Читать книгу Darcian - Julia Lindenmair - Страница 6

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Kapitel 1


Ich habe nie gewusst, was es bedeutet, Todesangst zu haben. Aber ich habe vielen Erdenbewohnern dabei zugesehen.

Viel zu lange stehe ich schon in diesem sterilen Krankenzimmer, in dem es nach Desinfektionsmittel und schweißnassen Bettlaken riecht. Ich wurde nicht zum ersten Mal hierher gerufen, in dieses hässliche Gebäude, das einem geschmacklosen Kasten aus Beton gleicht. Erdenbewohner, die sich Architekten nennen, scheinen viel Freude daran gehabt zu haben, eine überdimensionale Kiste zu bauen.

Die niedrige Decke scheint mich zu erdrücken, während die grellen Bilder an den Wänden förmlich danach schreien, von mir herunter gerissen zu werden. Lediglich das leise Surren der Klimaanlage wirkt beruhigend und lässt mich zu meiner Arbeit zurückkehren.

Gebannt blicke ich auf das römische Ziffernblatt der Taschenuhr in meiner Hand, konzentriere mich auf das feine Hämmern des Federwerkes und warte darauf, dass der verschnörkelte Zeiger endlich zu wandern aufhört. Beendet dieses mechanische Herz seine Tätigkeit, wird sie das Gegenstück in der linken Brust des Mannes vor mir auch tun. Und in wenigen Minuten wird es soweit sein, darauf hoffe ich. Eine Zeit lang sehe ich auf das zerschlissene Glas hinunter, doch von Minute zu Minute werde ich ungeduldiger.

Bleib stehen!, befehle ich dem Zeiger per Gedankenübertragung, allerdings komme ich nicht gegen die Sturheit dieser Uhr an. Ich lasse einen ungeduldigen Seufzer los, der still und heimlich durch den Raum wandert, während mein Blick zum Krankenbett vor mir schweift.

Das letzte Lächeln, das der bauchige Geschäftsmann seiner Frau schenkt – die natürlich die ganze Nacht nicht von seiner Seite gewichen ist – erlischt langsam. Noch sind seine dunkelbraunen Augen leicht geöffnet, sein Atem gleichmäßig, aber schwach, und sein Wille stark. Doch es ist ein Kampf, den er nicht gewinnen kann – der Tod schleicht sich hartnäckig heran und wird seinen Willen brechen.

Es klopf an der Tür, woraufhin ein schlaksiger Krankenpfleger in einem brombeerfarbenen Shirt den Raum betritt, gefolgt von einem penetranten Chemiegeruch, der sich sofort in der stickigen Luft verteilt. Während mein Magen zu rebellieren beginnt, tigert der Pfleger im Zimmer herum, begleitet vom Quietschen seiner Schuhsohlen auf dem Linoleumboden. Mit prüfendem Blick bleibt er an einem piepsenden Gerät stehen, das einem einzigen Wirrwarr aus Kabeln und Schläuchen gleicht.

Es dauert einen Moment, bis auch er begreift, wie drückend es im Raum ist. Schnaubend tritt er durch mich hindurch, ehe er das Fenster abkippt. Endlich dringt ein Schwall feuchter Luft in den stickigen Raum, der mich tief durchatmen lässt.

Auf der Erde ist es Ende Oktober. Noch zu früh für Schnee, doch nicht früh genug für raue Nächte und frostige Brisen. Ich mag die Kälte nicht und bin froh, dass es im Himmel keine Jahreszeiten gibt. Dort ist es tagsüber immer angenehm warm und sommerlich hell.

Ich inhaliere die frische Luft, ohne den Zeiger der Taschenuhr auch nur eine Sekunde aus den Augen zu verlieren. Gleich ist es soweit.

Schließlich – um 18:22 Uhr – hält er an. Wie auf Knopfdruck klappe ich den goldenen Deckel der Taschenuhr zu. Bevor ich sie zurück in meinen Lendenschurz stecke, streiche ich über die Gravur Charlie Fields, die in geschwungenen Buchstaben den gesamten Deckel ziert. Es ist bereits zu meinem Ritual geworden, mir nach dem Tod eines Erdenbewohners zuallererst seinen Namen einzuprägen. Charlie Fields also.

Charlies letzter Atemzug rasselt, während er Luft holt, die jedoch in seiner Lunge stecken bleibt. Die Geräte, an die er angeschlossen ist, beginnen wie wild zu piepsen, woraufhin der Krankenpfleger sofort reagiert: Er wird kreidebleich.

Nachdem er einen Moment so aussieht, als würde er sich gleich übergeben, fängt er sich wieder und drückt einen roten Knopf an der Wand.

Charlies Gliedmaßen haben aufgehört zu zucken. Sein eingefallenes Gesicht wirkt friedlich, seine Muskeln entspannt. Seine Augen, tief gebettet in geschwollene Tränensäcke, schließen sich langsam – für immer.

Mrs Fields springt vom Stuhl auf und schlägt sich die Hand vor den Mund. Abwartend sehe ich zu, wie der zuständige Arzt ins Zimmer stürzt, dicht gefolgt von einem ganzen Team aus Krankenschwestern. Der rothaarige Mann im weißen Kittel kontrolliert zuerst die Geräte, infolgedessen begutachtet er durch seine dicken Brillengläser Charlies Augen mit einer kleinen Taschenlampe und fühlt nach seinem Puls. Nach einigen erdrückenden Sekunden folgt ein gemächliches Kopfschütteln, mit dem der Arzt allen Anwesenden im Raum die Gewissheit verleiht, dass sein Patient nun seinen Frieden gefunden hat – denkt er, denn gleich übernehme ich. Das hat mit Frieden allerdings genauso wenig zu tun wie der Himmel mit der Unterwelt.

Charlies Frau fährt sich mit beiden Händen durch ihre grauen Haare und keucht, als würde sie gleich hyperventilieren. Der Arzt klopft der schluchzenden Witwe mitfühlend auf den Rücken, ehe er und seine Gefolgschaft sie mit ihrem leblosen Mann alleine lassen. Für sie bricht eine Welt zusammen, während es für mich lediglich eine frische Seele mehr im ewigen Kreislauf des Todes bedeutet.

Ab jetzt lastet die Verantwortung für Charlie alleine auf meinen Schultern, und wie immer warte ich sicherheitshalber ab, bis sich die Seele völlig vom Körper gelöst hat und bereit ist, mir gegenüberzutreten.

Meistens läuft es so ab, dass ich zuerst in die Augen der frischen Seelen blicke, die von Angst genauso erfüllt sind, wie von Erleichterung, wenn der Schmerz ein Ende gefunden hat. Sie blicken wortlos zurück, fragend und resignierend, als wären sie verrückt und ich nichts weiter als ein Hirngespinst. Danach dauert es eine Weile, bis ihnen bewusst wird, dass sie nicht mehr an ihre physische Hülle gebunden sind. Die Fassungslosigkeit darüber ist bei jeder frischen Seele gleich: Sie reißen den Mund auf, schnappen nach Luft und drehen sich um ihre eigene Achse, weil ihnen anfangs das Gefühl der Schwerelosigkeit genauso fremd ist wie die Tatsache, dass sie ihren eigenen Körper nicht mehr spüren können.

Irgendwann ist selbst die skeptischste Seele überzeugt und an der Stelle der absoluten Verzweiflung angekommen. Jeder reagiert zwar anders, aber die meisten Frischlinge sind Opfer ihrer eigenen Panik. Viele stürzen sich quiekend auf ihren Leib, wollen es nicht wahrhaben, während andere nur wie gelähmt dahinschweben und glotzen, als würden sie gleich ein zweites Mal sterben. Mit Lucien schließe ich schon Wetten ab, wie lange es dauern wird, ehe sich eine Seele wieder gefangen hat. Kinder sind schnell, im Gegensatz zu Erwachsenen, die oft eine Ewigkeit brauchen, um sich von ihren Körpern loszureißen.

Auch dieser Mann wird meiner Einschätzung gerecht. Er schwebt über der Materie aus Fleisch und Knochen, die ihn viele Jahre herumgetragen hat, und reißt die Augen weit auf, als er mich sieht.

»Du bist nicht echt. Nein, du bist nicht echt!« Seine Stimme zittert in der Luft.

»Im Augenblick bin ich für dich vielleicht nicht echt, doch unecht bin ich noch viel weniger.« Ich liebe diesen Satz, den ich ungefähr zehn Mal am Tag sagen darf.

Erst formt Charlie seine Finger zu einem Kreuz und streckt sie mir entgegen. Er merkt jedoch, dass es nichts bewirkt, stößt ein entsetzliches Winseln aus und brüllt mich an: »Weiche von mir, du Dämon!«

Ich fahre mir durch mein rabenschwarzes Haar und verdrehe die Augen. Nichts Neues dabei heute. Als ob ich gegen seinen Zustand etwas machen könnte – als ob ich daran schuld wäre.

»Hör auf mich anzuschreien«, äußere ich mich mit ruhig klingender Stimme. Niemand kann dem Tod entfliehen, die Erdenbewohner wissen das genauso gut wie wir Himmelsbewohner. Doch obwohl sie die ganze Tortur bestimmt schon hundert Mal durchgemacht haben, überrascht sie der Wechsel vom Leben auf den Tod immer wieder.

Allerdings will ich nicht kleinlich sein. Daher versuche ich Charlie Zeit zu geben, um mit seinem Leben auf der Erde abzuschließen und die Schwerelosigkeit in den Griff zu bekommen.

»Wer oder was bist du?«, schreit er mich erneut an, während er irritiert dreinblickend auf dem Kopf steht. Ich bin mir sicher, eigentlich will er sich das selbst fragen, denn sein immaterieller Körper scheint ihm mehr als suspekt zu sein. Seine Umrisse leuchten in einem kühlen Blau, während die schillernde Substanz unter der zittrigen Neonlampe durchsichtiger wirkt. Wie jede Seele wirkt auch er, als hätte man ihn von oben bis unten Azurblau angemalt, wobei seine Lippen, Fingerspitzen und Haare in noch kräftigeres Blau getunkt wurden. Sogar das Dunkelbraun seiner Augen wird jetzt von einem hervorstechenden Hellblau dominiert.

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Wenn du soweit bist, ins Licht geführt zu werden, gib Bescheid«, bitte ich, ohne auf seine Frage einzugehen. Er wird noch früh genug erfahren, wer ich bin.

Mit einem Seufzen rauft er sich die wenigen Haare, die er in den Tod mitgenommen hat, und versucht armrudernd sein Gleichgewicht zu stabilisieren. Ich grinse, da ich frischen Seelen gerne dabei zusehe, wie sie sich zum Affen machen. Dieser Mann toppt zweifellos den heutigen Tagesrekord an schiefen Grimassen und lauten Kreischattacken.

»Du wirst mich nicht mitnehmen!« Sein gellender Aufschrei fährt mir durch meine schwarzen Flügel.

»Das stimmt, ich werde dich nicht mitnehmen. Du wirst freiwillig mitkommen«, berichtige ich die aufgebrachte Seele. »Und jetzt konzentriere dich bitte auf deine Standfestigkeit!« Wartend massiere ich meine Schläfen, während er an seiner weinenden Frau vorbeischaukelt und damit beginnt, seinen leblosen Körper zu inspizieren – das Werkzeug, das er jahrelang benutzt hat.

»Das kann doch unmöglich ich sein?« Er glotzt seinen Körper mit geweiteten Augen an.

Ich blinzle und ziehe die Brauen nach oben. »Da gebe ich dir recht. Du siehst ganz gut genährt aus für einen kranken Körper, der sich viele Wochen nur mit Flüssignahrung über Wasser gehalten hat. Aber von den fleischigen Wangen mal abgesehen, hast du dich für Anfang siebzig echt gut gehalten. Ich vermute, die Gene deines Vaters sind hier durchgeschlagen. Er wird sich übrigens freuen, dich zu sehen.«

Stirnrunzelnd blickt mich Charlie an. So, als ob er nicht weiß, was er darauf antworten soll. Und so handelt er auch – er antwortet nicht.

Seine Frau, die noch immer über ihren leblosen Gatten gebeugt ist, hält seine blasse Hand und weint die weiße Bettdecke voll. Sie wird ihn erst loslassen, wenn sie seinen Körper abholen, da bin ich sicher.

»Das muss ein Traum sein … ein Albtraum. Ich muss zurück in meinen Körper, dann wird alles gut.« Es ist nur ein Flüstern, doch ich verstehe Charlie laut und deutlich.

Ich grinse in mich hinein. Sie sind alle gleich.

»Jetzt beruhig dich mal, komm runter.« Gemächlich führe ich meine Hände auf und ab, als würde ich ihn anbeten. Das praktisch veranlagte Geschlecht reagiert oft gestresster als das weibliche Gegenstück. Meiner Erfahrung nach muss man mit ihnen behutsamer umgehen. Bedächtig und thematisch, langsam und sachlich. So haben sie es mir in unzähligen Schulungen beigebracht.

»Aber du … du hast Flügel – schwarze Flügel! Und ich … ich bin durchsichtig und fliege …«

»Du schwebst«, korrigiere ich ihn.

»Ich … schwebe … und da liegt mein Körper! Wie kann-«

»Atme«, unterbreche ich ihn, »Das musst du trotzdem, okay? Atme tief ein und wieder aus. Die Luft muss aus dem Bauch, damit du dich stabilisieren kannst. Und dann versuche, deine Füße auf den Boden zu stellen. Das ist leichter, als es sich anhört. Los, probiere es mal.« Gehorsam befolgt er meine Anweisungen und steht nach ein paar wackeligen Ansätzen endlich nach meinen Vorstellungen vor mir.

»So ist es besser, oder?«

Er schwankt herum, als würde er auf einem Drahtseil balancieren, nickt jedoch.

»Wer bist du also?«, seine Lippen beben bei dieser Frage.

Ich räuspere mich. »Mein Name ist Darcian und ich bin ein Todesengel«, fasse ich mich kurz.

Die Augen des Mannes werden so riesig, als würden sie ihm gleich aus den Höhlen purzeln wollen.

»Keine Angst, du musst mich nicht fürchten. Ich bin kein typischer Todesengel, so wie es euch Menschen überliefert wird. Von mir gibt es ja die wildesten Geschichten.« Ich lache gestelzt auf.

»Also bist du nicht hier, um mich zu töten?«

»Ich bin nicht hier, um dich zu töten, denn das bist du ja schon.« Ich lache über meinen eigenen Wortwitz, doch stoße dabei nur auf einen kritischen Blick.

»Also gut, dann erkläre ich es heute zum hundertsten Mal.« Prustend nehme ich eine gerade Haltung ein, um noch größer zu wirken, als ich es ohnehin schon bin. »Der Himmel schickt mich, um dich ins Jenseits zu bringen, denn ich bin ein Portalwächter. Sozusagen das Band zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Ich bin der, den ihr Tunnel nennt – was auch immer das bedeuten soll.«

Ich bin mit meiner Erklärung fertig, jedoch wirkt Charlie nun noch verstörter als zuvor. »Ähm, stell dir einfach vor, ich bin für die nächste Zeit dein Gefährte. Derjenige, der dir schnellstmöglich erklärt, was du vom Jenseits wissen musst, bevor du die Grenze vollständig überschreiten wirst. Obwohl du wissen solltest, dass es im Jenseits so etwas wie Zeit nicht gibt. Daher gebe ich dir jetzt die Zeit, die Zeit so schnell es geht zu vergessen.« Während ich erneut laut auflache, verdreht Charlie die Augen. So weit ist er also schon. Wie die meisten frischen Seelen scheint er einen Witz nicht von einer ernsten Unterhaltung unterscheiden zu können.

»Danach werden sich unsere Wege trennen«, fahre ich schnaubend fort. »Bis dahin musst du mir vertrauen. Und zwar nur mir. Hast du das verstanden?«

Er nickt zögerlich. Ich bin mir nicht sicher, ob er kapiert hat, was ich gesagt habe, denn sein Blick verharrt lediglich auf meinen schwarzen Flügeln. Menschen sind ja so primitiv. Was denken sie sich? Dass ein blonder, vollbusiger Engel mit glitzernd weißen Flügelchen vor ihnen sitzt, auf einer Harfe spielt und sie tagelang tröstet und bemuttert? Quatsch. Das ist doch hier kein Wunschkonzert.

Ein solcher Unfug ist etwas für Liebesengel wie Lucien, die den ganzen Tag nichts anderes zu tun haben, als Pfeile in die Hintern von Erdenbewohnern zu schießen. Uns Todesengel muss man ernst nehmen, sonst wird uns schnell auf der Nase herumgetanzt – was absolut ärgerlich ist, wenn man bedenkt, wie viele frische Seelen ich am Tag ins Jenseits führe. Meine Gestalt mag zwar in jeglicher Hinsicht angsteinflößend sein, trotzdem scheint genau das ein Problem zu sein. Es fällt frischen Seelen nicht immer leicht, mir auf Anhieb zu vertrauen. Daher versuche ich es anfangs immer mit kühler Arroganz, die mir den gewissen Grad an Respekt verleiht. Ist eine frische Seele schließlich soweit, sich von mir führen zu lassen, offenbare ich mein wahres, charmantes Ich. Aber so weit sind wir jetzt noch nicht.

»Ich werde nun dein Leben mit dir durchgehen, bevor wir uns an die Arbeit machen.« Ich ziehe einen kleinen, schmalen Ordner in der Farbe meiner Flügel aus meiner Gürteltasche.

»Was ist das?« Charlie klingt angespannt.

Ein verräterisches Grinsen schleicht sich auf meine Lippen. »Das, mein Freund, ist deine Akte.«

Er schluckt und zieht die Augenbrauen nach oben. Für einen Moment hat es ihm die Sprache verschlagen, das gibt mir die Zeit, ihm alles vorzulesen, was seine Akte über ihn preis gibt – sein gesamtes Leben als Charlie Fields: seine Stärken, seine Schwächen, seine guten Taten und seine weniger guten. Seine Vorlieben und Hobbys. Seine Entscheidungen, seine Lügen und die Geheimnisse, die er bis jetzt mit sich herumgetragen hat. Einfach alles.

Als ich fertig bin, sehen wir uns an. Er ist, wie alle Seelen, sprachlos und glaubt in einem schlechten Albtraum gefangen zu sein. Ich schenke ihm ein breites Lächeln.

»Du kannst dich jetzt von deiner Frau verabschieden. Hören wird sie dich zwar nicht, aber du fühlst dich danach besser.« Ich werfe einen Blick in die Akte. »Kinder hast du nicht, wie ich lese, dann geht’s schneller. Ich gebe dir eine Minute, in der ich weder eine Träne sehen noch einen Seufzer hören will, sonst gebe ich Diabolus Bescheid, damit er dich übernimmt.«

Abrupt schlage ich die Akte wieder zu, was einen lauten Knall verursacht, der Charlie zusammenzucken lässt.

»Diabolus? Ist das der Teufel?«

»Teufel, Satan, Beelzebub, wie auch immer ihr Erdenbewohner ihn nennt. Das Grauen unter jedem Kinderbett, die endlose Schwärze im finsteren Kellerabteil, der Schatten in unzähligen Nischen und die Heimsuchung in jedem Albtraum. Das ist Diabolus, wie er leibt und lebt.«

Charlie seufzt erleichtert auf. »Gott sei Dank. Ich dachte schon, du wärst der Teufel.«

Ich rolle mit den Augen. »Ja, das denken die meisten. Aber verglichen mit Diabolus bin ich ein süßer Welpe«, gebe ich etwas herablassend zu.

Charlies schreckverzerrte Falten auf der Stirn ebnen sich langsam.

»Knuddeln gibt’s trotzdem nicht!«, füge ich noch rasch hinzu. »Nicht, dass wir jetzt sentimental werden. Oder noch schlimmer, Freunde. So was kann ich nämlich gar nicht ab.«

»Ähm, nein. Freunde werden wir bestimmt nicht«, lacht Charlie unnatürlich laut auf.

Mit einem Flügelsatz rücke ich näher an ihn heran, hebe eine Augenbraue und sage in ernstem Ton: »Warum nicht? Willst du etwa nicht mit mir befreundet sein?«

»Nein … ähm … ich meine … sicher …« Charlie stottert wie ein Maschinengewehr.

»Ich mach nur Spaß«, stoße ich gellend lachend hervor und klopfe dem sichtlich verwirrten Charlie mit überschwänglichen Schlägen auf seinen breiten Rücken. »Du bist ein wirklich sympathisches Kerlchen«, gebe ich zu, bevor ich meine Stimme von amüsiert wieder zur gewohnt tiefen und rauen senke. »Aber jetzt beeil dich, ich habe schließlich nicht die ganze Nacht Zeit. Auf mich wartet noch eine weitere Seele, die in Kürze abgeholt werden muss.«

Schnell drehe ich mich um und gehe einige Schritte von Charlie weg, weil ich weiß, wie wichtig den Menschen die Intimität mit ihren Liebsten ist. Obwohl die Seelen wissen, dass die andere Seite sie nicht hören kann, schütten sie ihnen ein letztes Mal ihr Herz aus. Wie unsinnig. Ich halte nichts von solch rührseligem Quatsch.

Wir Todesengel kennen keine Liebe. Gefühle machen bloß schwach und blind. Unsere Art der Zuneigung sind belanglose Flirts und, wie Menschen es nennen, bedeutungslose schnelle Nummern. Daher weiß ich nicht, was diese Gefühlsschwafelei überhaupt soll. Aber ich nehme es hin und warte bis er fertig ist, was definitiv länger als eine Minute dauert.

»Bist du endlich soweit?« Ich lasse meinen Fuß ungeduldig auf und ab wippen. Ich habe genug von diesen weißen Wänden.

Er schnieft und starrt dabei auf den dunkelblau gemusterten Bodenbelag, über dem er schwebt. »Fertig schon, aber bereit noch lange nicht.«

»Das sind die wenigsten. Nimm jetzt meine Hand.«

»Und dann?«

Meine Mundwinkel formen sich zu einem Grinsen. »Wirst du schon sehen.«

Zögernd schwebt er auf mich zu – das hat er zugegebenermaßen schneller beherrscht, als ich es ihm zugetraut habe.

Meine Hand ist das erste, das er nach seinem Tod spürt. Sie wird auch das Letzte sein, denn die Seelen im Jenseits können sich untereinander nicht berühren.

Obwohl ich weiß, dass ich das Portal alleine durch meine Gedanken öffnen kann, bewege ich meine Arme in kreisenden Bewegungen vor mir her. Nach meiner Erfahrung finden es frische Seelen eindrucksvoller, wenn ich aus so etwas Unbedeutendem eine Art Kunststück mache. Auch Charlie staunt nicht schlecht, als sich das Portal vor seiner Nase öffnet. Kreisrund und hell strahlend, wie die Sonne selbst. Jetzt beginnt der spannendste Teil meines Jobs.

»Wir werden gleich ins Jenseits übergehen. Was dich dort erwartet, kann ich jetzt noch nicht sagen, da jede Seele einer bestimmten Zone zugeteilt wird. Als Grundlage für diese Zone dient natürlich dein Leben. Wie du es gelebt hast und was dich davon geprägt hat.«

Charlie schluckt schwer. »Könnte ich auch in der Hölle landen? Oder im Fegefeuer?«

Ich muss laut lachen. Die Vorstellungen der Menschen über den Tod hinaus sind so absurd lächerlich. »Nein. In die Unterwelt zu Diabolus werden lediglich Seelen geschickt, die sich ihrer Zone im Jenseits nicht als würdig erweisen. Befolgst du die Regeln und lernst deinen Tod anzunehmen, wird dir nichts passieren.«

Ein Seufzer der Erleichterung glimmt mir entgegen.

»Auf geht’s«, sage ich im Befehlston.

Obwohl es nur den Bruchteil einer Sekunde dauert, zwischen den beiden Welten hin- und her zu wandern, fühlt sich die aufkommende Zeitlosigkeit immer wie eine endlos lange Schleife an. Man schwebt durch eine substanzlose Schwärze, gefüllt mit dem Nichts der beständigen Unendlichkeit, direkt hinein in den anziehenden Glanz einer gellenden Lichtkugel.

Als wir die andere Seite erreichen, führt Charlie sofort seine rechte Hand an seine Stirn. An das grelle Licht müssen sich die frischen Seelen immer erst gewöhnen.

Ich sehe mich um. Auch für mich ist es jedes Mal aufregend herauszufinden, welche Zone des Jenseits der Rat einer Seele zugewiesen hat. Da es Tausende von Möglichkeiten gibt, ist es nicht immer leicht, gleich auf den ersten Blick die jeweilige Zone zu erkennen. Diesmal fällt es mir jedoch nicht schwer.

Ein Meer aus plastischen Menschen gleitet uns entgegen, umringt von knallweißen Häusern, die bis hinauf in den violetten Himmel ragen, unter dem Bäume und Blumen in sattem Grün erstrahlen. Einige Seelen hüpfen schrill lachend auf den Dächern herum, wiederum andere schweben in liegender Position leicht wie Wolken dahin. Jede Substanz strahlt einen individuellen Farbton aus: von Knalltürkis, über leuchtendes Fuchsrot, bis hin zu dem Grellorange einer Morgendämmerung. Ich beobachte immer wieder, wie beeindruckend das für Neuankömmlinge ist. Das Farbenspektrum reicht weit über das der Erde hinaus, was oft dazu führt, dass viele frische Seelen anfangs vor Staunen komplett vergessen, warum sie eigentlich hier sind.

Charlie reibt sich die Augen und rümpft die Nase. Ich weiß, dass ihn die Umgebung blendet und er vorerst nur verschwommen sieht, aber das wird sich schnell ändern.

»Hier riecht es …«

»… nach einer Mischung aus Myrrhe und Weihrauch, vermischt mit Lavendel und einem Hauch von Zimt. Du wirst dich daran gewöhnen.«

Charlie zwinkert und langsam scheint er die Umgebung wahrzunehmen. Er wirft den Kopf in den Nacken und bestaunt die unzähligen Farben über sich wie ein kleines Kind. »Aber … das ist ja eine Großstadt.«

Ich nicke zustimmend. »Die Stadt der Vergebung. Ein bildhaft schöner Ort, um zu verzeihen und loszulassen. Da hat sich Mox ja was ganz Spezielles für dich ausgesucht.«

»Was? Vergebung? Ich verstehe nicht …«

»Es liegt an dir, herauszufinden, wem oder was auch immer du vergeben musst. Ein Ratsmitglied wird in Kürze hier auftauchen. Bis dahin bist du vorerst auf dich alleine gestellt. Vielleicht findest du ja eine dir bekannte Seele. Und vergiss nicht, eure Erdenzeit ist hier nur eine Illusion. Eine Einbildung, die frische Seelen noch in sich tragen. Das wird auch noch vergehen.«

Ich drehe mich von Charlie weg, als er plötzlich mein Handgelenk packt. »Und wer ist dieser Mox? Ist das etwa Gott?«

Meine Augenbrauen wandern nach oben. Gott. Ich lache innerlich auf. Mox hasst diesen Namen.

»Mox mag vielleicht so was wie dein Schöpfer sein, aber nenn ihn niemals Gott, hast du mich verstanden? Wenn er einen schlechten Tag hat, verbannt er dich sonst in die Unterwelt. Und da wieder rauszukommen ist beinahe ein Ding der Unmöglichkeit.«

Charlie schluckt schwer. Ich liebe es, frischen Seelen Angst zu machen.

Ich klopfe ihm auf die Schulter. »Mox ist immer bei dir. Du siehst ihn in jeder Seele und in jedem Element dieses Jenseits.«

Charlie runzelt die Stirn und schluckt den Kloß hinunter, der sich bei meinen Worten in seinem Hals gebildet hat. Seine Augen wandern in der Stadt umher, auf der Suche nach einem Zeichen von seinem Schöpfer. Mein Grinsen muss ich mir verkneifen.

»Darcian, wenn du nicht endlich damit aufhörst, die frischen Seelen zu verarschen, rupfe ich dir jede einzelne deiner schwarzen Federn aus und stecke sie dir in deinen Hintern!«

Ich drehe mich zu der piepsenden Stimme hinter mir um und blicke schmunzelnd in Mox’ beißend gelbe Augen, die dunkelgrün umrandet und von glatter Lederhaut umgeben sind.

»Wer ist dieses froschartige Wesen?«, fragt Charlie mit bebender Stimme.

Mox schnalzt mit seiner gespaltenen Zunge. »Frosch? Ich hab mich wohl verhört?«, schimpft er, sichtlich empört.

»Darf ich vorstellen: Das ist dein Schöpfer«. Ich zwinkere Charlie zu, der seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammenpresst.

Mox’ Gesichtsausdruck nach zu urteilen, würde er mich gerade am liebsten erwürgen.

»Aber … ich habe mir den Allmächtigen ganz anders vorgestellt. Nicht so … ähm … reptilienhaft«, gibt Charlie zu.

»Ach echt? Und wie sollte deiner Meinung nach der Allmächtige aussehen?«, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Die Menschen stellen sich Mox nach ihrem Ebenbild vor. Ein Mann mit weißem, langem Bart und einem Heiligenschein. Mox hingegen, ist nicht größer als mein Hals und ähnelt mehr einer Wanze als einem Gott.

Unser Allmächtiger kaut wütend auf seiner Zunge herum. Er ist nicht sonderlich erfreut darüber, wieder eine Seele anzutreffen, die nicht von mir belehrt wurde. Aber gerade das ist es, was mich von allen anderen Todesengeln unterscheidet – meine Gelassenheit. Etwas, auf das Mox niemals verzichten würde, er muss sich dessen nur noch bewusst werden.

»Also ich gebe Charlie dann an dich ab. Im Große-Töne-Spucken bist du ohnehin viel besser als ich. Ciao, Chef.« Langsam lasse ich meine Flügel flattern, doch Mox ist schneller als ich. Mit seinen kräftigen Hinterbeinen stürzt er sich auf mein Gesicht und hält sich mit den beiden kurzen Vorderbeinen an meinen Ohren fest. Ein Würgereiz überkommt mich. Wenn Mox seine glitschigen Schwimmhäute nicht sofort von mir löst, dann bekomme ich noch Pickel!

Er sieht mir tief in die Augen. »Du wirst dieser Seele jetzt gefälligst erklären, dass ich nichts mit seiner Schöpfung zu tun habe, sonst kannst du was erleben!«

»Willst du mir dann mein hübsches Gesicht zerkratzen?« Ich lache, weil wir beide wissen, dass Mox niemals dazu im Stande wäre, mir etwas anzutun – und weil er keine Fingernägel hat.

»Ich werde dir die Ohren lang ziehen, du respektloses Bürschchen!« Er macht seine Drohung war und zieht so fest, dass ich mir einen Schmerzenslaut nicht verkneifen kann.

»Na schön.« Mit einem Ruck reiße ich Mox von mir runter und reibe meine heißen Ohren. Zeitgleich sehe ich zu Charlie, der deutlich überfordert ist.

»Dieser Grobian von der Größe einer lästigen Wanze ist nicht dein Schöpfer. Vielmehr ist er die Darstellung des Grauens in einer unvollkommenen Froschgestalt. Zufrieden?«

Mox’ Kopf wird vor Zorn violetter als der Himmel über uns, während Charlie, nun noch verwirrter, den Kopf schüttelt. Ziel erreicht.

Mit dem rechten Handrücken wische ich mir über die Nase, doch Mox’ ekliger Fischgestank hat sich bereits darin festgesetzt. »Den Rest schaffst du selbst, Chef«, zwinkere ich ihm zu und mache mich aus dem Staub, ehe er mich erwürgen kann. Mit ruckartigen Flügelschlägen erhebe ich mich in den bunten Himmel.

»Darcian, du bist unmöglich! Wenn ich dich in die Finger bekomme, dann …!«, ruft er mir wütend nach, während ich lachend davonfliege.

Obwohl Mox einer der obersten Ratsvorsitzenden ist, und noch dazu mein Chef, pflegen wir eher ein Verhältnis, das neckenden Brüdern gleicht. Das war schon immer so, und auch wenn es Mox manchmal den letzten Nerv kostet, bin ich mir sicher, dass ihn meine Neckereien im Großen und Ganzen amüsieren. Sie lockern unser streng strukturiertes Dasein auf.

Ich strecke meine Schwingen aus, spreize sie und lasse den Wind durch jede einzelne meiner schwarzen Federn gleiten. Ich fliege durch samtweiche Wolken hindurch, drehe mich dabei im Kreis und werde eins mit der Umgebung. Das Gefühl, das mich dabei überkommt, ist mehr als unsägliche Euphorie. Es ist ein Rausch, der die Gedanken nicht vernebelt, sondern frei macht. Der Wind fährt durch meine pechschwarzen Haare hindurch, spielt mit meinem Federkleid, und schmiegt sich an mich wie eine warme Woge der Freiheit.

Mitten im Flug öffne ich das Portal zur Zone drei und bin so schnell hindurch geschlüpft, dass Mox nicht einmal in Erwägung ziehen kann, mir wütend auf seinem kleinen, fliegenden Wölkchen zu folgen. Ohnehin wird er gerade damit beschäftigt sein, Charlie darüber zu informieren, dass er genauso wenig sein Schöpfer ist, wie ich ein Dämon bin.

Was ich nie verstehen werde, ist, warum Erdenbewohner andauernd alles hinterfragen müssen. Sie sind so damit beschäftigt, ständig etwas oder jemanden zu finden, um ihre Existenz erklären zu können, dass sie völlig über das Klarste hinwegsehen – ihr Ursprung ist so simpel wie die Entstehung der Erde: Sie allein sind ihre Schöpfer. Die Seelen schicken sich selbst auf die Erde, um zu lernen und sich dadurch weiterzuentwickeln, und überlassen es uns Himmelsbewohnern über sie zu wachen wie Mütter über ihre Kinder. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen, wie bei einem kurzen Besuch, der in unterschiedlichen Welten stattfindet. Auf der Erde dauert er ein ganzes Leben lang, wobei er im Jenseits bloß für einen einzigen Wimpernschlag andauert. Ein Kreis, der sich niemals schließt. Und je länger die Frischlinge im Jenseits sind, umso schneller erlangen sie ihre geistige Klarheit wieder, die sie bereits als Baby im Mutterleib zurückgelassen haben. Wir helfen ihnen dabei, wieder zu sich selbst zu finden, denn es muss schwer sein, immer wieder aufs Neue alles zu vergessen.

Zumindest tragen sie die Existenz von uns Engeln noch in ihrem Unterbewusstsein, obwohl ihr Ideal wohl eher nicht auf mich zutrifft. Auch wenn die Seelen auf der Erde ihre Erinnerungen verlieren, wundert es mich immer wieder, dass ihnen Einzelheiten über das Jenseits und mancher Himmelsbewohner im Gedächtnis geblieben sind. Dabei muss ich sofort an Lucien denken. Seine Brust schwillt vor Stolz immer an, wenn ihn eine frische Seele umgehend wieder erkennt, was leider nicht selten der Fall ist. Lucien ist der, den die Menschen Amor nennen. Ein Liebesengel, der dazu bestimmt ist, Herzen höherschlagen zu lassen. Dabei ist er einer der dreistesten Engel überhaupt, der seine Liebespfeile dazu nutzt, die Herzen der Menschen in Flammen zu setzen, um dadurch ihre Leidenschaft zu wecken. Lucien ist es dabei piep egal, ob er damit Unheil anrichtet, wie Ehen zu zerstören oder Liebespaare zu fertigen, die einem Menschen eher suspekt sind. Damit haben die Pfeile schon viele Erdenbewohner an den Rand der Verzweiflung getrieben. Dennoch vergöttern sie ihn, wenn sie ihn sehen. Ich schüttle grinsend den Kopf. Dieser freche Scheinheilige spielt mit den Gefühlen anderer und alle bewundern seine Taten, während ihre erste Begegnung mit mir immer in einer Panikattacke endet. In meinem Kopf höre ich Luciens Stimme sagen: »Manche haben es eben drauf, manche nicht.« Ich lache in mich hinein, weil ich weiß, dass ich es hier ohne ihn nicht aushalten würde.

»Hey, Darcian, mach langsamer, sonst verlierst du noch deine zarten Flügelchen«, schreit mir Agatha vom Felsen der Wahrheiten zu. Sofort halte ich an und spähe auf eine lange Schlange von quengelnden Seelen hinunter, die alle vor einem riesigen Krater stehen und nacheinander darauf warten, in die nächste Zone des Jenseits übergehen zu dürfen. Mittendrin erblicke ich den schönsten Engel von allen, der mir anmutig zuwinkt. Dürr wie eine Spindel, mit haselnussbraunem Haar und noch dunklerem Teint, der im gleißenden Licht der Sonne kakaobraun wirkt. Sie sieht einfach wahnsinnig gut aus.

Mit einem eleganten Flügelschlag lande ich neben Agatha, ziehe ihre rechte Hand an meine Lippen und hauche ihr als Begrüßung einen zärtlichen Kuss auf den Handrücken.

»Du weißt, wie man einer Frau imponiert«, sagt sie mit einem breiten, verlegenen Lächeln.

Sie liebt meine charmante Art und ist ihr sichtlich verfallen.

Ich ziehe die Augenbrauen nach oben, während ich gleichzeitig in die Gesichter einiger männlicher Seelen blicke, die vor Neid nahezu hochgehen. Neben mir steigen vereinzelte Portale aus dem Krater auf, die mit einem dumpfen Knall zerplatzen und ein Feuerwerk aus Farben zurücklassen. Ausgewählte Seelen warten darauf, in eins der Portale zu springen, das sie in die nächste Zone bringen wird.

»Hat dich Mox etwa schon wieder eingeteilt, um die Erwählten auszusortieren?«

Agatha nickt seufzend. »Schon das dritte Mal diese Woche, und die Schlange scheint heute kein Ende zu finden. Langsam beginne ich zu glauben, er hat was gegen mich.«

»Wir wissen doch beide, dass dies nicht der Fall ist. Wer könnte gegen solch eine Schönheit schon was haben«, sage ich keck und zwinkere ihr zu.

Agatha senkt verlegen den Blick, doch ich hebe ihr Kinn leicht an, damit sie mich ansehen kann. Ich blicke ihr tief in die Augen, die violett sind – wie die aller Engel. Sie sind nichts Besonderes, trotzdem beglückt mich dieses gewisse Funkeln immer wieder, das meine Gegenwart in ihnen hervorruft.

»Ihr Todesengel seid alle gleich. Hauptsache ihr habt Spaß daran, unsinniges Zeug von euch zu geben.« Ihr Gesichtsausdruck lässt sie eingeschnappt wirken, aber ich weiß, dass sie unseren Flirt richtig genießt. Schon immer funkte es zwischen uns. Obwohl der ganze Himmel weiß, dass Agatha eine Schwäche für Todesengel hat, benehme ich mich immer möglichst zurückhaltend und charmant, das kurbelt ihren Trieb jedoch nur noch mehr an. Irgendwann habe ich sie so weit, dass sie mir völlig aus der Hand frisst – das wird ein schöner Spaß.

Mir Agathas lechzendem Blicks vollkommen bewusst, spreize ich meine Flügel und steige mit einem Ruck wieder auf.

»Willst du schon weg?« Sie klingt betont gleichgültig, doch ich weiß, dass sie gedanklich an meinen Lippen klebt.

Im Flug drehe ich mich um und begegne ihrem frustrierten Blick. »Ich muss, sonst killt Lady mich!«

»Wann kommst du wieder?«

»Sobald ich Zeit finde!« Mit den Lippen berühre ich meine Fingerspitzen und werfe ihr einen Kuss zu. Mit einer lächerlichen Geste greift sie danach, als würde sie eine Mücke fangen, und schließt ihre Hand zu einer Faust.

Nach diesem kleinen Abstecher mache mich auf den Weg in den Himmel, zum Elysium, um mir dort die Akte der nächsten frischen Seele abzuholen. Dafür entscheide ich mich immer für den längsten Weg, durch verschiedene Portale und Zonen des Jenseits hindurch, um, wenn ich Glück habe, andere Todesengel anzutreffen. Mich mit meinen Gleichgesinnten auszutauschen tut mir gut, weil wir genau wissen, wovon wir sprechen. Wir erzählen uns meist die schrägsten Geschichten über frische Seelen. Genau heute hätte ich eine ganz spezielle auf Lager – über eine reiche Adelige, die mich ernsthaft mit Geld bestechen wollte, damit ich sie nicht mitnehme. Jedoch scheine ich kein Glück zu haben. Weder an der Bucht der Paradieswächter noch im Zentrum des Lichts kann ich einen der Todesengel finden. Heute gibt es wohl viel zu tun auf der Erde, ich muss mich also sputen und meine Flügel in die Hand nehmen, bevor ich mir wieder eine Predigt von Mox anhören kann, wie unglaublich lahm und ungesittet ich doch bin. Allein diese Vorstellung macht mir Feuer unterm Hintern, obwohl ich es genieße, ihn aufzuziehen und ihn bis an die Grenzen seiner Wut zu bringen.

Von Weitem erblicke ich das Elysium, den Sitz des Rates, der mich immer wieder an das Weiße Haus auf der Erde erinnert. Nur etwas größer, höher und beeindruckender als das schmächtige Abbild im Diesseits.

Als ich am Seitenflügel der Südfront ankomme, und die knapp fünf Meter hohe Doppeltür aufschiebe, läuft mir Lady bereits entgegen. Ihr Auftreten verheißt mir nichts Gutes, denn sie ist Mox’ kleine, schwarze Katze und zugleich seine rechte Hand. Sie hat stets alles und jeden im Blick, ist punktgenau, durchdacht und für ein so niedliches Wesen ziemlich einschüchternd und impulsiv. Es ihr recht zu machen ist eine Aufgabe, der ich nicht gewachsen bin. Ich fliege auf sie zu und erblicke eine Taschenuhr in ihrem Maul. Mit der rechten Pfote schiebt sie die Akte der nächsten frischen Seele vor sich her. Als sie mich sieht, zucken ihre kleinen weißen Flügelchen auf dem Rücken kurz, bevor sie sich schräg nach oben aufstellen. Offensichtlich habe ich Lady mit meiner Verspätung wütender gemacht, als mir bewusst ist.

»Warum bringst du mir das?« Ich runzle meine Stirn, während mich Lady mit dem kältesten Blick straft, den sie in ihrer Position als vermeintlich süße Katze aufbringen kann.

Ich hebe die Akte auf. »Ich habe zwar nur zwei Beine, aber die genügen auch, um mir alles selbst zu holen.«

Lady spuckt mir die goldene Taschenuhr vor die Füße und blickt mich grimmig an. Gut, dass ich unsterblich bin, denn sonst würden mich ihre Blicke noch irgendwann ins Grab bringen.

»Weil du, verdammt noch mal, spät dran bist! Das Mädchen, das du abholen sollst, stirbt gleich und du hast nichts Besseres zu tun, als Agatha schöne Augen zu machen und wieder mal den längsten Weg ins Elysium zu wählen. Man sollte dir deine schwarzen Flügel rupfen!« Ihre grün gesprenkelten Raubkatzenaugen versuchen noch immer, mich zu killen.

»Außerdem hast du seit Stunden nichts gegessen. Du bestehst ja nur noch aus Haut und Muskeln, so geht das nicht«, schimpft sie fauchend.

»He, du hast mich beobachtet? Das gehört sich aber nicht für eine niedliche Katze«, beschwere ich mich, bevor ich die Unterlippe nach vorne schiebe.

»Mox hat dich beobachtet. Und seit wann bin ich bitteschön niedlich?« Gleich darauf verschwindet Lady hinter der Tür und kehrt eine Sekunde später mit einem Sandwich im Maul zurück.

Ich beende den Schmollmundmodus. »Du bist und bleibst die Beste«, merke ich an, während sich mein Magen mit einem lauten Knurren bedankt. Trotz unserer Unsterblichkeit brauchen wir Engel etwas Festes zwischen den Zähnen, das uns die nötige Energie gibt, unsere Arbeit zu verrichten. Als ich jedoch nach dem Sandwich greife, kratzt mir Lady über meine Finger. »Autsch!«

Sie legt das Sandwich vor ihren Pfoten ab. »Mox ist es langsam leid, dich immer wieder zu ermahnen. Ich wollte schon fast Glimm schicken, weil ich nicht mehr daran geglaubt habe, dass du heute noch hier auftauchst.«

Vor Schreck verziehe ich mein Gesicht. Wie kommt sie nur auf die absurde Idee, Glimm für mich einspringen zu lassen? Seine schwarzen Flügel sind so unausgereift, dass er eher einer Henne ähnelt als einem Todesengel. Wenn sie mich schon als Nichtsnutz bezeichnet, dann brauchen wir über diesen primitiven Versager erst gar nicht zu reden.

»Ja, ja. Willst du mir jetzt eine stundenlange Predigt halten wie Mox?«, erwidere ich eingeschnappt.

Lady rümpft ihr rosa Näschen, sodass ihre Schnurrhaare auf und ab wippen.

»Irgendwann wird dich Mox noch in die Unterwelt verbannen«, schnieft sie mürrisch. »Dort kannst du von mir aus tun, was du willst und Diabolus den letzten Nerv rauben.«

Ich nehme Lady auf dem Arm und kraule sie am Hals. Das liebt sie.

»Lass mich runter!« Sie sieht mich böse an, aber mir entgeht ihr leises Schnurren nicht.

»Ich bin trotz allem Mox’ bester Todesengel, das scheinst du vergessen zu haben, liebste Lady.« Mit einem kleinen Lächeln setze ich sie wieder auf dem Boden ab. »Er wird mich niemals so einfach entbehren können.« Mit schwerfälligen Flügelschlägen erhebe ich mich in den blendenden Himmel empor, ehe ich das kreisrunde Portal zur Erde öffne. Bevor ich es betrete, schlinge ich noch schnell das Thunfisch-Tomaten-Sandwich von Lady hinunter. Ein Würgereiz überkommt mich, als mein trockener Mund bemerkt, dass es voller Katzenhaare ist. »Du solltest wirklich lernen, dich nicht immer zu putzen, wenn du mir gerade ein Sandwich schmierst!«, beschwere ich mich unter kratzendem Husten.

»Wenn du lernst, in Zukunft pünktlich zu sein«, gibt sie mit herber Stimme zu verstehen.

»Du alte Manipulatorin!« Ich schüttle den Kopf, werfe ihr ein charmantes Lächeln zu und verschwinde im grellen Licht des Portals.


Darcian

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