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Kapitel 2

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Ich stieß ein typisch spitzes Mädchenkreischen aus und krabbelte auf allen Vieren rückwärts. Der Wolf machte bisher noch keine Anstalten, auf mich zu zu kommen – vermutlich überlegte er sich gerade noch, wie er mich am besten verspeisen konnte.

Langsam kam das Gefühl in meine Muskeln zurück. Während ich mit mir selbst diskutierte, ob es besser war, ihm in die Augen zu sehen oder seinen Blick zu meiden, stand ich auf. Meine Beine fühlten sich an wie Pudding.

Ich stand ihm nun direkt gegenüber, blickte in seine eisblauen Augen.

Dann stieß der Wolf plötzlich ein Knurren aus. Speichel tropfte aus seinem Mund.

Ich schnappte nach Luft. Es war, als hätte ich meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle, als ich mich umdrehte – und rannte.

Natürlich wusste ich, dass ich ihm nicht entkommen konnte. Er war schneller als ich, viel schneller. Trotzdem hatte ich keine andere Wahl.

Ein Teil meines Gehirns, das noch nicht ganz gelähmt vor Angst und Kälte war, registrierte, dass ich immer tiefer in den Wald hineinkam. Blätter streiften mein Gesicht und zerkratzten meine Haut, aber ich spürte es kaum. Das Einzige, was ich mitbekam war mein viel zu lauter Atem, der nach und nach zu einem Keuchen wurde.

Die Kälte drang in meine Kleidung. Ich war mir sicher, dass ich schon ganz durchnässt war, aber auch das spielte keine Rolle. Ich wusste nicht einmal, wo der Wolf war. Ich erwartete, jeden Moment seine Zähne zu spüren, seinen heißen Atem im Nacken.

Die Bäume wurden dichter und dichter. Vielleicht hatte ich das Biest schon abgehängt, aber ich wagte es nicht einmal, mich umzudrehen. Stattdessen rannte ich immer weiter und weiter, mein Keuchen wurde höher, vermischte sich mit einem Husten.

Und dann stand ich plötzlich inmitten einer Lichtung.

Wie vom Blitz getroffen blieb ich stehen – denn erneut war das Blut überall. Ich schnappte nach Luft, Kälte floss in meine Kehle und ich begann zu husten. Mein Atem wollte sich nicht beruhigen.

Mein Herz raste noch immer; mein Blick wie gebannt von dem Blut. Dann realisierte ich langsam, dass ich vermutlich immer noch verfolgt wurde.

In Erwartung, wieder in die eisblauen Augen des Wolfes zu blicken, wirbelte ich herum – die Lichtung war vollkommen leer. Der Wald war ruhig. Kein Blatt bewegte sich.

Es gab nur mich – und den blutgetränkten Schnee.

Oh Gott. Ich spürte, wie meine Knie unter mir nachgaben. Das war einfach zu viel.

Ich spürte etwas Nasses auf meinen Wangen, doch ich war mir nicht sicher, ob es Tränen des Schocks waren oder das Eis, das von den Bäumen tropfte und sich auf meiner Haut in Wasser verwandelte.

Wo zur Hölle war ich? Und wieso musste es so kalt sein?

Ich merkte, wie meine Lippen zu zittern begannen. Wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben, streckte ich meine Hand dem Schnee entgegen.

Als ich sie wieder hob, war sie vollkommen rot.

Mein Magen drehte sich herum. Das Blut fühlte sich warm an, was in krassem Gegensatz zu der Kälte um mich herum stand. Ich merkte, wie ich in eine Art Hypnose fiel – oder vielleicht wurde ich einfach nur ohnmächtig.

Ich konzentrierte mich darauf, meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. Wolken formten sich vor meinem Gesicht.

Wenigstens ist der Wolf nicht mehr da, schoss es mir durch den Kopf.

In dem Moment hörte ich plötzlich ein lautes Jaulen, das jedem Werwolf Konkurrenz gemacht hätte.

Ich stieß ein merkwürdiges Stöhnen aus. Ich versuchte, mich aufzurappeln, wobei ich ausrutschte und wieder hinfiel. Auf Händen und Füßen krabbelte ich halb weiter, bis ich endlich wieder aufstehen konnte.

Und dann rannte ich wieder – ich war mir nicht einmal sicher, aus welcher Richtung das Jaulen kam. Im schlimmsten Fall lief ich direkt darauf zu.

Schon nach wenigen Sekunden war ich wieder außer Atem. Allerdings konnte ich nicht anhalten, denn das Jaulen war nun wieder näher; vermischt mit einem tiefen Knurren.

In dem Gebüsch neben mir raschelte es; es schien fast, als würde der Wolf parallel neben mir rennen. Ich versuchte, nicht zu kollabieren und zwang mich, irgendwie in Bewegung zu bleiben.

Beinahe wäre ich gestolpert.

Nun war ich mir sicher, etwas oder jemand rannte neben mir; aber warum griff es nicht an?

Als hätte es meine Gedanken gelesen, sprang auf einmal etwas aus dem Blätterwerk neben mir. Ich sah nur noch weißes Fell aufblitzen, eisblaue Augen, ein geöffneter Mund mit spitzen Zähnen, der auf mich zukam -

Ich schrie.

Und dann hörte ich plötzlich eine Stimme. “Rose? Willst du nicht herunterkommen? Es gibt Lasagne.”

Ich befand mich auf dem Boden meines Zimmers. Zitternd und schweißgebadet. Ich merkte, dass ich hysterisch wimmerte und presste schnell meine Lippen zusammen.

Lasagne. Benommen sah ich mich um. Ich keuchte noch immer. Als ich meine Hand berührte, merkte ich, wie eiskalt meine Haut war.

Verflucht.

Ich zuckte zusammen, als es an der Türe klopfte. “Ich komme gleich”, krächzte ich.

“Alles in Ordnung?”, hörte ich die Stimme meines Dads.

“J-ja.” Ich hoffte, er hörte nicht, dass ich kurz davor war, einen hysterischen Anfall zu bekommen. “Ich muss nur kurz… auf die Toilette.” Musste ich wirklich, aber nur um im Spiegel zu überprüfen, dass ich nicht aussah wie eine Hexe – oder voller Blut war.

Im Badezimmer angekommen, ließ ich mir zuerst einmal heißes Wasser über die Hände laufen – die nicht blutverschmiert waren. Noch immer zitterte ich vor Kälte.

Langsam blickte ich hoch und sah in meine vertrauten, braunen Augen, die genauso geschockt blickten wie auf dem Bild auf meinem Handy.

Mein Handy! Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass meine Schwester versucht hatte, mich zu erreichen. Und diese unbekannte Nummer, die in meinem Gehirn herumgestöbert hatte…

Gott, ich hatte Kopfschmerzen.

Ich musste unbedingt mit Caro reden. Ich musste es ihr erzählen – irgendjemandem erzählen. Auch wenn sie mich vermutlich in die Klapse verfrachten würde. Aber besser, ich redete mit ihr als mit meinen Eltern. Was sie sagen würden, konnte ich mir schon denken.

Also musste ich mich jetzt ganz normal verhalten, meine Lasagne essen und schön von meiner Reise erzählen.

Und irgendwie versuchen, zu verdrängen, dass ich gerade fast von einem imaginären Wolf verspeist worden war.

Ich versuchte, zu lächeln. Es sah eher wie eine Grimasse aus.

“Ach, scheiß drauf”, murmelte ich. Ich zitterte noch immer leicht. “Tief durchatmen”, sagte ich mir.

“Rose, die Lasagne wird kalt!”, ertönte die Stimme meiner Mum.

Was, wenn es mir während des Abendessens passierte? Wenn ich nicht einmal fünf Minuten hierbleiben konnte, bevor ich wieder in… ja, in was? Was war es? Meine Träume? Meine Visionen? Visionen und Träume, von denen man Bilder machen konnte?

Mit einem Stöhnen ließ ich meinen Kopf gegen das Waschbecken krachen. Verdammte Scheiße. Vielleicht hatte ich ja doch versehentlich irgendwelche Drogen eingenommen, ohne es zu bemerken. Oder ich hatte mir alles nur eingebildet. Aber warum kam es mir dann so echt vor? Ich hätte schwören können, dass ich, streckte ich die Hand aus, wieder den Schnee fühlen konnte. Und das Blut. Ich erschauderte.

Wieso konnte ich nicht am Strand sein, mit Muscheln, Sand und Sonne? Warum musste ich in einer blutigen Schneelandschaft herauskommen? Oder davon träumen?

Was auch immer.

“Rose!” Meine Mum klang nun ungeduldig

“Ich komme!”, rief ich zurück. Lasagne. Wäre ich nicht so hungrig gewesen, wäre ich vermutlich nicht aus dem Badezimmer herausgekommen. Aber von einem Wolf durch den Wald gejagt zu werden, macht einen ganz schön hungrig.

Ich versuchte, nicht paranoid auszusehen, als ich nach unten ging. Auch wenn ich meine Hände tief in den Taschen meiner Jogginghose vergraben hatte, damit niemand sah, wie sie zitterten.

Meine Eltern saßen am Tisch, unterhielten sich ganz normal. Beide sahen auf, als ich hereinkam.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich Angst, ich würde nun hier zusammenbrechen und ihnen alles erzählen. Dann biss ich mir leicht auf die Zunge und zwang mich zu einem Lächeln.

“Hi.” In meinem Kopf sah ich noch immer die eisblauen Augen des Wolfes. Mein Herzschlag beschleunigte sich wieder. Ich versuchte, nicht in Panik zu geraten.

“Bist du okay?” Meine Mum musterte mich scharf.

“Klar.” Ich versuchte, ganz normal zu klingen und setzte mich hastig hin, bevor meine Wackelpudding-Beine unter mir nachgaben.

Eine Weile redete keiner von uns. Ich hatte dermaßen Hunger, dass ich mich zwingen musste, langsam zu essen – was dadurch erleichtert wurde, dass ich mich gleichzeitig darauf konzentrieren musste, meine Hände ruhig zu halten.

Mir war bewusst, es war nicht normal, dass ich nicht augenblicklich mit allen Erlebnissen meiner Reise herausplatzte, aber ich war mir nicht sicher, ob ich mich noch überhaupt an irgendein Ereignis meines Trips erinnerte – von dem katastrophalen Rückflug mal abgesehen.

Deshalb hoffte ich einfach, meine Eltern dächten, ich sei müde; oder von mir aus in einer miesen Stimmung.

Dann ließ meine Mum die Bombe platzen. “Hast du etwas von deiner Schwester gehört?” Ihr Ton sollte wohl beiläufig sein, doch selbst in meinem Delirium hörte ich, wie interessiert sie an meiner Antwort war.

Ich blickte nicht auf, sondern tat, als würde ich meine Lasagne auseinandernehmen und inspizieren wollen. “Hmm”, murmelte ich und stopfte mir schnell ein paar Nudeln in den Mund.

Ich merkte, wie auch mein Dad aufhorchte. “Hat sie dir nicht...gratuliert?” Es schien, als hätte er zuerst etwas anderes sagen wollen.

Ich ließ mir Zeit, um zu kauen. Als ich geschluckt hatte, hatte ich schon meine Ausrede parat: “Ich hab mein Handy am Morgen meines Geburtstags verloren”, sagte ich. Ich hoffe, ihr wollt morgen nicht die Büsche schneiden…

“Was ist mit einer Email?”, fragte Mum prompt.

Ich zuckte die Achseln. “Noch nicht nachgesehen”, nuschelte ich und mied ihren Blick.

Ich wollte gar nicht wissen, wie viele Emails Melody mir schon geschrieben hatte, seit sie sicherlich bemerkt hatte, dass ich mein Handy “verloren” hatte.

Ganz zu schweigen von der unbekannten Nummer, die sicherlich auch meine Email hatte...was für ein Bild würde ich dieses Mal im Anhang finden? Ich, auf der Lichtung kniend? Oder gar ein Video, wie ich von dem Wolf davonrannte?

Ich ließ mein Besteck sinken; mein Appetit war mir plötzlich vergangen.

Meine Mum blickte auf; sie hatte vermutlich noch nie erlebt, dass ich meine Lasagne nicht ganz aß. “Ist wirklich alles okay, Rose?”

“Ja”, erwiderte ich, meine Stimme ungewöhnlich hoch. “Ich...ich hab nur schon so viel im Flugzeug gegessen.” “Ich dachte, im Flugzeug bekommt man gar nichts mehr zu essen.” Mein Dad runzelte die Stirn und er und Mum tauschten einen Blick.

Ups. “Ja… Caro hat noch ein paar Sachen davor gekauft”, sagte ich. Allmählich bekam ich Kopfschmerzen. Hieß das, ich musste gleich wieder in die Eiswüste zurück? Ich griff nach meinem Glas und schüttete mir ein wenig Wasser in die Kehle, in der Hoffnung, mein Blick würde sich dadurch wieder klären.

Verdammt. Verdammt! Ich versuchte, zu atmen; doch langsam spürte ich, wie die Müdigkeit mich erneut überkam.

Und dann hörte ich ein Handy vibrieren.

Ich zuckte so hart zusammen, dass mein Stuhl über den Boden schrammte.

Gleichzeitig bemerkte ich, wie meine Eltern erneut einen Blick tauschten. “Oh, das ist wohl meins”, hörte ich Dad sagen. Er war ein genauso schlechter Lügner wie ich, weshalb ich ihm seinen lässigen Ton nicht abkaufte.

Rief Melody jetzt vielleicht sogar ihn an?

Nun ja, solange es nicht mein Handy war, das Füße bekommen hatte und alleine hier herein gelaufen war, war das eigentlich schon genug für mich.

Allerdings gefiel mir Mum’s Blick gar nicht. Sie starrte merkwürdig verbissen und fast schon wütend den Tisch an.

Okay? Anscheinend war ich nicht die Einzige, die hier etwas zu verbergen hatte.

An jedem anderen Tag hätte ich vermutlich nachgefragt. Doch heute war ich mir sicher, dass ich gar nicht wissen wollte, was die zwei beschäftigte. Ich hatte schon genug eigene Sorgen – und ich wollte unbedingt mit Caro reden.

“Ist es okay, wenn ich nach oben gehe?”, wiederholte ich meine Frage von vorhin. Ich wusste, meine Eltern hassten es, wenn ich mich einfach vom Tisch erhob, ohne alles gegessen zu haben.

Erneut überraschten sie mich. “Natürlich”, sagte Mum. “Du kannst später weiter essen, falls du noch Hunger hast.” Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich darauf getippt, dass der Blick, den sie mir zuwarf, beinahe erleichtert war.

Ich nickte langsam und stand auf.

Ich hatte das Gefühl, die beiden wollten brennend über etwas reden, was sie vor mir nicht tun konnten.

Melody, bestimmt, redete ich mir zu, während ich nach oben lief. Dass es um die seltsame unbekannte Nummer ging, wollte ich mir gar nicht vorstellen.

In meinem Zimmer angekommen, packte ich meinen Laptop und rief Caro an.

Es war fast, als hätte sie meinen Anruf erwartet; bereits nach wenigen Sekunden erschien ihr Gesicht in meinem Bildschirm. “Rose?” Ihre Stimme klang fragend, fast vorsichtig.

“Caro!”, stieß ich aus, im gleichen Ton wie ein Ertrinkender “Luft!” sagen würde. Ich bemühte mich, meine Stimme ein wenig zu senken – wer weiß, ob meine sich merkwürdig verhaltenden Eltern nicht vor der Türe lauerten.

Sie hörte schon an meinem Ton an, dass etwas nicht stimmte. “Ist alles in Ordnung bei dir?”, wollte sie wissen.

Auf einmal hatte ich einen Kloß in der Kehle. Langsam schüttelte ich den Kopf. “Ich weiß, das hört sich vermutlich vollkommen verrückt an -”, fing ich an.

“Noch verrückter als dein Hysterieanfall im Flugzeug?”, unterbrach sie mich. Ich wusste, sie wollte mich vermutlich nur zum Lachen bringen.

“Ja”, flüsterte ich. “Es ist nämlich wieder passiert.”

Aller Humor war aus ihrem Gesicht verschwunden. “Passiert? Was meinst du?”

Ich senkte meine Stimme ein wenig. “Ich bin… vorhin einfach umgekippt – und nein, ich habe keine Drogen genommen”, setzte ich noch hastig hinterher, damit sie nicht den falschen Eindruck bekam. “Ich war… ich weiß nicht, warum… und dann wieder der Schnee… und der Wolf – genau gleich wie vorher, als hätte jemand Pause gedrückt… und ich bin gerannt… dann war da das Blut – und der Wolf wieder… und er ist auf mich zugesprungen und dann bin ich wieder hier gewesen, weil meine Mum mich gerufen hat… oder vielleicht einfach so.”

Während ich redete, spannen sich meine Gedanken schon weiter. “Aber wenn es so ist wie letztes Mal; was wenn ich wieder genau in dem Moment zurückkomme? Der Wolf ist auf mich zugesprungen… das heißt...” Ich schluckte. “Dass er mich frisst, wenn ich...”

“Warte, warte, warte!” Caro musste beinahe schreien, damit ich endlich die Klappe hielt. “Von was redest du überhaupt?” Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber sie schien ein wenig blass geworden zu sein.

Super, ich wollte gar nicht wissen, wie ich aussah.

“Ich war… ich bin irgendwo hingegangen. Keine Ahnung, wie. Keine Ahnung, wo… Aber vorhin hat mich meine Schwester angerufen… ein paar Mal...”

“Deine Schwester?” Ihre Stimme klang ungläubig.

“Ja, und eine unterdrückte Nummer und die haben mir ein Bild geschickt von dem Wolf – und mir, wie ich im Schnee gekniet bin! Und das Blut war echt...”

“Bist du sicher?”

“Leider ja”, sagte ich. “Ich…” Ich rutschte ein wenig herum, weil mir die Position allmählich unangenehm wurde. Verflucht, ich hätte das Fenster öffnen sollen, es wurde langsam stickig hier.

“Bist du sicher, dass du nicht nur geträumt hast?”, wiederholte sie, ihre Stimme genauso eindringlich wie am Flughafen.

“Ja!” Ich schrie fast. Hastig senkte ich die Stimme wieder. “Verdammt, meine Hände waren selbst noch eiskalt, als ich schon wieder hier war!”

“Aber…” Ich konnte beinahe zusehen, wie sich die Rädchen in ihrem Gehirn drehten. Sie war immer viel klüger als ich. Ich wusste, sie versuchte, das Ganze logisch zu betrachten. “Aber selbst wenn wir davon ausgehen, dass du irgendwie… einen krassen Traum hattest und vielleicht irgendwie irgendwo anders warst – wer hätte ein Bild davon machen können? Das Ganze sind immer noch deine Gedanken...”

“Das heißt, du glaubst mir?”, wollte ich wissen. Ihre ganzen “vielleicht” und “wäre” gefielen mir gar nicht.

Sie biss sich auf die Lippe. “Ich glaube dir, dass du denkst, das Ganze ist passiert. Aber vielleicht…vielleicht hat dir dein Gehirn einen Streich gespielt.” Sie sah an meiner Miene an, dass dies nicht meine erhoffte Reaktion war.

“Rose.” Ihre Stimme war mild, als spräche sie zu einem Kind. “Du weißt, es ist unmöglich, dass du wirklich an einen anderen Ort gehst. Es kommt oft vor, dass sich ein Traum echt anfühlt -”

“Und was ist mit dem Foto?”, stieß ich hervor.

“Kannst du mir das Foto mal schicken?”

“Ähm… ich hab mein Handy draußen in den Busch geschmissen.” Mir war klar, das hörte sich wie eine lahme Ausrede an.

Ihre Augenbrauen hoben sich leicht, aber ansonsten sagte sie nichts dazu. “Ich glaube, du solltest dich einfach mal ausruhen”, sagte sie dann.

“Das heißt, du glaubst mir nicht?” Plötzlich fühlte ich mich seltsam müde. Und leicht wütend. Wenn sie mir nicht glauben wollte, schön.

Ich war mir ja nicht einmal mehr sicher, ob ich mir selbst glauben konnte.

“Nun ja”, sie wählte ihre Worte sorgfältig, “du musst zugeben, dass es schon ein wenig… gaga klingt.”

“Du meinst, ein wenig zu sehr nach Melody”, spann ich ihren Gedankengang weiter. “Du glaubst, ich habe irgendwas genommen, nicht wahr?” Sie sprach es zwar nicht aus, aber es zeichnete sich so deutlich in ihren Augen ab, dass sie es mir ebenso gut hätte ins Gesicht schreien können.

“Ich will nicht sagen, du hast absichtlich etwas genommen”, wieder klang es, als würde sie ein hysterisches Kind beruhigen wollen. Ich fragte mich, ob sie nicht ein wenig zu viel Zeit im Altersheim verbracht hatte. “Aber vielleicht ist es der ganze Stress und...”

“Was ist mit den Anrufen von Melody?”, wollte ich wissen.

“Geburtstags-Glückwünsche.”

Ich biss mir auf die Lippe. Warum klang bei ihr immer alles so logisch? Langsam glaubte ich selbst, dass ich alles nur geträumt hatte. Ich wusste nicht mehr, was ich auf ihre Kommentare erwidern sollte.

Dann wurde mir auf einmal bewusst, wie schwer mein Atem schon wieder geworden war. Ich war so auf mein Gespräch mit Caro fixiert gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie es sich schon wieder anschlich.

“Oh, nein!”, stieß ich aus, wobei ich ganz vergaß, dass Caro mich noch immer sehen und hören konnte.

“Was ist?” Sie klang halb alarmiert, halb genervt.

“Ich weiß, du glaubst mir nicht, aber ich glaube, es passiert wieder!”, sprudelte ich heraus. Es fühlte sich so an, als würde jemand meinen Kopf in eine Presse zwängen. Ich stöhnte auf.

“Rose?” Noch immer klang das Misstrauen durch. Dachte sie etwa, ich spielte all das nur, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen und sie zu überzeugen? Ich presste die Zähne zusammen, um nicht auf meinen Computer einzuschlagen.

“Ich -”, fing ich an. Mir wurde ein wenig schwindelig.

“Rose!”

Ich atmete tief durch und der Schleier verzog sich etwas. Dann bemerkte ich, dass mein Akku fast leer war. “Ich… ich muss meinen Laptop einstecken”, sagte ich und kämpfte mich hoch.

Ich sah ihrem Blick an, dass sie glaubte, ich hätte alles gerade eben nur gespielt.

Während ich nach meinem Ladekabel suchte, konnte ich aus dem Augenwinkel beobachten, wie sie mich scharf fixiert hatte. Vermutlich überlegte sie, ob sie lieber eine Therapeutin oder meine Eltern anrufen sollte.

Verdammt.

“Hör mal ”, fing ich an, dann verstummte ich abrupt, als das Schwindelgefühl wieder einsetzte. Allerdings biss ich mir auf die Lippe, um kein Geräusch von mir zu geben. Ich wollte sie nicht wieder alarmieren, falls doch nichts passierte – dann würde sie nur in ihrer Vermutung bestätigt werden, dass ich log und ihr alles nur vorspielte.

Caro seufzte. “Rose, wirklich, langsam glaube ich -”

Weiter hörte ich nichts. Ich war damit beschäftigt, hilflos zu versuchen, mein Ladekabel in die Steckdose zu bringen. Aus irgendeinem Grund zitterten meine Hände plötzlich so stark, dass ich es nicht hinbekam.

Caro redete im Hintergrund weiter, irgendein moralisches Geschwätz, von wegen Melody und meinen Eltern. Dann verstummte sie plötzlich – anscheinend hatte sie bemerkt, dass ich gerade daran scheiterte, meinen Laptop aufzuladen.

“Rose?” Wieder diese Mischung, schwankend zwischen Ungeduld und Vorsicht.

“Ich...” Der Schwindel war wieder zurückgekehrt. Doch wo war die Kälte?

Ich drehte mich zu meinem Laptop um. Ich sah direkt in Caros Augen. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann wurde mir plötzlich ein schwarzer Schatten vor die Augen gelegt.

Keine Kälte. Vielleicht lande ich dieses Mal doch am Strand, war mein letzter Gedanke, bevor ich wieder fiel.

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