Читать книгу Darcian - Julia Lindenmair - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
Lady hat wieder einmal total übertrieben. Die Seele, die ich ins Jenseits führen soll, ist noch längst nicht bereit, ihren Körper zu verlassen. Nach Erdenzeit schätze ich die Trennung des Geistes vom Körper auf mehr als zehn Minuten, eine meiner Meinung nach verflucht lange Zeit. Ich hätte so viel mit dieser Zeit anfangen können. Stattdessen warte ich jetzt fröstelnd auf einer Nebenstraße mitten in der Pampa und blicke in das bleiche Gesicht des sterbenden Mädchens, das der Akte nach ein Opfer eines Verkehrsunfalles geworden ist. Blut quillt aus ihren Ohren und färbt ihr kupferbraunes, schulterlanges Haar dunkelrot. Ihr Atem ist schwach und ihre Augen sind geschlossen. Dieser Anblick ist zwar nichts Neues für mich, dennoch mag ich Unfälle und entstellte Gesichter nicht. Neugierig blicke ich in ihre Akte und muss schlucken. Das Mädchen ist gerade einmal sechzehn Jahre alt. Ich lese weiter, aber es wird nicht besser. Ihr Name ist Nora May, sie wird die erste Seele aus ihrer Familie im Jenseits sein. Mein Blick schweift über die Straße. Der andere Fahrer, in dem perlschwarzen Cadillac mit der zertrümmerten Motorhaube, hatte mehr Glück: Er ist lediglich bewusstlos und nur leicht verletzt. Ich muss nicht in der Akte nachlesen, um zu wissen, dass er schuld an dem Unfall war – seine ekelhafte Schnapsfahne rieche ich bis hierher. Es ist unfair, dass er es nicht ist, den ich abholen muss. Aber der Tod kennt nun mal keine Fairness. Und auch kein Mitleid, weshalb ich kein Bedauern zeigen darf. Auch wenn mir das oft schwerfällt. So wie jetzt.
Langsam beginnt es zu schneien. Viel zu früh für diese Jahreszeit, aber passend für diesen kanadischen Ort. Die Schneeflocken wirbeln in tanzenden Bewegungen umher und landen mit einem zarten Hauch auf dem noch warmen Körper der Sterbenden. Rund um mich herum ist es still, abgesehen von dem leisen Geräusch des näherkommenden Martinshorns. Einen Augenblick später treffen sie ein, die Einsatzfahrzeuge, die zwar mit Vollgas auf uns zufahren, aber zu spät kommen. Hektisch laufen die Sanitäter durch mich hindurch, in einem chaotischen Durcheinander aus Entsetzen und Ergriffenheit. Ich gehe ein Stück weg, lasse sie ihre Arbeit machen. Doch sie werden nicht mehr viel ausrichten können. Erst, als ich das demolierte Auto der Sterbenden begutachte, fällt mir auf, dass sich auf dem Beifahrersitz ein bewusstloses Mädchen befindet. Der Akte nach zu urteilen muss das ihre zwei Jahre ältere Schwester sein. Als ich sie näher ansehe, fällt mir ihre einzigartige Schönheit auf. Ganz anders als die kurzen, kupferfarbenen Haare ihrer Schwester, umrahmen blonde Locken ihr makelloses Gesicht. Sie kräuseln sich über ihre figurbetonte, rote Bluse, bis hinunter zu ihrer schmalen Taille. Allein ihre bloße Gegenwart ruft in mir ein eigenartiges Gefühl hervor. Mein Körper pulsiert, wird von einer unbekannten Hitze durchströmt und die Anziehungskraft zu diesem Mädchen ist so stark, dass ich wie automatisch ganz nahe an sie heranrücke. Ihr Gesicht ist beinahe zu vollkommen, um Echt zu sein. Sie sieht aus wie ein schlafender Engel, mit Haaren von natürlich schimmerndem Goldblond, rosigen Wangen und einer zarten Haut, für die Agatha wohl töten würde. Während ich im Hintergrund weitere blaue Lichter wahrnehme, die gerade eintreffen, vernehme ich plötzlich neben mir ein kratziges Lachen.
»Na, hast du etwa Gefallen an einem Erdenmädchen gefunden?« Vor Schreck bin ich wie erstarrt. Obwohl ich nichts Verbotenes getan habe, fühle ich mich von Lucien auf frischer Tat ertappt.
Ich drehe mich um und grinse ihn schief an. »Warum musst du immer dann auftauchen, wenn ich dich am wenigsten gebrauchen kann?«
Lucien fährt sich mit der rechten Hand durch seine kurzen Locken, die im Licht der Straßenlaternen orangerot schimmern. »Ich scheine eben ein Gespür für die Fettnäpfchen zu haben, in die du nur zu gerne trittst. Und du weißt, deine Blöße lasse ich mir nur ungern entgehen.« Große Unschuldsaugen erwidern meinen Blick hinter langen Wimpern. Ein keckes Grinsen zerrt an seinen schmalen Lippen, die seine zarten Gesichtszüge unterstreichen.
Ich verdrehe die Augen und beiße mir auf die Zunge. Wie immer wirkt Lucien zerbrechlich und prüde, wie ein Kind, ist er aber nicht. Hinter der Maske der Naivität steckt ein raffinierter Liebesengel, der keine Mühe scheut, um mich mindestens einmal am Tag aufzusuchen und sich daraufhin an meiner Arbeit zu ergötzen. Daher keimt in mir oft die Vermutung auf, dass er lieber ein Todesengel wäre. Kein schmächtiger Engel, der mit Pfeil und Bogen kitschige Flitterwochen verteilt. Das ist wie bei einem Gewinnspiel, bei dem keiner mitmachen will. Auch ich würde meinen Job unter keinen Umständen mit ihm tauschen wollen. Das könnte ich auch nicht, denn jedem von uns wurde seine Aufgabe in die Wiege gelegt. Keinem Himmelsbewohner steht es zu, Zweifel über sein vorgegebenes Schicksal zu hegen oder seine Bestimmung zu hinterfragen – das käme Hochverrat gleich. Es ist einfach so, wie es ist. Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns mit dem einzigen Grund unserer Existenz zufriedenzugeben – und uns ein endloses Leben lang damit abzufinden.
Lucien hüpft von der Leitplanke herunter und fliegt auf mich zu. Im Gegensatz zu meinen, sind seine Flügel weiß und buschig, allerdings seiner Körpergröße angepasst, und daher wesentlich kleiner als meine. Liebesengel sind nicht besonders groß, vergleichbar mit ausgewachsenen Erdenbewohnerinnen. Lucien reicht mir gerade bis zur Brust.
Als er das Mädchen im Auto sieht, macht er große Augen. »Jetzt verstehe ich, warum du beinahe gesabbert hast. Sie ist heiß. Würde ich nicht auf Sylphen stehen, wäre sie voll mein Typ.« Seine violetten Iriden funkeln vergnügt.
»Ich habe weder gesabbert noch Interesse an einer Erdenbewohnerin«, erkläre ich mit einer gewissen Arroganz in der Stimme.
»Dann sei froh, dass meine Pfeile bei dir nicht wirken. Mich juckt es in den Fingern, euch beiden einen zu verpassen.«
»Hör auf mit dem Quatsch. Ich bin nicht wegen dieses Mädchens hier, sondern wegen ihr.« Ich deute auf die sterbende Schwester, um die fünf Sanitäter gescharrt sind, die erfolglos versuchen sie zu reanimieren. In ihren Gesichtern erkenne ich die Lähmung, die mich wissen lässt, dass der Tod bereits zugeschlagen hat. Ich trete an ihre Seite, gleich werde ich ihrer Seele gegenüberstehen. Da Lucien keine Anzeichen macht, sich von der Schönheit am Beifahrersitz loszureißen, bin ich fühlbar angespannt. »Hast du Lustmolch nichts Besseres zu tun, als ein bewusstloses Mädchen anzugaffen?«
»Nö. Hab schon Feierabend«, kontert er gelassen.
Ich rolle mit den Augen. »Warten nicht noch Hunderte Menschen darauf, von dir gepikst zu werden?«
Er verschränkt die Arme vor der Brust und sieht endlich in meine Richtung. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, du willst mich loswerden? Hat Diabolus von dir Besitz ergriffen, oder bist du krank?«
Ich schlucke trocken. Er hat recht, diese misstrauische Art sieht mir nicht ähnlich. Ich weiß selbst nicht, was mich gerade dazu bewogen hat, Lucien loswerden zu wollen. Im Grunde sind wir gute Kumpel.
Lucien tritt an meine Seite, blickt angespannt auf die Blutlache am Boden und ringt sich ein gequältes Lächeln ab.
»Himmel, bin ich froh, dass ich kein Todesengel bin. Müsste ich mir jeden Tag solche Fratzen reinziehen, würde ich mir meine Flügel zusammenbinden und mich von der nächsten Brücke stürzen.«
»Ich wäre dir gerne behilflich dabei«, antworte ich karg. »Nur dumm, dass du genauso unsterblich bist wie ich.«
Lucien überspielt meinen trockenen Humor mit einem Lacher, der sich deutlich aufgesetzt anhört.
»Ach was. Du würdest es im Himmel doch keine Sekunde ohne mich aushalten.« In seinen Augen glimmt wieder der Hochmut auf, den er nur zu gerne an den Tag legt.
Ohne darauf einzugehen, konzentriere ich mich auf den Grund, aus dem ich hier bin. Aus meinem Lendenschurz krame ich die Taschenuhr mit der Gravur Nora May hervor, öffne den goldenen Deckel und muss feststellen, dass bereits alle Zeiger stehen geblieben sind. Die Seele des Mädchens vor mir fängt an, sich von ihrem Körper zu lösen. Ruhig schwebt ein bläuliches Leuchten auf mich zu, ehe Noras Silhouette langsam sichtbar wird. Die fremde Energie wirkt auf sie ein und durchdringt ihren Körper mit einer Leichtigkeit, die warm in ihr Innerstes sickert. Als sie mich völlig perplex anblickt, blinzelt sie ein paar Mal, als würde sie von etwas geblendet werden. Ich beobachte, wie sie zuerst ihren plasmaartigen Körper mustert und im Anschluss schockiert auf meine schwarzen Flügel starrt. Ich spüre förmlich ihre Angst, die dazu führt, dass ihr Strahlen allmählich schwächer wird.
Kurz gebe ich ihr Zeit, sich zu orientieren, aber meine Geduld stößt schnell an ihre Grenzen.
»Hi, Nora«, begrüße ich sie freundlich, als wäre sie eine alte Bekannte. Obwohl ich diese Begrüßung sorgfältig gewählt habe, quellen ihr fast die Augen aus dem Kopf. Fieberhaft schnappt sie nach Luft, während ihre azurblauen Lippen zittern.
»Großer Gott!«, schreit sie mich an.
»Nein, großer Engel«, verbessere ich zwinkernd.
Als sie jetzt auch noch Lucien entdeckt, ist ein hysterischer Schreikrampf vorprogrammiert.
Sie schließt die Augen und schüttelt den Kopf. »Das ist nicht wahr. Ich träume.«
»Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, weißt du tief in deinem Innersten, dass es kein Traum ist.«
»Doch«, wirft sie schnell ein, sieht dann jedoch auf ihre Hände, die frische Seelen niemals täuschen.
Sie blickt mir kurz in die Augen, dann wieder auf ihre Hände, die bläulich schimmern. »Bin ich wirklich …«
»Ja.« Ich nicke bestätigend.
Sie wirbelt in der Luft herum, das Schweben noch nicht unter Kontrolle bekommend. Ich warte auf Fragen, auf weitere Worte, die mir zeigen, dass sie es nicht wahrhaben will, aber es kommt nichts. Stattdessen passiert etwas, womit ich niemals gerechnet hätte: Sie lacht.
Eigentlich hatte ich ein Kreischen oder Zusammenbrechen erwartet, aber diese Reaktion ist mir neu.
Lucien und ich sehen uns irritiert an. »Warum lacht sie denn?«
Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu und zucke die Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist sie verrückt?« Ich kann es mir beim besten Willen nicht erklären und beginne in ihrer Akte zu blättern.
»Hier steht nichts davon, dass sie in außergewöhnlichen Situationen überfordert reagieren würde.«
»He, was stimmt nicht mir dir?«, schreit Lucien sie an.
Ich schlage ihm mit der Handfläche gegen den Magen, woraufhin er zusammenzuckt. »Noch ein bisschen einfühlsamer und du könntest als Liebesengel durchgehen«, merke ich ironisch an.
Bevor Lucien etwas kontern kann, schwebt Nora über unsere Köpfe hinweg und sieht uns mit vergnügtem Gesichtsausdruck an. Das Leuchten umhüllt ihren durchsichtigen Körper wie eine zweite Haut, die in blaues Licht getaucht wurde. Nicht jede frische Seele strahlt von vorne herein, gewöhnlich ist es anfangs eher ein schwaches Flimmern, das sich langsam stärkt. Bei Nora bin ich jedoch überrascht, wie konstant und hell ihre Gestalt erstrahlt. Beinahe muss ich blinzeln, weil ich so geblendet bin.
»Es ist nur, ich bin tot. Also ist mein verdammt mieses Leben endlich vorbei! Wenn das nicht ein Grund zur Freude ist, dann weiß ich auch nicht!«
Sprachlos schüttle ich den Kopf. Noch nie ist mir eine frische Seele begegnet, die sich so dermaßen über ihren Tod gefreut hat.
»Okay.« Ich verziehe den Mund. Das ist vorerst alles, was ich dazu sagen kann.
Eine Weile beobachten Lucien und ich, wie Nora das Schweben in den Griff zu bekommen versucht. Als sie damit fertig ist, greift sie durch ihren Bauch und lacht sich darüber kaputt, ihre Hand aus ihrem Rücken winken zu sehen.
Anfangs sehe ich noch über diese unsinnige Art, sich der neuen Situation anzupassen, hinweg – was wohl eher daran liegt, dass mich Mox ständig rügt, ich solle geduldiger mit frischen Seelen umgehen – aber nach fünf Wiederholungen werde ich fühlbar gereizt.
»Ich denke, du bist mehr als bereit, ins Jenseits überzugehen. Hast du noch Fragen?«, schreie ich ihr lautstark zu.
»Nö«, lacht sie heiter auf. »Ich werde schon sehen, was mich erwartet. Das macht das Ganze noch viel aufregender!«
Lucien klopft mir bitter lachend auf den Rücken. »Da hast du ja einen richtigen Vogel ausgebrütet, gratuliere dir.«
»Für ihre Persönlichkeit bin ich ja wohl nicht verantwortlich«, kontere ich genervt.
Diesmal öffne ich das Portal, ohne die übliche Handbewegung, da ich keine Lust mehr habe, Nora noch mehr zu beeindrucken. Ihr lautes Kichern mag zwar irgendwie süß sein, aber auf Dauer halte ich diese überdrehte Art nicht aus.
Das kreisrunde Portal strahlt uns an und ich nicke Lucien zu, in der Hoffnung, dass er mich mit dieser Verrückten nicht alleine lässt. »Nach euch«, raune ich. Blitzartig fällt mir jedoch wieder etwas ein. Nora hat sich noch nicht von ihrer Schwester verabschiedet. Ein Blick in die Richtung der Schönheit genügt und ein Gefühl überkommt mich, das ich nicht definieren kann. Sie befindet sich bereits im Rettungswagen, scheint aber noch immer bewusstlos zu sein.
»Willst du dich noch von deiner Schwester verabschieden?«, frage ich mit trockener Kehle.
»Meine Schwester?« Zum ersten Mal benimmt sich Nora wie alle anderen frischen Seelen vor ihr. Sie sieht mich verzweifelt an.
»Gütiger Himmel, White war ja auch im Auto.« Ihre Stimme bebt. »Wie geht es ihr?«
»White?« Lucien wundert sich über diesen speziellen Namen genauso wie ich.
Ich zeige auf das Mädchen im Rettungswagen. »Tot ist sie nicht«, scherze ich, aber Nora lacht nicht, worauf ich das Portal wieder schließe.
Sofort schwebt sie auf ihre Schwester zu und versucht vergeblich ihre Hand zu halten.
Eigentlich ist das immer mein Stichwort, die frischen Seelen mit ihren Angehörigen alleine zu lassen. Aber diesmal kann ich nicht anders - ich steige in den Rettungswagen.
Gleich darauf packt mich Lucien an der Schulter und zieht mich zurück. »Was machst du denn da?«
»Ich …« Ich weiß es nicht. Aus irgendeinem Grund nimmt mich das heute alles mehr mit als sonst. Als wäre ich nicht ich selbst.
Verwirrt starre ich Nora an, die auf ihre Schwester einredet, wie leid es ihr tut, sie alleine lassen zu müssen, und dann öffnet White ihre Augen …
Ein seltenes diamantfarbenes Grün blitzt unter den schnell blinzelnden Lidern hervor, flackernd wie Feuer, das mich sofort in seinen Bann zieht. Obwohl ich diese Augen zum ersten Mal sehe, kommen sie mir irgendwie bekannt vor - so seltsam vertraut. Der Sanitäter an unserer Seite ist, seiner Miene nach zu urteilen, über Whites Erwachen genauso verwundert wie Nora, Lucien und ich. White zieht ihren Oberkörper hoch, greift sich an die Stirn und sieht mich an. Mein Herz pocht wie wild, denn ihr Blick verhakt sich in meinem – und das ist absolut unmöglich. Eine unkontrollierbare Macht nimmt mich plötzlich ein und wütet wie ein Tornado in meinem Verstand, um alle Gehirnzellen zu vernichten, die in dieser Situation noch irgendwelche sinnvollen Schlussfolgerungen zugelassen hätten.
»Sieht sie dich gerade an?«, flüstert mir Lucien erstaunt ins Ohr.
»Ich bin mir nicht sicher«, antworte ich kurz und knapp, denn das muss ein Zufall sein. Vermutlich steht direkt hinter mir einer der Sanitäter, dem sie in die Augen sieht. Für die Erdenbewohner sind wir nicht sichtbar, nicht mehr als ein einfacher Windhauch. Es ist wie ein Energiefeld, das uns wie eine durchsichtige Mauer umgibt, und uns somit davor bewahrt, überhaupt wahrgenommen zu werden. Doch als ihr Blick zu Lucien wandert und gleich darauf an Nora haften bleibt, schlägt mein Verstand sofort Alarm. Habe ich übersehen, dass White tot ist? Nein, ihre Seele befindet sich eindeutig noch in ihrem Körper. Sie ist lebendiger als mein Hirn gerade.
»Kannst du mich sehen?«, fragt Nora ihre Schwester, deren Gesichtsausdruck mir nichts Gutes verspricht. Ich sehe White ihre Bestürzung an, woraufhin sie uns mit offenem Mund zunickt.
»Was passiert hier? Wer seid ihr?« Ihre zitternde Stimme trifft auf meinen bebenden Körper.
Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt, und mache vor Überraschung den Mund mehrmals auf und wieder zu, denn er ist von einer Sekunde auf die andere wie ausgetrocknet.
»Keine Angst, du bist in guten Händen. Wir werden dich jetzt ins Krankenhaus bringen. Dort wirst du umgehend verarztet«, antwortet ein schmächtiger Sanitäter auf ihre Frage, die eigentlich nicht an ihn gerichtet war.
In den Augenwinkeln sehe ich, wie sich Lucien die Hand vor den Mund hält. »Warte mal. Sie ist nicht tot, oder?« Er sieht mich erstaunt an. »Wie kann es sein, dass sie uns sieht?«
»Dasselbe wollte ich auch gerade fragen«, meldet sich Nora, genauso perplex, wie ich mich fühle.
Mein Atem wird schneller – noch nie habe ich mich in einer derartigen Situation wiedergefunden.
»Ich habe keine Ahnung, aber hier läuft gerade etwas gewaltig schief.« In meinem Kopf krame ich nach einer logischen Erklärung, doch mir fällt beim besten Willen nichts darauf ein. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es jemals einen vergleichbaren Fall gegeben hat, bei dem uns ein Mensch vor seinem Tod sehen konnte. Das ist so unmöglich, dafür gibt es nicht einmal ein Protokoll.
»Ist das hier die versteckte Kamera, oder warum seid ihr alle angezogen wie beim Karneval?« White reibt sich ihre geröteten Augen. »Und Nora, wie bekommen sie es hin, dass du so verdammt unsichtbar aussiehst?«
Nora klappt den Mund auf, aber kein Ton kommt über ihre Lippen. Wie sollte sie es auch erklären, damit ihre Schwester es versteht, ohne einen Anfall zu bekommen? Aber egal, wie sie es formuliert, es führt alles auf dasselbe hinaus.
»Das reicht. Wir müssen etwas unternehmen.« Lucien stupst mich an, doch ich stehe nur da wie gelähmt. Auch Nora sieht mich hilflos an, allerdings stehe ich dieser Situation absolut machtlos gegenüber, und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Tausend Unklarheiten durchströmen mich, während die Sanitäter hinter uns die Türen schließen und der Rettungswagen losfährt.
Einer der Sanitäter setzt sich neben White und kontrolliert ihre Infusionen.
»Können sie mir bitte sagen, was hier überhaupt los ist? Vor allem, wer diese eigenartigen Gestalten sind?« Finster dreinblickend deutet White auf Lucien und mich. »Sie selbst scheinen nämlich auf den Mund gefallen zu sein. Von meiner Schwester mal ganz abgesehen.« Vorwurfsvoll schweift ihr Blick durch die Runde.
»Entschuldigen Sie bitte, aber ich weiß leider nicht, wovon sie sprechen.« Ich beobachte, wie die Sanitäter verwirrte Blicke austauschen. »Es könnte sein, dass ihnen ihr Zustand einen Streich spielt. Ein Hirntrauma ist bei einem derartigen Unfall nicht ausgeschlossen …«
White presst die Lippen aufeinander. »Welcher Unfall?«
»Dafür muss es doch eine Erklärung geben, oder? Jetzt steht nicht einfach tatenlos da, unternehmt gefälligst was!«, brüllt uns Nora an, während der Sanitäter versucht, White über die Geschehnisse der letzten Minuten zu informieren.
»Verdammt Darcian, Nora hat recht. Du musst dringend etwas unternehmen!«, äußert sich Lucien besorgt.
Zwar weiß ich nicht, was ich sagen soll, doch ich trete näher an White heran. Wie auf Knopfdruck zuckt sie zusammen und rutscht ein Stück weiter nach hinten, weg von mir. Ich beuge mich vor, so dicht, dass sich White aufrecht sitzend an die Wand presst. Mein Gesicht kommt so nahe an ihres heran, dass es sogar mir schon unangenehm wird. »Geh weg von mir, du Freak!«, zischt sie mich an. Unwillkürlich steigt mir ein seltsamer Geruch in die Nase. White riecht so ganz und gar nicht nach einem sterbenden Menschen, verschwitzt und ausgezehrt. Ihr Duft erinnert mich stark an die frische Brise in einer kühlen Winternacht.
Sie blinzelt ein paar Mal, während sie verängstigt, beinahe zaghaft meinen Blick festhält.
»Ähm. Sind das etwa violettfarbene Kontaktlinsen?«
»Hab keine Angst«, murmle ich in besänftigendem Tonfall, ohne auf ihre merkwürdige Frage einzugehen. Sie mustert mich von Kopf bis Fuß, während ihre Augen leuchten und durch ihr seltsames Smaragdgrün meinen Blick auf sich ziehen. Augenblicklich schnappe ich nach Luft, weil sich mein Hals anfühlt, als stecke ein Stein darin fest. Mit einem Mal prickelt und zischt es in mir, als würden Blitze durch mein Nervensystem jagen. Noch nie habe ich solche Augen gesehen, die mich mit ihrer scheinbar unendlichen Tiefe so in ihren Bann ziehen.
Sie führt ihre rechte Hand an ihre linke Brust und atmet schwer. »Was ist hier los?«
Der Sanitäter füllt einen Beleg aus und wirkt so, als würde er Whites vermeintliche Selbstgespräche nicht hören.
»Wer bist du?«
Ich schlucke fest. »Mein Name ist Darcian, ich bin ein Todesengel.«
White lacht hysterisch auf und rollt mit den Augen. »Na klar, und ich bin die Eiskönigin.« Ihr verstörter Blick weicht von meinem Gesicht und bleibt an meinem schwarzen Lendenschurz haften. »Ist es nicht etwas zu kalt für diese Jahreszeit, um halb nackt herumzulaufen? Oder bin ich hier in einer Freakshow gelandet?«
»Ähm«, ist alles, was ich darauf antworten kann. Ihre Schlagfertigkeit bringt mich aus dem Konzept und lässt mich erst mal innehalten.
»Schwesterherz, sieh mich an.« Wie auf Kommando dreht White den Kopf in Noras Richtung. »Ich weiß, es ist schwer zu verstehen, aber Darcian sagt wirklich die Wahrheit. Er ist ein Todesengel.«
»Nora, bist du auf Drogen? Wie kann ich so etwas Unmögliches bitte glauben?«
»Weil ich es bei unserer Schwesternschaft schwöre.«
Mit diesem Satz scheint Nora ins Schwarze getroffen zu haben, denn White wird noch blasser im Gesicht, als sie es ohnehin schon ist. Ihre schneeweiße Haut lässt das Rot ihrer vollen Lippen noch kräftiger wirken.
»Du weißt, dass wir darüber keine Scherze machen?«, fragt White noch einmal, in der offensichtlichen Hoffnung, das alles würde sich am Ende als dummer Streich herausstellen.
»Ich weiß, darum schwöre ich es ja. Damit du mir endlich glaubst.«
White sieht Nora noch immer ungläubig an.
So ungewohnt es auch ist, mich einer Lebendigen zu offenbaren, höre ich nicht auf, ihr alles möglichst schonend zu erläutern: »Eigentlich bin ich wegen deiner Schwester hier. Ihr hattet einen Autounfall und Nora ist dabei gestorben. Ich bin hier, um sie ins Jenseits zu führen, aber du … du kannst uns sehen – und du bist nicht tot. Verstehst du das?«
Ich warte auf Whites Reaktion, doch sie schüttelt nur wild den Kopf. »Nein, das verstehe ich ganz und gar nicht.«
»Hast du etwas gesagt?«, erkundigt sich der Sanitäter merklich angespannt. Er muss denken, White würde unter Wahnvorstellungen leiden.
White zieht die Stirn in Falten. »Er kann euch nicht sehen?«
Ich nicke zustimmend. »Nur du kannst das.«
»Nur ich?«, ihre Stimme schwankt, ihre Augen werden dunkel und wässrig. In ihrem trüben Blick schlummert ein tiefes Geheimnis, das weder sie noch ich enträtseln können.
»Ich muss mir den Kopf gestoßen haben«, flüstert sie, aber ich verstehe sie laut und deutlich.
»Versuche deine Schwester zu berühren«, raune ich ihr zu.
White mustert mich mit gehässigem Blick. »Willst du mir jetzt ernsthaft weismachen, dass meine Schwester tot ist? Na gut, ich werde euch zeigen, dass …« Ich höre, wie White scharf die Luft einsaugt, als ihre Hand mitten durch Nora ins Leere greift.
»Das gibt’s nicht!«, schreit sie hysterisch auf.
»Nora, wie kann das sein?«
Im selben Moment, in dem White endlich die Fakten begreift, wird auch mir klar, dass ich Mox und den Rat darüber informieren muss – und zwar so schnell wie möglich.
Whites Hand wedelt durch Noras Körper hindurch, als würde sie nach einer Fliege schlagen. »Nora, du kannst nicht tot sein. Das kann nicht sein … Es geht einfach nicht!« Whites Lippen zittern. »Das muss ein Hologramm sein. Eine optische Täuschung, oder sonst was.«
»Was machen wir jetzt mit ihr?«, fragt Lucien mit eigenartig hoher Stimme.
Ich stiere vom Fenster aus hoch in den Himmel, weil ich absolut keinen Plan habe. Allerdings sind die Sterne alles, was ich von hier aus erkennen kann. Falls mich Lady beobachtet, würde Mox längst an meiner Seite stehen, da bin ich sicher. Mit meiner Entscheidung scheine ich also auf mich alleine gestellt zu sein.
Der Sanitäter fängt an, mit seinem Kollegen am Steuer zu flüstern. Als er wieder neben White Platz nimmt, zieht er die Stirn in Falten. »Woher wissen Sie, dass Ihre Schwester tot ist? Wir können uns nicht daran erinnern, es Ihnen erzählt zu haben.«
White zieht eine Augenbraue hoch. »Ich weiß es, weil meine tote Schwester blau schimmernd neben mir steht. Für Sie unsichtbar, wohl bemerkt.« Ich sehe zu, wie alle Farbe aus dem Gesicht des Mannes weicht.
»White, hör auf damit«, ermahnt Nora ihre Schwester, die gerade sichtlich vor einem Nervenzusammenbruch steht.
»Außerdem habe ich hier noch einen knapp bekleideten Todesengel, der behauptet, er würde meine Schwester ins Jenseits führen. Und wer dieser lächerliche Schönling in Tunika und mit den Pfeilen am Rücken sein soll, überlasse ich ganz Ihnen.«
»Lächerlicher Schönling? Ich hab mich wohl verhört-«
»Das reicht«, unterbreche ich Lucien, selbst kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehend.
»Seid ihr nicht böse, sie scheint nervlich gerade etwas angeschlagen zu sein«, versucht Nora ihre Schwester zu verteidigen. Doch mir reißt langsam der Geduldsfaden. Diese White raubt mir das Vergnügen an meinem Job.
»Ob sie jetzt kurz vorm Durchdrehen ist oder nicht, ist mir ziemlich schnuppe. Sie wird jetzt mit uns kommen, ob sie will oder nicht.« Eine bittere Bedrohlichkeit schwingt in meinen Worten mit, die White schwer schlucken lässt.
In Sekundenschnelle öffne ich das Portal, stoße Nora hinein und schnappe mir Whites zitterndes Handgelenk. Es gibt nur eine vernünftige Option: Ich muss dieses Erdenmädchen mit zum Rat nehmen, um herauszufinden, warum sie uns sehen kann.
»Lass mich los, du Wahnsinniger!« White versucht sich schreiend meinem Griff zu entreißen, während der Sanitäter vergebens versucht sie zu beruhigen. Die Panik in ihren Gesichtern lässt mich schnell handeln – doch vor allem die Spritze in der Hand des kreidebleichen Mannes vor mir.
»Ich weiß nicht, ob das klappt, aber …« Mit einem Ruck zerre ich White von ihrer Trage herunter und will sie, wie Nora zuvor, in das Portal stoßen, doch Lucien versperrt mir den Weg. »Willst du das jetzt ernsthaft vor den Augen der Sanitäter abziehen?«
Verflucht – Lucien hat recht. Ich überlege kurz. »Hast du noch Pulver?«
Lucien sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ja schon, aber denkst du wirklich, wir können das Pulver des Vergessens ohne Erlaubnis des Rates bei Menschen anwenden? Du weißt, was das für Konsequenzen haben könnte, oder? Wir könnten eiskalt aus dem Himmel verbannt werden!«
»Ich denke nicht, dass uns eine andere Wahl bleibt. Ich muss dem Rat diesen Sonderfall melden und sie ins Elysium mitnehmen, sonst werden die Sanitäter sie mit Medikamenten vollstopfen und in so eine Einrichtung für Geistesgestörte stecken. Du weißt doch, wie voreingenommen Erdenbewohner sind.«
»Darcian, begreifst du nicht? Sie ist ein Mensch. Sie wird das Portal nicht ungestraft betreten dürfen. Nein, sie wird es nicht betreten können! Und falls doch, weiß ich nicht, wie sie im Jenseits ankommen wird. Als Mensch eher weniger, wenn dann als eine frische Seele.«
Mein Kopf beginnt zu vibrieren. Dass White sich in meiner Hand windet und kreischt, als wäre sie besessen, hilft mir nicht gerade dabei, einen klaren Kopf zu bewahren. »Halt endlich still!«, schreie ich sie an, doch das bringt sie nur dazu, noch hysterischer zu plärren.
Genervt wende ich mich wieder Lucien zu: »Ich bin der Portalwächter unter uns, also lass das meine Sorge sein. Sicher ist es ein Risiko, aber es gibt einen Grund, warum uns dieses Mädchen sehen kann. Und ich werde zumindest versuchen, es herauszufinden. Kann ich mich auf dich verlassen, was das Pulver betrifft?«
Die Falten auf Luciens Stirn ebnen sich wieder, worauf ein Lächeln über seine Lippen huscht. »Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast …«, er seufzt tief. »Wir treffen uns im Elysium, ich mach das schon.«
Mittlerweile ist White in Tränen ausgebrochen, während die Sanitäter den Wagen angehalten und zu uns nach hinten geeilt sind. Sie scharen sich über sie zusammen, reden auf sie ein, die Beruhigungsspritze auf ihren Arm gerichtet.
Als White mich anfleht, sie nicht zu töten, ist das mein Stichwort. Ich nehme das bebende Mädchen so fest ich kann in meine Arme und springe gemeinsam mit ihm in die kreisrunde Tiefe des schimmernden Lichts.