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II

Nach der Kohle in West Virginia, oder:
Wie Künstler eine Bergbaustadt wiedererwecken

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JULIA KASTEIN

Die Stimmung ist gepflegtes Moll an einem kalten Winterabend Ende Februar in der »Purple Fiddle« in Thomas, West Virginia. Ein knappes Dutzend Männer und Frauen in den besten Jahren sitzt in der Konzertkneipe und lauscht den kurzen, melancholischen Songs von »June Star«, einer dreiköpfigen Country-Rock-Americana-Band aus Baltimore. Vor jedem einzelnen Stück macht Sänger Andrew Grimm, ein beleibter, vollbärtiger Mittvierziger mit Walle-Mähne, die gleiche lakonische Ansage: »Das ist ein Song über die Liebe.« Auch Sebastian und ich sitzen im Publikum und lachen und klatschen mit.

Die »Purple Fiddle« ist ein ungewöhnlicher Ort. Genau wie Thomas selbst. Wie so viele ausgebeutete Bergbaureviere im einstigen Kohleland West Virginia schien die Kleinstadt vor ein paar Jahren noch zum langsamen Sterben verurteilt. Stattdessen erlebte Thomas eine zweite Blüte: als Kulturtreff mit einem halben Dutzend Galerien und noch mehr Ateliers. Und dem Musikclub »Purple Fiddle«. Wir sind zufällig hier gelandet: Thomas liegt am Rande des Canaan Valleys, einer der wenigen Wintersportregionen im Großraum Washington. Knapp drei Stunden dauert die Fahrt. Also gleich um die Ecke, nach amerikanischer Lesart. An einem trüben Februarnachmittag fällt hier – wie in den vergangenen Jahren wegen des Klimawandels häufig – nur Regen und kein Schnee. Skifahren macht so keinen Spaß. Also erkunden wir Thomas.

Die Bergarbeiterstadt schmiegt sich terrassenförmig an den Osthang über dem Blackwater River. Entlang der Hauptstraße und parallel zum Fluss reihen sich imposante dreistöckige Backsteingebäude mit Zierfassaden aus Blech. Städtebaulich irgendwo zwischen Westernstadt und altem Industrieviertel. Auf der anderen Flussseite: Wald. Der »Monongahela National Forest« gehört – wegen der enormen Höhenunterschiede in diesem Teil der Appalachen – zu den artenreichsten Wäldern der USA.

Wir spazieren die historische Ladenzeile entlang und sind verblüfft: Hier eine Galerie mit Grafiken und Kinderbuchillustrationen, dort eine mit experimenteller Fotografie. Noch eine mit Malerei. Dazwischen das »Cotrill’s Opera House« mit den bodentiefen Fenstern mit Rundbögen im zweiten Stock. Sogar ein Opernhaus, das gleichzeitig Varieté und Restaurant war, konnte sich Thomas in seiner Blütezeit leisten, lernen wir vom Schild davor. Jetzt residiert in dem notdürftig sanierten Gebäude das Büro von »Art Spring«. Die Künstlergemeinschaft ist mit ihrem jährlichen Festival und vielen Veranstaltungen und Ausstellungen für die erstaunliche Renaissance von Thomas mitverantwortlich. Doch den entscheidenden Impuls gab ein Mann namens John Bright, wie ich Wochen später erfahre: der Besitzer der »Purple Fiddle«.

Das Konzert mit den vielen melancholischen Liebesliedern von »June Star« ist eines der letzen in der »Fiddle«. Ab Mitte März 2020 ist Schluss. Die Corona-Pandemie hat auch Thomas erreicht. Weniger das Virus selbst: Im ganzen Landkreis gibt es in den ersten drei Monaten der Pandemie nur vier Infektionsfälle. Aber auch Thomas muss, wie die gesamten USA, in den Lockdown. Und wie in vielen Gegenden sind die wirtschaftlichen Auswirkungen verheerend.

Ende Mai fahre ich noch einmal nach Thomas. In den USA, wie im Rest der Welt, tobt längst die Diskussion, ob die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie nicht völlig übertrieben waren. Ob der wirtschaftliche Schaden, der dadurch angerichtet wurde, nicht schlimmer ist als Erkrankungen und Tote. Wie sieht man das wohl in der amerikanischen Provinz?

In West Virginia mit seinen knapp 1,8 Millionen Einwohnern gab es bis Anfang Juni nur gut 2 000 Covid-19-Fälle. Und 78 Tote. Zum Vergleich: In Hamburg mit nur wenig mehr Einwohnern waren es über 5 000 Fälle und über 200 Tote. Schon vor Corona war dieser dünn besiedelte ländliche Bundesstaat der viertärmste in den USA. Im Februar lag die Arbeitslosenquote hier bei 5 Prozent. Im Mai waren es 15 Prozent. In Tucker County, zu dem auch Thomas gehört, sind es sogar 18 Prozent.

Ich treffe John Bright, den Besitzer der »Purple Fiddle« auf der Terrasse der Kneipe. Die Picknicktische stehen in großem Abstand. Werktags ist immer noch geschlossen.

Die »Purple Fiddle« ist ein rostroter Bau mit lila Holzsäulen und einer langen Geschichte. Sie war nicht immer Konzertkneipe, erzählt John stolz. 1915 wurde das Gebäude von der Familie DePollo gebaut. Die DePollos waren Einwanderer aus Italien, die wie so viele in dieser Zeit in der boomenden Bergbauregion ihren amerikanischen Traum verwirklichten. Bis in die frühen 1990er Jahre betrieb die Familie, inzwischen in der dritten Generation, in Thomas einen »General Store«. Der riesige schwarze Safe von damals, mit geschwungenen Füßchen und Messingbeschlägen, steht immer noch neben der Eingangstür. »Das hier war der Walmart von Thomas. Hier gab es alles: Lebensmittel, Bier, Stiefel, Helme, Lampen«, erzählt John.

Ein Laster mit Baumstämmen dröhnt vorbei. Die pittoreske Hauptstraße von Thomas ist offiziell ein Highway. Der gesamte Verkehr, der von Westen in Richtung Ostküste will, donnert hier durch. Früher waren auch viele Kohlelaster dabei. Die Zeiten sind lange vorbei: Die Flöze unter dem Stadtgebiet sind längst erschöpft. In ganz Tucker County gibt es nur noch einen einzigen aktiven Bergbau.

Der Niedergang kam langsam: In den 1910er Jahren, als nach einem Stadtbrand die meisten Häuser entlang der East Avenue, der Hauptstraße, neu gebaut wurden, lebten 2 500 Menschen in Thomas. 1940 waren es noch rund 1 400, zwei Jahrzehnte später dann nur noch 800 Menschen. Um die Jahrtausendwende schien sich der Trend kurzfristig zu drehen: Von 450 stieg die Einwohnerzahl wieder auf 580.

In dieser Zeit ließ sich auch John Bright in Thomas nieder: »Das war kurz nach dem 11. September 2001, also der letzten nationalen Krise. Ich habe damals in Charleston, West Virginia, gelebt. Da gibt es viel Chemieindustrie. Und ich hatte Angst, dass es ein Terrorziel werden könnte. Auf dem Land schien es mir und meiner damaligen Frau viel sicherer. Deshalb haben wir uns hier umgesehen.«

John, der früher als Fotojournalist für den Gouverneur von West Virginia arbeitete, zieht eine Grimasse: »Also, eigentlich war es natürlich total idiotisch, einen sicheren Job aufzugeben und stattdessen so was hier zu riskieren. Aber man lebt nur einmal und hat nur eine Chance, seinen Lebenstraum zu erfüllen.«

Mit seinem Kurzhaarschnitt, der getönten Brille und dem blau gemusterten kurzärmeligen Hemd sieht der 56-Jährige so gar nicht aus, wie ich mir einen musikverrückten Aussteiger in der Provinz vorgestellt habe. Er sei auch kein Musiker, sagt John, sondern nur Musikliebhaber. »Ich würde alle Eltern davor warnen, ihren Kindern etwas ausreden zu wollen. Als ich fünfzehn war, habe ich all mein Taschengeld in Alben investiert. Meine Mutter hat mich dann immer ausgeschimpft: Warum verschwendest du so viel auf die Musik. Und jetzt habe ich eine Konzertkneipe und buche die Bands, die hier spielen.«

Über zehn Jahre hat John gebraucht, um aus der »Purple Fiddle« einen überregional bekannten Musiktreff zu machen, der Bands und Publikum von der gesamten Ostküste anzieht. Jetzt fürchtet er um sein Lebenswerk: »Wir sind eigentlich als Konzertschuppen bekannt. Und wir haben keine Ahnung, wann wir wieder Konzerte, Livemusik machen können.« Zwar darf John die Terrasse seit ein paar Wochen wieder bewirtschaften, aber noch sind die Touristen nicht zurück, die hier im malerischen Canaan Valley im Sommer wandern und im Winter Ski fahren. Um über die Runden zu kommen, jobbt John nebenher als Pizzalieferant. Und er hat die laufenden Kosten so weit wie möglich gesenkt: Statt neun Kühlschränken laufen nur noch zwei. Auf Satellitenradio und -fernsehen verzichten er und sein 17-jähriger Sohn jetzt auch erst einmal. Und seine zwölf Mitarbeiter musste John gehen lassen: »Die Regierung zahlt den Leuten gerade mehr, um zu Hause bleiben, als ich ihnen hier an Lohn geben kann. Sie kriegen sechshundert Dollar zusätzlich Arbeitslosenhilfe. Also warte ich, bis diese Programme auslaufen, damit ich wieder mehr Leute einstellen kann.«

John ist es ganz recht, dass noch nicht so viele Leute kommen: Er hat Angst, dass sich jemand anstecken könnte. »Ich glaube nicht, dass wir vorsichtig genug sein können. Sonst müssen wir nur wieder in den Lockdown gehen. Ich weiß, viele Leute sagen: ›Wir hätten nie alles dicht machen sollen, der Schaden für die Wirtschaft ist zu hoch.‹ Aber kann man wirklich ein Leben in Dollar aufwiegen?«

Seth Pitt sieht das ganz ähnlich. Der Mittdreißiger in kunstvoll verknautschtem Lederhut und Designerleinenhemd würde perfekt in den Biergarten der Leipziger Baumwollspinnerei passen. Stattdessen lebt der Künstler und Galerist seit fünfzehn Jahren in Thomas. »Ich bin aus einer Laune heraus hier gelandet: Irgendjemand hat mir erzählt: ›Du wirst es lieben. Die Mieten sind niedrig. Es gibt einen guten Job.‹ Und als ich herkam, haben mir die Leute so gut gefallen. Die Landschaft ist schön. Aber vor allem ist es einfach eine tolle Gemeinschaft hier.«

Inzwischen hat Thomas eine Kunstszene, die man eher in einem urbanen Hipster-Viertel als in der Provinz vermuten würde. Die Galerien, eine Textildesignerin, ein Laden mit Kunstbedarf. Auch der Fotograf John Ryan »J. R.« Brubaker, der in Belgien Kunst studiert hat, lebt jetzt hier. Dabei wollte er ursprünglich nur einen Freund besuchen: »In den ersten 72 Stunden hier habe ich mich zu Hause gefühlt und Freunde gefunden. Es ist eine unheimlich kreative und inspirierende Umgebung und noch dazu mitten im Wald.« J. R., mit grau werdendem Vollbart und Fidel-Kappe, spielt mit der Stoffmaske um seinen Hals. »Damals war hier noch gar nichts los. Und auch das hat mich angezogen. Ich habe vorher in einer Stadt gelebt und brauchte mehr Platz für ein Atelier. Und ich wusste: Ich will nicht nur Kunst machen, sondern sie auch zeigen.«

Die Michigan-Connection – viele der rund dreißig Kreativen in Thomas stammen wie Seth und J. R. aus dem mittleren Westen – dominiert nicht nur optisch das Bild der historischen Altstadt von Thomas. Die Künstler sind auch wirtschaftlich wichtig für den Ort: Die Ausstellungen und Rundgänge ziehen hunderte Besucher an. Kundschaft für die Trödelläden und das »Tip-Top«-Café, in dem der Cappuccino mit Sojamilch so schmeckt und so viel kostet wie in Brooklyn oder Pacific Heights. Und die Künstler investieren: Seth und J. R. haben die Häuser gekauft. Sie arbeiten im Erdgeschoss und wohnen oben drüber. »Wir wollen damit auch das übliche Narrativ vermeiden: Dass erst die Künstler kommen, dann die Gentrifizierung einsetzt und die Kreativen sich dann die Mieten nicht mehr leisten können«, erklärt Seth.

Bis zum Corona-Lockdown schmiedete das Künstlerkollektiv schon den nächsten Plan: Gemeinsam wollen sie das Haus kaufen, in dem sie den »White Room« eingerichtet haben, gleichzeitig Atelierhaus und Galerie. Das Geld dafür sollte auch beim jährlichen »Art Spring«-Festival verdient werden. Doch das wurde abgesagt. Noch lassen Seth, J. R. und die anderen niemand Fremden ins Atelier.

Zum Interview treffen wir uns deshalb an einem Picknicktisch am Rail Trail, der ehemaligen Bahnstrecke zwischen dem Black Water River und der Hauptstraße. Früher dampften hier die Kohlezüge durch. Die Schienen sind längst verschwunden. Jetzt summen ein paar Hummeln über der Wiese.

»Zwischen Mai und September ist unsere Hauptsaison, da verkaufen wir am meisten. Also ist schon eine schwierige Zeit, geschlossen zu sein«, sagt J. R. »Aber mir fällt es echt schwer zu sagen: Wir machen unsere Kunsträume auf, wenn das irgendein Risiko birgt.«

Die Künstler haben ihr Konzept umgestellt. Wir spazieren die paar Meter hoch zu Seths Galerie: Abstrakte Grafiken hängen neben fast naiven Aquarellen und experimenteller Fotografie – ein stilistischer Wildwuchs von verschiedenen Künstlern aus dem Ort. Eine Schaufensterausstellung, für die wenigen Besucher, die sich schon her trauen. Aber vor allem eine Online-Show, sagt Seth: »John Ryan hat eine Seite gebaut, dort stellen wir jetzt aus. Und versuchen uns mit den sozialen Netzwerken anzufreunden – was wir bislang eigentlich vermieden haben.«

Im Umgang mit der Pandemie spiegelt sich in Thomas die Zerrissenheit der Nation. Die zugezogenen liberalen Künstler in der historischen Altstadt tragen Maske und sind sehr vorsichtig. Aber nur zweihundert Meter weiter den Hang hinauf ist von Corona-Ängsten nichts mehr zu sehen oder zu spüren.

Im »Country Roads Saloon« herrscht um die Mittagszeit schon reger Betrieb. Die Blockhütte auf dem Gelände einer ehemaligen Tankstelle mit einer kleinen Musikbühne, den schlichten Holztischen, den Jagdtrophäen und den gerahmten Aphorismen (»Alkohol! – Weil keine gute Geschichte je mit einem Salat begonnen hat.«) ist der Treff der Alteingesessenen. Eine Familie mit zwei Kindern macht sich über Burger und Pommes her. Mit meiner Maske werde ich von den Gästen halb belächelt, halb misstrauisch beäugt – weil außer mir niemand eine trägt. Selbst Wirt Gary Riggs, mit Baseballkappe und grauem Bart, verzichtet auf einen Gesichtsschutz. Obwohl er ihn gebrauchen könnte, wie er mir verrät: »Ich bin in der Hochrisikogruppe, 63 Jahre alt, hatte schon drei Herzinfarkte. Aber wenn ich das Virus jetzt bekäme, würde ich nicht sagen: ›O Gott, warum ich?‹ – Sondern: ›Okay, ich bin jetzt dran.‹«

Auch für Gary waren die vergangenen Monate im Lockdown schwer. Er versuchte vergeblich, einen Kredit aus einem der Hilfsprogramme für Kleinunternehmer zu bekommen: »Zwei Monate lang habe ich immer wieder dort angerufen und musste jedes Mal wieder einer anderen Person die gleichen Informationen geben. Und dann haben sie es schließlich abgelehnt, weil wir keine ›Credit History‹ haben.«

Credit History ist das US-Äquivalent der Schufa-Auskunft. Mit einem entscheidenden Unterschied: Kreditwürdigkeit bekommt man hier erst bescheinigt, wenn man schon mal einen Kredit hatte oder wenigstens eine Kreditkarte, die man regelmäßig abbezahlt. »Aber wenn man eine Bar in West Virginia aufmacht, dann bekommt man von keiner Bank einen Kredit.« Gary schüttelt genervt den Kopf.

Die politischen Entscheidungen während der Corona-Pandemie sieht Gary kritisch: »Manches hat einfach keinen Sinn gemacht: Dieses Rigorose und wie dann die Regierung entschieden hat, was systemrelevant ist und was nicht.«

Obwohl Gary das »watering hole«, also die Bar für die Einheimischen betreibt: der ehemalige Polizist selbst zog erst vor sechs Jahren aus Florida hierher. Gemeinsam mit seiner Frau, die aus West Virginia stammt: »Das Leben hier ist ein bisschen langsamer und alle achten aufeinander. Als diese ganzen Unannehmlichkeiten wegen Corona anfingen, da haben wir zusammengehalten. Anderswo wurde das Toilettenpapier knapp. Hier hat irgendeine gute Seele immer Klopapier vor das Postamt gelegt. Und wer eine Rolle gebraucht hat, hat sich bedient. Und wer es nicht brauchte, hat es liegen lassen. So ist das hier. Wie kann man das nicht lieben?«

Die Leute in diesem Landstrich seien anders, sagt Gary: »Uns ist es egal, mit wem du ins Bett gehst. Uns ist es wurscht, ob du einen Titel hast oder wen du wählst. Wir nehmen die Leute, wie sie sind. Und wir kommen miteinander aus.«

Im Rest der USA gilt West Virginia als »Trump Country«. 68,5 Prozent der Menschen stimmten für den Republikaner; nirgendwo sonst war der Vorsprung vor Hillary Clinton so groß wie hier. In Tucker County holte Donald Trump sogar 73 Prozent. Auch Gary Riggs machte sein Kreuzchen für den Präsidenten. Jetzt bereut er das – aber nur ein bisschen: »Er hat für ziemlich Verwirrung gesorgt. Er twittert einfach zu viel. Aber das war ja von Anfang sein Problem. Und je nachdem, welchen Kanal man wann guckt, hat er entweder einen guten Job gemacht oder total versagt. Anfangs sah es so aus, als ob er bei Corona zu schnell handelt. Und jetzt, im Rückblick hat er nicht schnell genug gehandelt.« Gary zuckt mit den Schultern: »Ich bin froh, dass ich nicht Präsident bin.«

Noch hat sich Gary nicht entschieden, für wen er im November stimmen wird. Aber er ist sich trotzdem ziemlich sicher, dass Trump auch ohne seine Unterstützung wiedergewählt wird: »Man sieht hier immer noch viele Trump-Fahnen.«

Seth, der Künstler aus Michigan, warnt davor, alle Bewohner von West Virginia über einen Kamm zu scheren. »Natürlich gibt es hier viele Trump-Unterstützer, das sieht man ja an den Zahlen. Aber in diesem Staat gibt es auch sehr viele unabhängige Geister. Und ich glaube, viele haben Trump gewählt, weil er der Anti-Establishment-Kandidat war. Und das Gleiche gilt für alle Staaten, in denen die Leute schlecht behandelt und ausgebeutet wurden. Die Menschen misstrauen der Politik. Aus gutem Grund, denn sie sind schon so oft enttäuscht worden.«

Eine Anti-Corona-Maßnahme war in West Virginia – wie in den gesamten USA – besonders umstritten: das Verbot von Gottesdiensten. In West Virginia galten religiöse Einrichtungen zwar als »systemrelevant« und durften theoretisch Messen und Andachten abhalten, aber auch für Kirchen galt die Obergrenze von maximal zehn Teilnehmern. Im Mai wurde dieses Gebot wieder aufgehoben. Und Jay Bunting konnte wieder fast wie gewohnt seiner Arbeit nachgehen: als Pfarrer der Methodistenkirche von Thomas.

Die drei Kirchen des Ortes thronen auf dem Hang über der Stadt. Das Gotteshaus der Methodisten ist ein schlichter weißer Holzbau. Jay, der mit seinem langen roten Bart an Rübezahl erinnert, betreut nicht nur diese Gemeinde, sondern auch drei weitere in der Region.

Bevor wir hineingehen, ziehe ich mir meine Maske auf. Jay winkt ab: »Von mir aus müssen Sie keine Maske tragen.« Rechts neben dem Eingang steht die US-Flagge. Links an der Wand hängt die Fahne von Israel. Unter dem Holzpult lehnt ein Schild mit der Aufforderung: »Bete!« Wir setzen uns auf eine der stoffbezogenen Kirchenbänke. Auch auf Abstand legt Pfarrer Jay keinen Wert – obwohl er zugibt, dass seine Ärzte das nicht gerne sehen: »Ich hatte Krebs. Aber ich sage mir: ›Wenn Gott mich jetzt zu sich holen will, dann ist das eben so.‹ Ob man nun an Covid-19 stirbt oder durch einen Blitzschlag oder bei einem Autounfall. Wenn die Zeit gekommen ist, ist die Zeit gekommen.«

Im Gottesdienst aber hält sich auch Jay aus Rücksicht auf die Gemeinde an die vom Bundesstaat empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen. Keine Gesangbücher, weil Singen wegen der fliegenden Tröpfchen zu gefährlich ist. Abstand auf den Kirchenbänken. »Wir mussten uns was Neues ausdenken. Unser Pianist hat einfach ein paar von den alten Hymen angespielt. Und die Gemeinde musste raten. Er hat uns ganz schön zum Grübeln gebracht. Ein paar von den älteren Frauen meinten: ›Was spielt er da?‹ Ich habe auch nicht alle erkannt …«

Jay, der aus dem Nachbarstaat Maryland stammt und wie Seth an den Menschen in West Virginia ihre Neigung zum Widerspruch schätzt, macht aus seiner Meinung zu den Anti-Corona-Maßnahmen kein Hehl: Alles völlig übertrieben. »Ich bin seit 25 Jahren Pfarrer. Ich habe Gemeinden während SARS betreut, während der Schweinepest. Und das war viel schlimmer. Wenn man H1N1 bekommen hat, dann war das ein Todesurteil. Aber bei Covid hat man eine Überlebenschance von 98 Prozent.«

Ich widerspreche Jay nicht. Aber die Fakten tun es. Laut »Centers for Disease Control« gab es in den USA im ersten Jahr der Schweinepest 12 000 Tote. An Covid-19 starben allein in den ersten drei Monaten über 100 000 Menschen. Und auch die Sterberate ist bei Covid-19 deutlich höher: 1,3 statt 0,001 Prozent.

Doch der wirtschaftliche Stillstand und die Lockdown-Regeln seien mindestens so gefährlich wie das Virus selbst, findet Jay: »Wenn man so lange ans Haus gefesselt ist und nichts mehr machen darf, dann ist dies das Todesurteil für Leute, die sowieso schon an Depressionen leiden.« Erst vor ein paar Tagen habe ihn eine Frau angerufen, deren Sohn sich deshalb das Leben genommen habe.

Jay fürchtet, dass das Corona-Virus dem Ort endgültig den Todesstoß versetzen könnte – ohne, dass überhaupt viele Menschen hier erkrankt sind: »Der Tourismus ist nach dem Ende der Kohle das Einzige, was die Gegend am Leben hält. Eines der letzten großen Sägewerke hat gerade dichtgemacht. Dadurch drohen auch die verbliebenen Druckereien einzugehen. Wenn die Jobs weg sind – wo sollen die Familien dann hin?«

Angst vor dem Virus. Und Angst vor den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Nicht nur in Thomas wird das von vielen als Gegensatz gesehen. Umfragen zeigen: Republikaner haben mehr Angst um die Wirtschaft. Und Demokraten mehr Angst um die Gesundheit.

John von der »Purple Fiddle« hat Angst vor beidem: dem Virus und was es für seine Zukunft bedeutet. Zu Beginn der Pandemie sei er völlig verzweifelt gewesen, erzählt er mir. Inzwischen ist sein Kampfgeist zurückgekehrt. Auf seiner Webseite bewirbt er immer noch Konzerte, von denen er nicht weiß, ob sie stattfinden können. Aber er ist sich sicher: »Wir werden überleben.«

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