegs. Und hat an dieser Tankstelle getankt.
Bei meinem nostalgischen Bummel, anderthalb Jahrzehnte später, bin ich zwar fast allein auf den Straßen von Georgetown, aber es fühlt sich nicht so an. Mich fasziniert der Gedanke, dass in diesem Moment rund um den Globus unzählige andere Menschen in der genau gleichen Situation sind. Ich frage mich, ob uns die gemeinsame Corona-Erfahrung als Weltgemeinschaft zusammenrücken lässt. Dann denke ich, welche Ironie darin liegt, dass die USA ausgerechnet in diesen Tagen einen Präsidenten haben, der wenig von internationaler Zusammenarbeit und globalen Perspektiven hält. Auf dem Höhepunkt der Pandemie hat Trump die Zusammenarbeit der USA mit der WHO, der Weltgesundheitsorganisation, beendet. »America first« galt auch in der Krise. Im Alleingang zurück zu alter Glorie. Ein Teil von Trumps Landsleuten glaubt, die »greatness« ihrer Nation unterliege konjunkturellen Schwankungen. Sonst müsste man die USA nicht immer mal wieder »great again« machen.
»Great again?« – so lautet dann auch die Frage, die dieses Buch dem Sehnsuchtsland Amerika stellt. Den Slogan »Make America Great Again« hat Donald Trump nicht erfunden. Ronald Reagan hat ihn benutzt – für Wahlkampfreden und auch auf Plakaten, mit denen er in den 1980er Jahren seine Landsleute aufforderte: »Let’s make America great again!« Auch Bill Clinton hat die Parole verwendet – in den 1990er Jahren. Donald Trump hat MAGA also nur aufgegriffen. Aber er hat den Slogan, wie es Geschäftsleute so tun, für sich schützen lassen. Das war im Jahr 2012, unmittelbar nach Barack Obamas Wiederwahl, als sich Trump noch gar nicht sicher war, ob er in die Politik wechseln sollte. Die Wirkmacht des Kampfrufes hatte er instinktsicher erkannt. Und sich den erst einmal unter den Nagel gerissen. Zur Wiederwahl hieß es dann bereits: »Keep America great!« So, als sei die Frage nach dem »great again« längst beantwortet. Wir, die Autoren dieses Buches, wollen so vorschnell nicht sein.