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Kapitel 1

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“Oh, shit!” Ich stieß einen lauten Schrei aus, der mehr wie ein hysterisches Quieken klang, als ich zum dritten Mal an diesem Tag meinen Kaffee fallen ließ.

Dieses Mal fielen nur wenige Tropfen auf meine neue, teure Jeans (ich würde nie wieder so viel Geld für ein Kleidungsstück ausgeben); das Meiste ging direkt auf den Boden. Meine Hände waren trotzdem voll mit heißer Flüssigkeit.

Caro, meine beste Freundin, kam schon mit einem Taschentuch angerannt. “Verdammt, bist du betrunken?” Sie reichte mir das Tuch und ich begann, meine Hände damit abzuwischen, bemüht die Blicke der Leute zu ignorieren.

“Kann schon sein.” Ich warf einer alten Dame, die mit hochgezogenen Brauen auf meine Jeans blickte – ich hoffte, es sah nicht so aus, als hätte ich mir in die Hose gemacht – einen bösen Blick zu.

Natürlich war ich lange nicht so einschüchternd, wie ich gerne sein würde und sie starrte weiterhin, bis sie beinahe gegen die Aufzugtüre lief.

Ha!

Caro lachte laut auf. Sie war genau die Person, der überhaupt nichts peinlich war – wofür ich sie schon immer bewundert hatte. Naja, jemand anders hätte es vermutlich auch nicht mit mir ausgehalten.

“Willst du es noch mit einem vierten Kaffee versuchen?”, fragte sie.

Ich schnaubte. “Nein, danke. Ich hab das Gefühl, ich habe in den letzten Tagen das ganze Urlaubsgeld von meinen Eltern für einen Kaffee nach dem anderen ausgegeben – und keiner davon ist in meinem Magen gelandet.” Ich schnappte mir den Griff meines Trolleys.

Caro folgte mir durch den Flughafen. “Ich hoffe, du benimmst dich Zuhause ein wenig besser.”

“Ich glaube, meine Eltern sind so etwas gewohnt”, murmelte ich.

“Wieso? Meinst du von deiner Schwester?” Caro beeilte sich, hinter mir her zu kommen.

Ich zuckte die Schultern. “Nein, einfach so.”

Meine Schwester war eigentlich nie Zuhause. Okay, sie war Mitte zwanzig, trotzdem wusste ich, dass sie und meine Eltern sich nicht gut verstanden – selbst wenn alle versuchten, es vor mir geheim zu halten.

“Außerdem”, betonte ich, “ist das bei meiner Schwester nicht das Problem.”

“Ja, ich weiß.” Caro verdrehte die Augen. Sie war Melody zwar noch nie persönlich begegnet; kannte sie aber aus unzähligen Geschichten von mir. Ich wusste, dass sie nicht viel von ihr hielt. “Eher ihre immense Einnahme an Tabletten.”

“Sie hat eben Depressionen”, versuchte ich, Melody zu verteidigen.

“Ach, komm schon.” Caro sah mich mit gerunzelter Stirn an. “Das glaubst du doch selbst nicht.”

Darauf wusste ich nichts mehr zu sagen. Ich konnte nicht einmal sagen, ob ich meiner Schwester glaubte oder nicht. Aber sie hatte sich gegenüber mir noch nie falsch verhalten, deshalb sah ich keinen Grund, ihr zu misstrauen oder sie gar zu hassen.

Wir waren an unserem Terminal angekommen. Gegenüber war ein Starbucks-Café und ich wünschte, der Geruch würde nicht so zu uns herüberwehen.

Caro bemerkte meinen sehnsüchtigen Blick. “Ich kauf dir einen”, sagte sie und drückte mir den Griff ihres Trolleys in die Hand.

“N -”, versuchte ich zu protestieren, doch da war sie schon losgelaufen. Ich seufzte. Wenn man Caro erst mal in einen Starbucks schickte, würde sie ganz sicher nicht nur mit einem Kaffee zurückkommen.

Mein Magen knurrte als Antwort.

“Verdammt, du hast doch erst etwas gegessen”, brummte ich. “Ich meine, du bist doch nicht schwan -” Ich brach ab, als mir plötzlich leicht schwindelig wurde. Aus Reflex heraus wollte ich mich hinsetzen; mein Trolley brach unter mir weg und landete mit einem Krachen auf dem Boden; ich auf meinem Po daneben.

“Verdammte Scheiße!”, stieß ich aus. Erneut spürte ich die Blicke auf mir; so schnell wie möglich richtete ich mich wieder auf. Gerade wollte ich den Trolley wieder hochziehen, als ein Arm sich an mir vorbei streckte und mir zuvor kam.

Für den Bruchteil einer Sekunde fiel mein Blick auf eine merkwürdige Zeichnung auf dem Unterarm einer Frau – denn es war unverwechselbar ein weiblicher Arm -, dann blickte ich auf.

Ich sah in das Gesicht der alten Frau, die mich vorhin so angestarrt hatte (ja, bevor sie gegen den Aufzug gelaufen war). “Ähm, danke”, brachte ich heraus.

Sie warf mir ein seltsames Lächeln – eher eine Grimasse – zu, dann drehte sie sich weg und ging zurück zu ihrem Platz, wobei sie den Ärmel ihres Pullovers herunterzog.

Ich glotzte ihr hinterher. Beinahe erwartete ich, dass sie gleich vom Boden abhob oder so.

Dann wehte mir der Geruch eines frischgebackenen Muffins entgegen und schon hatte ich die Frau mit ihrem seltsamen Tattoo vergessen.

“Du bist die Beste!” Ich schnappte mir den Muffin und meinen Kaffee von Caro.

“Nach der Aktion von gerade hoffe ich, du hältst die nächsten fünf Minuten durch, um deinen Kaffee zu trinken”, bemerkte meine beste Freundin und sah mich mit hochgezogenen Brauen über den Rand ihres Bechers hinweg an.

“Mhhhm”, nuschelte ich um meinen Muffin herum.

“Bist du sicher, dass du nicht schwanger bist oder so?”

Ich hätte mich fast an meinem Muffin verschluckt. “Von wem wenn?”, hustete ich. “Von meinem Kissen?”

Sie zuckte nur die Schultern. “Naja, ich meine, wir waren zwar die ganzen drei Tage zusammen, aber wer weiß, was du nachts so treibst...”

Ich verdrehte nur die Augen.

Caro und ich waren über meinen neunzehnten Geburtstag drei Tage lange nach London gegangen. Heute war unser Abreisetag, zurück in die englische Countryside.

“Hast du mir deshalb den Muffin gekauft?”, wollte ich wissen. “Als mein Geburtstagsgeschenk?”

Sie seufzte. “Nein. Eher als eine mitleidige Geste.”

Ich öffnete den Mund, um ihr etwas Kluges entgegen zu schleudern – auch wenn mir wie immer nichts Schlagfertiges in den Sinn kam -, doch dann wurden wir zum Boarding aufgerufen.

Ich packte meinen Trolley und folgte Caro in Richtung Flugzeug. Meine Augen schweiften durch die Flughafen-Halle, doch die Frau mit dem Tattoo war verschwunden.

“Ein Tattoo?” Caro runzelte die Stirn. Ich wusste, sie fand es albern, wenn sich ältere Leute tätowieren ließen. “Ich meine, mit den Runzeln ist das so, als hätte das Tattoo Berge und Täler”, war ihr stetiges Argument.

“Ja”, sagte ich. “Es sah aus wie… ein Hund oder so.”

Sie lachte laut auf. “Eine alte Dame, die sich ihren Wauwau auf den Arm malen lässt? Ich glaube kaum, dass etwas Mysteriöses an ihr dran ist. Vermutlich musste sie ihn letztes Jahr einschläfern lassen und vermisst ihn jetzt. Ehemann verstorben, ganz alleine. Glaub mir, diese Sorte von Leuten kenne ich.”

Sie hatte nach der Schule ein Überbrückungsjahr im Altersheim gemacht, weshalb ich ihr bei solchen Dingen eigentlich immer vertraute.

“Hm”, meinte ich nur.

“Was spielt es auch für eine Rolle? Du hast deinen Kaffee im Magen, du bist deiner Geburtstagsparty - also deiner verrückten Schwester - entgangen und jetzt geht’s nach Hause. Alles ist gut.” Caro lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Mein Blick schweifte zum Fenster. Sie hatte Recht; vermutlich machte ich mal wieder aus einer Mücke einen Elefanten.

Sie meinte oft, das Leben sei zu langweilig für mich; deshalb versuchte ich ständig irgendetwas selbst daraus zu basteln. “Einen größeren Sinn. Eine Mission”, sagte sie immer mit ihrer gesenkten Stimme. Und dann: “Ha, du hättest Agentin beim MI6 werden sollen!”

Ich wusste zwar nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hatte; andererseits war ich auch nicht gerade für meine außergewöhnliche Klugheit bekannt.

In Sachen Langeweile hatte sie allerdings Recht. Während sie neben mir döste und Musik hörte, versuchte ich, nicht hibbelig in meinem Sitz herumzuhüpfen. Wir flogen gerade mal zehn Minuten und ich hatte das Gefühl, ich starb schon vom Nichtstun.

Also versuchte ich, ebenfalls die Augen zu schließen.

Und im nächsten Moment war ich weg.

Es schneite. Kälte drang in meinen Körper. Eiskristalle fielen auf meine Haut und verdampften. Ich fühlte mich fast, als wäre ich einer von ihnen. Ich schien über dem Boden zu schweben, gar nicht existierend.

Trotzdem bewegte ich mich. Es war, als säße ich in einem unsichtbaren Zug, der mich transportierte.

Mein Blick war auf den Boden gerichtet, der aus einer einzigen weißen Decke bestand. Wow, ich hatte noch nie einen so perfekten, weißen Schnee gesehen. War ich vielleicht in Game of Thrones oder so?

Hoffentlich kam nicht gleich ein Weißer Wanderer um die Ecke.

Als hätten meine Gedanken es verursacht, hörte ich auf einmal ein Geräusch. Auch wenn ich nicht einmal wusste, ob ich überhaupt existierte – immerhin träumte ich -, zuckte ich zusammen. Unwillkürlich blickte ich auf.

Hätte ich einen Mund gehabt, hätte ich geschrien. So stieß ich nur innerlich einen lauten Schrei aus.

Blut. Überall war Blut. Der schneebedeckte Boden, den ich gerade eben noch so bewundert hatte, war nun nicht mehr weiß, sondern rot.

Das Blut tropfte von den Ästen der kahlen Bäume, bedeckte die Steine und den Boden. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen.

Und dann hatte ich plötzlich einen Körper. Ich saß inmitten der Blutlache, direkt auf dem Schnee, doch seltsamerweise spürte ich überhaupt keine Kälte. Dafür roch ich das Blut. Ich fragte mich, ob mein Kaffee jetzt wieder hochkommen würde, doch plötzlich war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob sich dieser überhaupt in meinem Magen befand. Es kam mir vor wie eine andere Welt.

Um zu überprüfen, ob es sich ebenso echt anfühlte wie es aussah, streckte ich meine Hand aus und berührte den Boden.

Und dann hörte ich das Knurren hinter mir.

Mein Herz begann zu rasen. Ich sah, wie meine Hand zu zittern begann; dann schaffte ich es, langsam den Kopf zu drehen – und fand mich Angesicht zu Angesicht mit einem gigantischen Wolf.

Er fletschte seine Zähne.

Ich öffnete den Mund und schrie.

“Rose? Rose, verdammt was ist denn los? Au – schei – Halt die Klappe!” Jemand kickte mich gegen das Schienbein.

Ein hysterisches Kreischen drang in mein Ohr.

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass ich diejenige war, die hier so einen Lärm veranstaltete. Es gelang mir, meinen Mund zu schließen.

Als ich langsam die Augen öffnete, befanden sich die Blicke sämtlicher Passagiere des Flugzeugs auf mir.

Verdammt, dann hätte ich es vorgezogen, meinen fünften Kaffee noch zu verschütten.

Ich stammelte etwas von schlecht geträumt und versuchte, Caros Blick zu ignorieren, der langsam ein wenig besorgt wurde. Unwillkürlich wanderte mein Blick zu meiner Hand hinab. Ich war mir sicher, dass sie blutverschmiert war.

So oft ich sie drehte und wendete, es war kein Tropfen Blut daran zu sehen.

Caro beobachtete meine Versuche, meine Hand in unnatürliche Richtungen und Positionen zu verrenken, mit gerunzelter Stirn. “Alles in Ordnung?”

Ich blickte auf. “Ja.” Meine Stimme klang ein wenig heiser. “Ja klar, warum nicht? Ich hab nur ein kurzes Nickerchen gemacht. Wollte nur kurz die Augen schließen.”

“Rose.” Sie sprach so langsam und deutlich, als hätte sie es mit einer geistig Behinderten zu tun. “Wir sind schon gelandet. Du hast den ganzen Flug verschlafen.”

Erst jetzt kehrten meine Sinne zurück. Vage registrierte ich, dass alle um uns herum schon angefangen hatten, ihr Gepäck zusammen zu suchen.

“Klar”, sagte ich und bemühte mich um einen lässigen Ton. Mein Herz raste noch immer. Die Tatsache, dass ich das Gefühl gehabt hatte, nur drei Minuten lange geschlafen zu haben und jetzt in Wirklichkeit schon fast zwei Stunden vergangen waren, beruhigte mich nicht gerade.

Abgesehen davon hätte ich schwören können, dass hier irgendwo der Wolf noch saß und mich mit seinen eisblauen Augen beobachtete. Ich schauderte.

Seit wann hatten Wölfe überhaupt eisblaue Augen?

“Ein wenig kalt, hm?”, sagte ich, als Caro mich anglotzte, als wären mir gerade Flügel gewachsen.

Sie hob die Augenbrauen. “Klar, hat auch nur 25 Grad.”

Ich stieß einen Ton aus, halb lachen und halb gurgeln. Dann quetschte ich mich an ihr vorbei, um an mein Gepäck zu kommen. Denn mir war kalt, mir war sehr kalt; ich hätte schwören können, dass noch immer Schneeflocken auf meiner Haut saßen. Mich wunderte es, dass mein Atem keine Wolken vor meinem Mund formte.

Was war nur los mit mir?

Caro und ich sagten kein Wort mehr, bis wir uns vor dem Flughafen befanden. Vielleicht aus Höflichkeit, damit niemand anders mithörte, vielleicht hatte sie mich nun als psychisch gestört abgehakt; ich wusste es nicht.

Ich war froh, als wir uns wieder an der frischen Luft befanden. Die Kälte begann, langsam nachzulassen und ich fühlte mich wieder halbwegs normal. Ich holte mein Handy aus meiner Tasche, um die Uhrzeit zu checken.

Und sah, dass ich fünf verpasste Anrufe hatte.

Von meiner Schwester.

Mein Herz rutschte mir erneut in die Hose. Melody rief mich nie an. Nie.

“Was ist?”, fragte Caro. Ich musste wie ein paralysiertes Kaninchen geguckt haben.

Ich schluckte. “Hmm? Nichts.” Mit möglichst neutraler Miene steckte ich mein Handy zurück. Mein Herzschlag wollte sich nicht wieder verlangsamen.

Ich wartete darauf, dass Caro zum Taxistand laufen würde. Stattdessen atmete sie plötzlich tief durch und stellte sich vor mich hin.

“Hey”, beschwerte ich mich, als sie meine Schultern packte. “Was zur Hölle -”

“Hast du irgendwas genommen?” Ihre Stimme war ungewöhnlich harsch.

“Was?” Mein Gehirn war immer noch zugefroren.

“Ob du irgendetwas genommen hast? Tabletten? Pillen? Drogen?”

“Wie bitte?”, sagte ich entrüstet. “Das glaubst du doch selbst nicht!”

“Rose, ich mein’s ernst!” Sie sah mich eindringlich an. “Nicht nur hast du in den letzten Tagen so ziemlich jedes Getränk verschüttet, dass du gekauft hast. Vorhin hast du wie eine Irre neben mir herum gekreischt. Du siehst seltsame Tattoos auf alten Weibern und aus dem Flugzeug bist du mehr getorkelt als gelaufen. Und seither ist dein Blick abwesend und warum zum Teufel ist deine Haut so kalt?!”

“Wegen dem Schnee!”, stieß ich aus. Wie immer war mein Mund mal wieder schneller als mein Gehirn.

Sie war so baff, dass sie mich losließ. “Welcher Schnee?”

Ihr Blick ließ verlauten, dass sie in Gedanken schon dabei war, die nächstbeste Therapeutin anzurufen.

“In meinem Traum.” Ich versuchte, geduldig und möglichst nicht hysterisch zu klingen. “In meinem Traum war ich...ich weiß nicht, wo...aber da war Schnee...und Blut...und ein Wolf.” Ich merkte selbst, wie verrückt das klang und meine Stimme wurde immer lahmer, bis ich schließlich verstummte.

Sie starrte mich an. “Ein Wolf?”, wiederholte sie.

“Ja, ein Wolf”, blaffte ich, nun auch verärgert. “Ein Wolf ist kein Einhorn, okay? Und auch kein fliegender Elefant, also hör bitte auf, mich anzustarren, als wäre ich verrückt!”

“Naja”, sagte sie. “Für mich klingt das schon irgendwie, als hättest du irgendetwas intus.”

“Ich. Habe. Keine. Drogen. Genommen”, sagte ich laut und deutlich. Am liebsten hätte ich es ihr ins Gesicht geschrien, aber immerhin befanden wir uns immer noch am Flughafen und ich wollte nicht, dass irgendjemand anders von unserem kleinen Disput hier etwas mitbekam.

Sie seufzte. “Na schön. Ich glaub dir ja. Aber was sollte dann das alles?”

“Was meinst du?”, sagte ich. “Ich hab schlecht geträumt. Ich hab geschrien. Ist doch nichts dabei. Ich weiß ja, dass es hochgradig peinlich war, aber ich glaube, nun bist du diejenige, die aus einer Mücke einen Elefanten macht.”

Ich sah ihr an, dass sie mir dabei nicht zustimmte.

Schließlich stieß sie einen langen Seufzer aus und nickte. “Na schön”, sagte sie. “Na schön.” Dann warf sie mir einen weiteren eindringlichen Blick zu. “Aber wenn noch einmal so etwas passiert, dann erzählst du es mir, verstanden?”

Ich widerstand dem Drang “Ja, Mama” zu sagen. Stattdessen nickte ich einfach nur müde. “Klar”, sagte ich. Unwillkürlich musste ich an die verpassten Anrufe meiner Schwester denken. Ein Teil von mir wollte es ihr sogar erzählen.

Trotzdem brachte ich den Mund nicht auf. Stattdessen folgte ich ihr zum Taxistand.

Wir setzten uns in das nächstbeste Taxi. Keiner von uns sagte etwas; ich nahm an, dass wir beide einfach nur zu müde waren. Ich hoffte, sie spielte nicht mit dem Gedanken, all das meinen Eltern zu erzählen. Immerhin wussten wir beide genau, wie empfindlich die beiden mit dem Thema Drogen waren.

Plötzlich vibrierte meine Hosentasche.

Caro blickte hinunter. “Ist das dein Handy?”

“Anscheinend.” Innerlich stieß ich einen Fluch aus. “Vermutlich meine Mum oder so.”

“Seit wann hast du es auf Vibration gestellt?”

Ich runzelte die Stirn. “Hab ich...eigentlich nicht”, murmelte ich und griff nun doch nach meinem Handy. Sechs verpasste Anrufe von Melody – und einer von einer unbekannten Nummer. Ich löschte sie und wollte dann mein Handy auf lautlos stellen.

“Was?” Caro klang langsam auch leicht hysterisch.

“Es ist schon lautlos gestellt”, sagte ich.

Sie sah mich fragend an. “Aber gerade -”

Mein Handy vibrierte wieder.

Ich widerstand dem Drang, es aus Panik heraus aus dem Taxi zu schmeißen. “Vermutlich hängt es einfach nur. Ist schon alt.” Ich klickte die unbekannte Nummer weg und schaltete es aus. Normalerweise schaltete ich mein Handy nie aus – meine Eltern wären stolz auf mich.

Ich war froh, dass wir beinahe schon an Caros Haus waren. Selbst wenn es von hier aus nur eine fünfminütige Taxifahrt war, bevor ich mich meinen Eltern stellen musste, konnte ich diese Zeit für mich alleine gebrauchen.

Keiner von uns sagte mehr etwas, bis wir an Caros Haus ankamen.

Während der Taxifahrer ihr Gepäck aus dem Kofferraum holte, umarmten wir uns. “Du schreibst mir, okay?”, sagte sie.

“Sobald mein Handy wieder angeschaltet ist”, versprach ich. “Und natürlich erst, wenn ich in meinem Zimmer bin, weg von meinen Eltern”, fügte ich noch hinzu.

Sie schüttelte den Kopf. “Ja”, sagte sie nur, in einem seltsamen Ton. “Man sieht sich.”

“Ja”, erwiderte ich genauso. Ich war erleichtert, dass nichts Krasses mehr passiert war, um das sie sich Sorgen machen musste.

Sie drehte sich gerade zum Gehen, als mein Handy erneut vibrierte.

Caro wandte sich wieder um, ihre Tasche in der Hand. “Ich dachte, du hast es ausgeschaltet?”

Ich versuchte, das mulmige Gefühl in meinem Magen zu ignorieren. Ich fühlte mich wie in einem von diesen Hacker-Horror-Filmen. “Ja”, sagte ich, um einen lässigen, neutralen Ton bemüht. “Vielleicht ist der Akku leer.”

Sie warf mir einen eindringlichen Blick zu, nickte aber nur. “Ja, okay”, sagte sie nur. “Naja, bis dann.” Sie lief zu ihrem Haus.

Ich konnte ihren Blick spüren, bis das Taxi um die Ecke gebogen war.

Meine Hand zitterte leicht, als ich mein Handy aus der Tasche holte. Es war angeschaltet.

Zehn verpasste Anrufe von meiner Schwester. Fünf von einer unbekannten Nummer.

Und eine Nachricht von der Nummer.

Es war ein Foto.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu schreien.

Auf dem Bild war ein Wald zu sehen. Links stand ein Wolf – der Wolf, den ich gesehen hatte. Er war wirklich gigantisch. Sein Fell war überdeckt mit Eiskristallen und Blut. Der Boden unter ihm war damit getränkt.

Was mich aber noch mehr schockte war, dass ich auf der rechten Seite des Bildes saß – überdeckt mit Blut. Es war genauso, wie ich es in Erinnerung hatte – als hätte jemand ein Foto von meinem Traum gemacht!

Ich kniete auf dem Boden und sah zu dem Wolf hoch, mit geschockter Miene.

Mein Herz raste.

Was zur Hölle ging hier vor sich? Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Es war ein Traum. Hatte sich jemand in mein Gehirn gehackt und ein Bild von meiner Erinnerung gemacht? Was – wie -?

Ein Geräusch neben mir ließ mich auffahren. Es war nur der Taxifahrer, der die Türe geöffnet hatte.

“Ma’am, wir sind angekommen”, sagte er, leicht vorsichtig, als erwartete er, dass ich gleich ohnmächtig werden würde.

Ich glaube, ich nickte. “Ja”, sagte ich. Ich drückte ihm einen Geldschein in die Hand; vermutlich das Doppelte von dem, was ich ihm schuldete. Dann packte ich meinen Trolley und machte mich auf in Richtung Haus. Auf dem Weg zur Eingangstüre ließ ich mein Handy unauffällig in einen Busch gleiten.

Ich würde einfach sagen, ich hätte es in London verloren. Oder fallengelassen.

In meinen Ohren rauschte es. Ich hoffte, meine Eltern würden mir meine Ausrede, dass ich zu müde war, um zu reden, abkaufen.

Ich klingelte.

Anstatt des normalen Klingeltons, den ich gewohnt war, hörte ich plötzlich das Jaulen eines Wolfes.

Ich schreckte zusammen, stieß einen lauten Schrei aus und fuhr herum; in Erwartung, das Biest würde nun mitten in unserem gemütlichen englischen Garten stehen, drauf und dran, mich zum Abendessen zu verspeisen – stattdessen stand dort meine Schwester.

“Melody”, stieß ich aus. “Was machst du denn hier?”

“Geh zurück”, sagte sie.

“Was?”, keuchte ich. “Wie meinst du das?”

“Rose?”, hörte ich auf einmal eine Stimme hinter mir. “Alles in Ordnung, Liebes?”

Ich wirbelte herum; vor mir stand meine Mum. Sie sah mich verwirrt und leicht besorgt an. “Ist alles in Ordnung, Rose?”, wiederholte sie, dieses Mal klang ihre Stimme merkwürdig.

Ich fragte mich; warum sie nicht ausrastete, immerhin war Melody -

Als ich mich wieder umdrehte, war unser Garten leer. Keine Melody. Und erst recht kein übergroßer Wolf mit gefletschten Zähnen. Nur unsere Tulpen und Rosen.

Oh Gott.

Ich drehte mich wieder zu meiner Mum. “Hi”, sagte ich. “Ich...ähm, tut mir leid, ich bin ein wenig müde.” Ich wartete ihre Antwort gar nicht ab, sondern quetschte mich an ihr vorbei ins Haus.

Mein Dad kam mir schon im Flur entgegen. “Oh, Rose, schön, dass du wieder hier bist.” Er umarmte mich flüchtig, dann sah er mich an. “Alles in Ordnung?”

Ich nickte so heftig, dass ich das Gefühl hatte, mein Kopf würde gleich abfallen. “Klar”, sagte ich und manövrierte meinen Trolley auf die erste Stufe der Treppe; eine klare Ankündigung, dass ich mich gleich in mein Zimmer begeben würde.

Auch wenn mein Handy draußen im Busch vor sich hin gammelte, hatte ich noch immer meinen Laptop, um Caro anzurufen – ich musste einfach mit ihr reden und ihr alles erzählen.

“Ich gehe nach oben, okay?”, fragte ich. “Ich kann ja morgen erzählen...ich bin ziemlich müde.”

“Klar.” Meine Mum antwortete so schnell, dass ich sie verwundert ansah.

“Oh, aber kann ich mir vielleicht dein Handy kurz ausleihen, Rose?”, fragte dann mein Dad. “Meines ist kaputt gegangen und ich muss kurz einen Anruf tätigen. Du weißt, ich komme mit Mum’s Handy nicht klar.”

Ich starrte ihn an. Fast hätte ich gesagt “Dann hol es dir, draußen im Busch liegt es.” Stattdessen brachte ich “Ich hab es in London verloren” heraus.

Meine Eltern starrten mich an.

Ich starrte zurück.

War ich paranoid? “Ich muss nach oben”, stieß ich aus. “Tut mir leid, Dad… ich, ähm, bestelle mir morgen ein Neues, okay?”

“Klar, kein Problem.” Ich sah ihn nicht mehr, weil ich mich schon damit abmühte, meinen Koffer nach oben zu schleppen, aber seine Stimme klang ganz normal.

Vermutlich war ich wirklich paranoid.

Als ich in meinem Zimmer angekommen war, ließ ich meinen Koffer auf den Boden krachen (und hoffte, unten rieselte nicht der Putz von der Decke). Leichter Schwindel überkam mich.

Puh, ich hatte mich anscheinend mit meinem Koffer überanstrengt.

Ich begab mich an meinen Schrank, um meinen Laptop heraus zu kramen. Als ich meine Hand ausstreckte, um die Schranktüre zu öffnen, sah ich plötzlich nicht mehr meinen Arm, sondern den der alten Dame.

Und das Tattoo auf ihrem Arm...war kein Hund.

Es war ein Wolf.

Ich stieß einen leichten Schrei aus und taumelte zurück; mein Arm war wieder mein Arm. Ich keuchte auf, mein Herz fing an zu rasen. Ich hatte das Gefühl, mein Kopf müsse jeden Moment explodieren.

Die alte Frau hatte einen Wolf auf ihrem Arm! Jemand hatte mich in einem Traum gefilmt. Meine Schwester stand in unserem Garten und war plötzlich verschwunden; abgesehen davon, dass sie mich schon den ganzen Tag mit Anrufen bombardierte. Mein Handy schien ein eigenes Gehirn zu entwickeln.

Der Schwindel nahm zu. Mir wurde glühend heiß; dann kalt. Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zurück zu dem Blut an meinen Händen und ich merkte, wie Übelkeit in mir hochkam. Ich konnte nicht mehr atmen.

Der Raum zog sich zusammen. Ich fühlte mich eingeengt – in meinem Zimmer, in unserem Haus, in der Welt selbst.

In meinem Kopf hämmerte es. Mir wurde es kalt, noch kälter. Die Kälte drang in meinen Körper ein; ich versuchte, nach Luft zu schnappen.

Atemwolken bildeten sich vor meinem Mund.

Ich stieß einen Seufzer aus, dann gaben meine Beine unter mir nach. Und ich fiel.

Als ich unten ankam, stießen meine Knie nicht wie ich erwartet auf den harten Holzboden meines Zimmers.

Stattdessen fiel ich direkt auf eisig kalten Schnee.

Und dann hörte ich erneut das Knurren des Wolfes.

Als ich wie belämmert aufblickte, stand er direkt über mir, den Mund geöffnet, sodass ich seine spitzigen Zähne sehen konnte.

Oh, scheiße.

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