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Kapitel 3

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Das Erste, was ich bemerkte, war der Temperaturunterschied. Es war angenehm kühl, doch ich spürte weder die klirrende Kälte noch die Nässe des Schnees.

Das zweite war der Geruch, der in meine Nase drang. Ich schmeckte kein Blut, sondern… Harz.

Das dritte, was ich realisierte, war, dass ich keine Angst mehr hatte. Die letzten Male war ich aufgewacht mit rasendem Herzen, zitternd. Nun war ich seltsam ruhig.

Vielleicht lag es auch daran, dass es hier so still war. Kein Knurren, kein Jaulen. Stattdessen hörte ich ein paar Grillen zirpen, Vögel zwitschern.

Kein Meeresrauschen. Also kein Strand.

Langsam öffnete ich die Augen.

Erneut war ich in einem Wald. Doch dieses Mal sah er nicht aus wie der Verbotene Wald in Harry Potter. Es war ein ganz normaler Wald – dachte ich zuerst.

Dann fiel mir auf, dass die Bäume ungewöhlich groß und dick waren. Okay, vielleicht war ich ja dieses Mal in einem Disney-Märchen gelandet?

Das Gras unter meinen Füßen bot eine angenehme Abwechslung zu dem eiskalten Schnee, an den ich mich nun schon beinahe gewöhnt hatte.

Ich machte ein paar Schritte, um sicherzugehen, dass ich auch in meinem Körper war. Halb erwartete ich, gleich Caro oder meine Mum zu hören, die mich wieder zurückholten.

Als ich an Caro dachte, merkte ich, wie eine leichte Enttäuschung in mir aufkam. Ich hatte wirklich gehofft, sie würde mir glauben. So verrückt meine Geschichte auch klang, wir waren schon seit fünfzehn Jahren beste Freunde.

Ich versuchte, meine Gedanken nicht bei ihr verweilen zu lassen, da ich keine Ahnung hatte, ob nicht doch gleich wieder ein Wolf – oder eine Hexe – aus den Bäumen hervorbrechen würde.

Was machte ich hier?

Noch immer brannten mir all diese Fragen auf der Seele, aber für den Moment war ich einfach erleichtert, dass ich nicht von einem massiven Wolf verfolgt wurde. Und dass nirgends Blut zu sehen war.

Tief atmete ich die frische Luft des Waldes ein. Es schien Herbst zu sein hier; die Blätter waren leicht rötlich gefärbt. Seltsam, dabei war es doch eigentlich erst August.

Auf einmal hörte ich ein Knacken hinter mir. Ich zuckte zusammen, aber es war nur ein Eichhörnchen. Neugierig sah es mich an, dann rannte es weiter, tiefer in den Wald hinein.

Auch wenn es wahrscheinlich eine bescheuerte Idee war, folgte ich ihm. Wieso fühlte ich mich hier so sicher? Vermutlich würde ich gleich dafür bezahlen müssen.

Ich konnte nicht anders, als einen der riesigen Bäume anzufassen. Er schien echt zu sein. Wow. Da hatte aber jemand fleißig Gärtner gespielt.

Dieses Mal fühlte sich alles so viel realer an. Ich war so in meinem Körper verankert wie noch nie. Es fühlte sich… anders an, so anders von allem, was ich je erlebt und durchlebt hatte.

Plötzlich hörte ich Wasser rauschen. War hier ein Wasserfall in der Nähe? Neugierig machte ich noch einen Schritt nach vorne – und dann zischte plötzlich etwas an mir vorbei.

Ich blieb wie angewurzelt stehen. Langsam drehte ich den Kopf; mein Blick fiel auf den Pfeil, der in dem Baum neben mir stecken geblieben war, er hatte mich nur um Haaresbreite verfehlt.

Dieses Mal zögerte ich keine Sekunde lange; ich sprang auf. Meine Augen huschten umher, ich griff mir den nächstbesten Ast, der auf dem Boden lag, bereit, mich meinem Gegner zu stellen.

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich keuchte und meine Finger umfassten das Stück Holz so fest, dass ich Angst hatte, es könnte brechen.

Ich erwartete, dass gleich ein Wilder oder so kommen würde; schlimmstenfalls eine Bestie.

Stattdessen sah ich plötzlich den Umriss einer Frau – ein Mensch? Gott sei Dank!

Ich war drauf und dran, meine Waffe fallen zu lassen und ihr um den Hals zu fallen. Dann bemerkte ich plötzlich, dass sie ebenfalls eine Waffe bei sich trug – einen eleganten, hölzernen Bogen, der beinahe die Länge ihres Körpers innehatte.

Und als sie in die sonnige Lichtung trat, sah ich, dass sie so ziemlich die schönste Frau war, die ich je gesehen hatte.

Ihr Gesicht vollkommen makellos; ihre Züge elegant. Sie war groß, größer als ich, mit einem athletischen, aber femininen Körperbau. Ihr langes Haar war rabenschwarz und so dicht wie ich es noch nie gesehen hatte. Bernsteinfarbene, mandelförmige Augen blickten mich an; umgeben von so dichten, schwarzen Wimpern, dass ich für einen Moment dachte, sie wären aufgeklebt.

Unwillkürlich ließ ich meinen Ast ein Stück sinken; dann fiel mir schlagartig ein, dass sie, auch wenn sie hammermäßig gut aussah, trotzdem gefährlich sein konnte. Immerhin hatte sie ihre Waffe noch nicht sinken lassen.

Ich konnte ihren Blick nicht ganz deuten; er schien leicht neugierig, allerdings wachsam. Ihre Augen huschten über mich hinweg; mir wurde peinlich bewusst, dass ich vollkommen verkratzt und voller Walddreck war.

Leichtfüßig trat sie ein paar Schritte näher. Sie legte den Kopf leicht schräg und musterte mich noch immer. Allmählich fühlte ich mich unwohl dabei.

“Ich habe Euch noch nie hier gesehen”, sagte sie schließlich.

Euch? “Ähm”, meine Antwort fiel natürlich wie immer ungeheuer geistreich aus.

Sie ignorierte mich und trat noch ein paar Schritte näher, den Pfeil weiterhin auf mich gerichtet. Dann ließ sie langsam den Bogen sinken. “Woher kommt Ihr?”

“Ich… ich weiß nicht was das… Euch angeht”, sagte ich und klang etwas aggressiv. Nordengland? Sagt dir das was? Oh, und übrigens, weißt du, wo diese krasse blutgetränkte, eisige Lichtung ist, wo der gestörte Riesenwolf herumläuft?

Sie hob leicht die Augenbrauen – die natürlich perfekt geschwungen waren -, und ihr Blick wurde misstrauisch. “Ihr seid ziemlich warm angezogen”, bemerkte sie. “Kommt Ihr aus dem Norden?”

Warm angezogen? Meinte sie meine Jogginghose?

Als ich nach unten blickte, bemerkte ich entsetzt, dass ich lange, elegante Stiefel und ganz andere Kleidung trug – meine sah ähnlich aus wie ihre. Aber sie hatte Recht: Meine Kleidung war vollkommen für den Winter ausgelegt.

Weil ich keine Ahnung hatte, was ich darauf antworten sollte, schnappte ich zurück: “Ich weiß wirklich nicht, was Euch das angeht. Wo ich herkomme, ist ganz alleine meine Sache.” Als sie nichts sagte, fügte ich hinzu: “Also… auf jeden Fall… gehe ich jetzt.”

Erst im Nachhinein fiel mir auf, dass das vermutlich eine bescheuerte Idee war. Falls wieder einer der Wölfe kommen sollte, war sie vermutlich die Einzige, die ihn töten konnte.

Nichtsdestotrotz wollte ich mich wegdrehen – und dann schwebte plötzlich eine Pfeilspitze direkt vor meinem Gesicht. Sie hatte so schnell reagiert, dass ich nicht einmal die Zeit gehabt hatte, zu blinzeln.

“Ihr geht nirgends hin.” Ihre Stimme war nicht mehr freundlich, sondern kühl – und drohend. “Jeder, der diesen Wald betritt, muss sich bei uns verantworten.”

Uns? Ich versuchte, möglichst unauffällig meine Augen über die – leere – Lichtung wandern zu lassen. “Ich bin nur auf der Durchreise”, war das Einzige, was mir einfiel.

Sie zuckte die Schultern. “Umso besser.”

Als ich nicht reagierte, spannte sie ihren Bogen ein wenig mehr.

Ich schluckte; ich sah ein, dass ich keine andere Wahl hatte, als in die von ihr angegebene Richtung zu gehen. Ich merkte, wie sie mir folgte; den Bogen nun gesenkt.

Ich ließ meinen Ast fallen; ich wusste nicht wirklich etwas damit anzufangen und sie war sowieso schneller als ich. Also ließ ich mich von ihr in den Wald hineinführen.

Sobald ich weg von der Lichtung war, spürte ich, wie mein Magen sich wieder zusammenzog. Meine Gedanken begannen prompt zu rasen.

Wo war ich? Würde ich wieder zurückgehen? Was würde ich Caro sagen? Was würde ich meinen Eltern erzählen? Würde ich all dies überhaupt mit jemandem teilen? Was war mit Melody? Würde ich nachher wieder Bilder von mir selbst geschickt bekommen? War dies ein Traum?

Und wer zur Hölle war diese Frau? Wieso war ich nun hier und nicht mehr in der blutgetränkten Eislandschaft? Was hatte all das zu bedeuten?

Naja, wenigstens war ich hier nicht alleine – auch wenn die einzige Person, die mir Gesellschaft leistete, mich gerade bedrohte.

Ich überlegte, ob ich ihr diese Fragen stellen sollte. Aber wenn ich ihr anvertraute, dass ich vor einer Stunde noch auf meinem Zimmerboden vor meinem Laptop gesessen war… irgendetwas sagte mir, dass ich lieber die Klappe halten sollte.

Schweigend liefen wir durch das Gehölz; Büsche und Bäume. Langsam wurde das Rauschen des Wassers lauter; wir steuerten anscheinend direkt auf dessen Quelle zu.

Gerade wollte ich fragen, wie lange es noch dauerte, bis wir am Ziel waren, als wir plötzlich durch die Bäume brachen.

Mir verschlug es den Atem.

Vor mir befand sich tatsächlich ein Wasserfall; er war gigantisch. Wild rauschend floss er ins Tal hinab, das so tief war, dass selbst die gigantischen Bäume kaum bis hier nach oben reichten. Wassertropfen glitzerten in der Sonne; es sah beinahe magisch aus.

Ich merkte, wie ich automatisch stehen geblieben war. Meine Augen huschten von einem Punkt zu dem Nächsten; versuchten hilflos, alles auf einmal einzufangen und in meinem Gedächtnis abzuspeichern. Von den gigantischen Bäumen, deren Wipfel ich beinahe berühren konnte, zu dem Wasserfall, der wenige Meter vor mir zwischen den glatt geformten Felsen heraussprudelte.

“Hier entlang.” Ihre Stimme war nicht mehr unfreundlich, aber weiterhin leicht kühl.

Ich stolperte weiter, in die Richtung, in der sie mich wies. Wir liefen auf den Wasserfall zu, der hinab ins Tal rauschte. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte ich mich, ob sie mich einfach dort hinab schubsen würde.

Auch wenn ich mich vermutlich mit der Geschwindigkeit einer Schnecke fortbewegte, konnte ich nicht anders, als zu versuchen, alles Mögliche einzufangen. Ich merkte, wie sich etwas in meiner Brust regte; ein seltsames Prickeln.

Wo sind wir? Die Frage lag mir auf der Zunge, aber ich wagte es nicht, sie laut auszusprechen.

Wir waren nun direkt oberhalb des Wasserfalls angekommen, nur wenige Meter entfernt vom Abgrund.

“Wartet hier”, sagte sie plötzlich.

Was, wenn nicht? Ich stellte die Frage gar nicht erst laut; ich wusste, sie war sinnlos. Die Frau würde mich einholen, bevor ich drei Schritte gemacht hatte.

Auch wenn ich am liebsten in das Tal hinab gesehen hätte, ließ ich meinen Blick nicht von ihr los. Sie verschwand zwischen den Bäumen, die hier oben wuchsen. Ich wurde ein wenig nervös und fragte mich, was jetzt passierte.

Auf einmal hörte ich noch andere Stimmen; tiefere Stimmen. Männliche Stimmen. Mein Magen zog sich zusammen. Ich fuhr mir über die Lippen, die vollkommen ausgetrocknet waren.

Nun, wenigstens konnte ich mich darauf verlassen, dass Händeschütteln vermutlich nicht in Mode war; meine Hände waren nämlich leicht feucht vor Aufregung.

Die Stimmen kamen näher; ich hörte jemanden lachen. Aus Reflex wäre ich beinahe einen Schritt zurückgetreten; dann fiel mir ein, dass sich der Abgrund hinter mir befand.

Im nächsten Augenblick durchbrachen mehrere Gestalten die Bäume; ich sah die Frau, die mich hierher gebracht hatte.

Der nächste war ein Mann; ich erkannte nur noch dieselben, edlen, perfekten Gesichtszüge; bernsteinfarbene Augen, die mich neugierig musterten. Noch ein Mann, der beinahe gleich aussah wie der erste – waren es Zwillinge? Ich wollte die beiden Neuankömmlinge weiter beobachten, hatte aber keine Zeit, da sie schon den Mund aufmachten.

“Du hast sie auf der Lichtung gefunden?”, fragte der erste der beiden und blickte mich mit gerunzelter Stirn an.

Die Frau antwortete etwas, leise und schnell; es schien eine andere Sprache zu sein.

Ich wurde immer nervöser. Alle drei starrten sie mich an; ich wusste nicht, ob es besser war zu schweigen oder wenn ich versuchte, mich zu verteidigen.

“Wo ist Solas?”, hörte ich die Frau leise sagen.

Wie bitte? Wer sollte das sein? Einer von ihnen? Ein hysterisches Kichern blubberte in mir hoch.

Einer der beiden Zwillinge zuckte die Schultern. “Ich weiß nicht. Er war auf der Jagd.”

Ha, dann nahm er sich hoffentlich als Erstes einen der Wölfe vor – falls es die hier gab.

Die Frau seufzte. “Ich hoffe, er kommt bald zurück.”

Der Mann seufzte ebenfalls. “Ich auch. Ich bin am Verhungern.”

Da war er nicht der Einzige. Abgesehen davon, dass meine Kehle so trocken war, als läge eine Staubschicht darauf. Ich widerstand dem Drang, mich zu räuspern.

Erneut überlegte ich, ob ich etwas sagen sollte, aber dann begannen die Frau und der Mann, sich in ihrer seltsamen Sprache zu unterhalten. Der zweite Mann starrte mich noch immer an, sein eindringlicher Blick war mir unangenehm.

Die beiden anderen kommunizierten so schnell, und so leise, dass ihre Stimmen sich mit dem Rascheln der Blätter vermischten und beinahe darin untergingen.

Auf einmal verstummten sie.

“Er kommt. Algos, Fréiann, wartet hier”, sagte die Frau – und im nächsten Moment war sie zwischen den Bäumen verschwunden.

Hä? Ich hatte nichts gehört. Allerdings war ich nun vorgewarnt – und konnte mich darauf bereit machen, verhört zu werden. Anstatt die drei zu beobachten, hätte ich mir vielleicht lieber eine glaubwürdige Geschichte einfallen lassen sollen.

Gott sei Dank wendete der Mann nun seinen Blick von mir ab.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und vergrub meine Hände, damit niemand sah, wie sie leicht zitterten. Dann hob ich mein Kinn und machte mich darauf bereit, eine Lügengeschichte zusammen zu spinnen. Ich musste einfach einen kühlen Kopf bewahren. Easy-peasy.

Die Frau kam wieder zurück und hinter ihr…

Ach. Du. Scheiße.

Ade, du kühler Kopf.

Genau wie die anderen war auch der Mann, der jetzt leichtfüßig aus dem Gehölz heraustrat, wunderschön. Ebenmäßige, edle Gesichtszüge, beinahe als wären sie aus dem Gemälde eines Aristokraten entnommen. Seine Lippen waren fein geschwungen. Er war muskulös und athletisch; groß, ein ganzes Stück größer als ich.

Vermutlich unterschied er sich vom Aussehen überhaupt nicht so sehr von den anderen.

Allerdings strahlte er eine Präsenz und eine Wachsamkeit aus, die mich sofort vollkommen in den Bann zog. Es war, als würde er die ganze Lichtung hier einnehmen; alle Energie in sich aufsaugen, reflektieren und selbst ausstrahlen.

Wäre er nicht schon der attraktivste Mann gewesen, den ich je in meinem ganzen Leben zu Gesicht bekommen hatte, wurde diese Attraktivität noch durch seine Ausstrahlung verstärkt.

Mein Blick huschte über ihn hinweg; während er mich musterte – und dann sah ich direkt in seine Augen.

Sie waren nicht bernsteinfarben wie die der anderen; stattdessen versank ich in einem dunklen blau, das so tief wie das Meer war. Sein Blick war wachsam, neugierig und ich konnte so viel Erfahrungen und Gefühle darin sehen, dass mir leicht schwindelig wurde.

Noch nie hatte ich solche Augen gesehen. Sein Blick schien mich magisch anzuziehen; ich konnte mich nicht davon abwenden.

Ich merkte, wie meine Beine sich wieder in Wackelpudding verwandelten. Das tiefe Blau seiner Augen schien im krassen Gegensatz zu der Kälte der eisblauen Augen des Wolfes zu stehen.

Dass das Sonnenlicht ihn perfekt bestrahlte, machte die Sache nicht gerade besser.

Abgesehen davon, dass mich noch immer alle vier anblickten und ich vermutlich angefangen hatte, zu sabbern.

Ich bemühte mich, möglichst kühl und neutral zu bleiben, was mir nicht gerade leicht fiel. Mein Herz schlug so laut, dass ich Angst hatte, sie könnten es hören.

Der Mann trat ein paar Schritte näher, leichtfüßig und elegant.

Auch die Frau kam auf mich zu und brach den Bann somit. Sie redete auf ihn ein, leise und schnell; ich verstand kein Wort von dem, was sie sagte.

Die Angst kehrte zurück in meinen Körper. Ich bemerkte, wie meine Hände wieder leicht zu zittern begannen und selbst wenn ich sie verborgen hatte, fühlte ich mich, als sähe er es dennoch.

Ich wünschte, er würde seinen Blick von mir abwenden. Noch nie hatte mich jemand so lange und so eindringlich angesehen. Es war fast, als müsste ich gar nichts mehr sagen – er wusste sowieso schon alles.

Dann erst fiel mir auf, dass auch er einen Bogen in der Hand hielt; meine Gänsehaut verwandelte sich in eine ganz andere. Ich schluckte.

Die Frau sprach immer noch; dann verstummte sie plötzlich. Er antwortete; seine Stimme war so tief und so samten, dass mir unwillkürlich ein Schauder über den Rücken kroch.

Langsam wurde ich allerdings ungeduldig.

“Also?”, fragte ich, weil ich es ziemlich unhöflich fand, dass er nun zu ihr gewandt redete, als wäre ich gar nicht da. Immerhin drehte sich das Gespräch um mich.

Er verstummte; beinahe überrascht blickte er auf. Erneut nahm mich sein Blick gefangen; ich hätte sogar schwören können, dass seine Lippen leicht zuckten, als müsse er sich ein Lächeln verkneifen.

Vermutlich redete ich mir die Situation nur schön.

Nun starrten mich wieder alle vier an; sie schienen darauf zu warten, dass ich weiterredete. Auch wenn mein Gehirn gerade im off-Modus war und es besser wäre, hätte ich die Klappe gehalten, fand ich die Stille dann doch zu unangenehm.

“Ich … ich habe wirklich keine Zeit, um… hier zu bleiben”, sagte ich. “Ich… muss weiter.” Beinahe hätte ich auf mein Handgelenk getippt, aber da hier alle wie im Mittelalter gekleidet waren, zweifelte ich an der Existenz von Uhren.

Ich machte einen Schritt nach vorne, bereit zu gehen, als die Frau blitzschnell wieder ihren Bogen hob. Ich erstarrte.

Der Mann sagte leise etwas zu ihr und schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie ließ den Bogen sinken, sah mich aber leicht drohend an.

Er machte noch ein paar Schritte auf mich zu, bis er nur noch wenige Meter entfernt von mir stand.

“Baya sagt, sie hätte Euch auf der Lichtung gefunden”, sagte er. Sein Blick bohrte sich in mich hinein.

Ich widerstand dem Drang, die Augen niederzuschlagen. Stattdessen reckte ich mein Kinn ein wenig vor. Mein Herz pochte. “Ja.”

Er kniff die Augen leicht zusammen, als würde er etwas in meinem Blick suchen. “Was macht Ihr in diesen Wäldern?”, wollte er wissen.

“Ich bin nur auf der Durchreise”, erwiderte ich.

“Wohin?”

“Was geht Euch das an?”, blaffte ich.

“Jeder, der durch diese Wälder reist, muss uns Bescheid geben”, antwortete einer der Zwillinge für ihn.

Ich wendete ihm meinen bösen Blick zu. “Warum?”

Der andere Zwilling lachte; es klang beinahe spöttisch. “Wenn Ihr durch den Norden reist, müsst Ihr Euch doch auch verantworten.”

Wirklich? Waren Sie die Zollkontrolle oder wie?

Ich war verwirrt. Doch auf Grund meiner Kleidung schienen ja alle zu denken, ich käme aus dem Norden. Deshalb spielte ich mit. “Ja, ich weiß”, sagte ich. ...nicht. “Aber ich bin wirklich in Eile und deshalb -”

“Wart Ihr unterwegs in den Norden?”, wollte der andere Zwilling wieder wissen; es war der, der mich so angestarrt hatte.

“Vielleicht”, erwiderte ich vage. “Warum?”, setzte ich dann noch neugierig hinzu. Was war im Norden? Wussten sie, dass dort alles voller Blut war? Und dass ein gestörter Wolf herumlief?

Nun antwortete der andere Zwilling wieder. “Weil wir auch dorthin -”

“Algos”, wurde er von dem Mann vor mir unterbrochen. Ich wunderte mich, dass er die ganze Zeit noch fast gar nichts gesagt hatte; er schien doch der Boss hier zu sein.

Die Zwillinge verstummten beide – hm, vielleicht waren sie ja auch siamesische Zwillinge und teilten sich ein Gehirn?

“Ich meine ja nur, die Elfen im Norden -”, setzte der eine an. Er redete weiter, aber ich hörte ihn nicht mehr.

Ich starrte sie alle vier an.

Vermutlich hatte ich es schon vorhin bemerkt – ich war ja nicht blind -, aber war so konfus und überwältigt von ihrem Auftreten gewesen, dass ich es gar nicht realisiert hatte. Nun allerdings sah ich es ganz klar und deutlich und fragte mich, wie ich es vorhin hatte übersehen können.

Elfen.

Sie hatten spitze Ohren.

Nicht wie in einer Peter-Pan-Geschichte. Keine Kobold-Ohren. Nein, wie alles andere waren auch ihre Ohren perfekt auf ihre Gesichter und ihre Erscheinung abgestimmt; es passte sogar zu ihnen. Kein Wunder waren sie alle so leichtfüßig unterwegs!

Elfen. Heilige Scheiße.

Meine Befürchtung von vorhin, eine Hexe zu treffen, war auf einmal gar nicht mehr so weit hergeholt.

Plötzlich fiel mir siedend heiß etwas ein; unwillkürlich zuckte meine Hand nach oben. Als meine Finger das spitz geformte Ohr ertasteten, erstarrte ich.

Ich musste mich stark zusammenreißen, um nicht einen erschrockenen Laut auszustoßen. Ich war auch eine Elfe! Wie konnte das sein? Wie – was - ?

Ich bemühte mich, mir meinen Schock nicht anmerken zu lassen und tat so, als wollte ich mir nur das Haar zurück streichen.

Meine Gedanken wanderten weiter – Elfen im Norden. Naja, wo ich gewesen war, hatte ich nichts Spitzohriges herumlaufen sehen. Nur gruslige Wölfe.

Kam das Blut von den Elfen? Ich schauderte.

Dann fiel mir wieder ein, dass alle Blicke noch immer auf mir lagen. Der Zwilling hatte aufgehört zu reden.

“Solas”, sagte die Frau – es schien der Name des Mannes zu sein. “Was tun wir mit ihr?”

Sein Blick bohrte sich noch immer in mich hinein. Ich versuchte, ihm standzuhalten, was gar nicht so einfach war.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, sah er plötzlich weg; er blickte hinauf in den Himmel, der sich langsam ein wenig rot färbte. “Wir nehmen sie mit”, beschloss er.

Ich hatte das Gefühl, ein allgemeines Aufseufzen ging durch die Runde. “Aber -”, versuchte ich zu protestieren, doch Solas, der Elf, hatte sich schon abgewandt und machte sich in Richtung der Bäume auf. Die Zwillinge folgten ihm.

Die Frau, Baya, hob ihren Bogen wieder. Sie hob leicht ihre Augenbrauen und nickte in Richtung des Waldes. Ich sah ein, dass es sinnlos war, ihnen zu widerstehen. Widerwillig folgte ich den dreien.

Was sollte ich auch sonst tun? Immerhin hatte ich nun Gesellschaft; meine Häscher schienen nicht die Absicht zu haben, mich in der nächsten Zeit von den Klippen zu werfen. Besser, als alleine durch den Wald zu streunen und von Wölfen und wer weiß was noch gejagt zu werden.

Außerdem hatte ich das Gefühl, dass es dort etwas zu essen gab, was meinem Magen sehr gelegen kommen würde.

Der Wald hier war nicht so dicht wie der, durch den wir vorhin gelaufen waren.

Ich wusste nicht, wohin wir gingen; allerdings hatte ich keine Zeit, auf den Weg zu achten. Ich war zu sehr darauf konzentriert, meinen Magen davon abzuhalten, laut zu brummen, während ich gleichzeitig die drei Männer, die vor mir liefen, heimlich beobachtete.

Elfen.

Nun würde Caro mir sicherlich nicht mehr glauben. Apropos… Ich fragte mich, warum ich eigentlich nicht mehr herausgeholt wurde. Wie lange war ich nun schon hier? Sicher einige Stunden. Immerhin ging die Sonne schon unter.

Auf einmal kam mir ein Gedanke – was, wenn die Elfen herausfanden, dass ich… nicht von hier war? Vermutlich würden sie mich als Hexe verbrennen oder so.

Jäh wurde ich aus meinen Grübeleien herausgerissen, als ich merkte, dass wir an unserem Ziel angekommen waren.

Eine Höhle.

Es war allerdings keine düstere, feuchte, modrige Höhle. Sie war gigantisch; mit Tropfsteinen, die von der Decke hingen; überall leuchteten Kristalle und Fackeln – und in der Mitte brannte ein riesiges Feuer.

Die Höhle schien vollkommen ein Teil des Waldes; Äste wuchsen hinein, Blätter umrankten sie, sodass sie beinahe nicht sichtbar war, wenn man nicht geradeaus darauf zusteuerte.

Die Zwillinge waren die ersten, die hineingingen; sie setzten sich an das Feuer. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der so elegant auf einem Stein sitzen konnte.

Baya lotste mich in die Höhle hinein, während Solas sich wachsam an den Eingang lehnte. Sein Blick war in den Wald hinaus gerichtet.

Mein Magen brummte, als ich sah, wie die zwei Elfen am Feuer etwas zu essen in der Hand hielten – ich konnte nicht identifizieren, was es war und bezweifelte, dass ich es schon einmal gesehen hatte. Es sah aus wie ein Gebäck.

Baya bemerkte meinen Blick und sah mich mit hochgezogenen Brauen fragend an.

Ich widerstand dem Drang zu sagen Habt ihr etwa keine Lasagne?!, weil ich nicht unhöflich sein wollte. Also nahm ich eines von den seltsamen Dingern. Hmm, es fühlte sich ganz normal an.

Vorsichtig biss ich hinein – als hätte ich Angst, es könnte mit Maden gefüllt sein.

Es schmeckte gar nicht einmal so schlecht. Es schmeckte… seltsam. Ich fragte mich, wer von den vier Elfen das wohl gebacken hatte.

Vermutlich keiner.

Woher kamen die Elfen überhaupt? Wohin waren sie unterwegs?

Ich beschloss, mir diese Fragen später zu stellen. Jetzt konzentrierte ich mich erst einmal auf mein Essen – das nach wenigen Sekunden weg war. Ich nahm noch eines, ohne überhaupt zu fragen.

Auf einmal bemerkte ich, dass Solas’ Blick auf mir lag. Ich hätte schwören können, dass es in seinen Augen kurz belustigt aufblitzte; dann wandte er sich ab.

Ich errötete leicht; ich hatte mich auf das Essen gestürzt wie eine Verhungernde. Ich schluckte meinen letzten Bissen hinunter, dann starrte ich ins Feuer; auch wenn ich am liebsten noch mehr gegessen hätte.

Allerdings schien nun mein Verhör weiterzugehen. Der Elf kam leichtfüßig zu uns ans Feuer; er setzte sich nicht hin, sondern lehnte sich nur gegenüber von mir, sodass er immer noch seinen Blick gleichzeitig nach draußen richten konnte. Er war der Einzige, der seinen Bogen noch immer in der Hand hielt.

“Wie heißt Ihr?”, wollte er wissen.

Für den Bruchteil einer Sekunde war ich versucht, etwas zu erfinden; etwas, das einem ihrer Namen ähnlich geklungen hätte. Wie hießen die Leute im Norden? Hatten sie vielleicht Wikinger-Namen?

Ich sah, dass ich mit meinen Kenntnissen nicht weit kommen würde. “Rose.”

Sein Blick ließ nicht erkennen, ob er überrascht war oder nicht. Er nickte kaum merklich. “Seid Ihr in den Norden unterwegs?”

Ich öffnete den Mund; hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte. “Ja”, sagte ich schließlich. “Ja, bin ich.”

“Und wo wart Ihr, dass Ihr so weit weg von Eurer Heimat seid?”, fragte er weiter.

“Im Süden”, war das Erstbeste, was mir einfiel.

Ich hoffte, sie würden mich damit in Ruhe lassen – anstatt mich mit Fragen zu löchern, könnten sie mir lieber noch einmal etwas zum Essen anbieten.

Solas allerdings war noch nicht fertig. “Habt Ihr im Norden dasselbe gehört wie wir hier? Schließlich wurde auch eine Nachricht an die Elfen im Norden gesendet.”

Verdammt, er wusste wirklich, welche Fragen er stellen musste. Vielleicht war er ja bei der Elfen-Polizei.

Ich schluckte. “Ich weiß nicht”, sagte ich und wägte meine Worte ab. “Ich… habe den Norden schon vor einiger Zeit verlassen, um auf Reisen zu gehen.” Ich hoffte, niemand würde nun fragen, wo ich überall gewesen war.

Ich konnte nicht sagen, ob er mir glaubte oder nicht, aber er beließ es vorerst dabei. Noch ein paar Sekunden ruhte sein Blick auf mir, so eindringlich, dass ich eine Gänsehaut bekam, dann wandte er sich ab.

Baya folgte ihm an den Eingang der Höhle. Ich konnte hören, wie sie sich leise und schnell in ihrer fremden Sprache unterhielten.

Selbst, wenn ich nicht zu ihnen hinübersah, spürte ich es jedes Mal, wenn sein Blick zu mir herüber huschte; so intensiv war er.

Leider hielt mich das davon ab, noch eines der leckeren, fremden Gebäckstücke zu essen, weil ich mich die ganze Zeit über beobachtet fühlte.

Ich überlegte, ob ich auch aufstehen sollte. Doch als ich mein Gewicht zu verlagern begann, durchstach mich plötzlich ein scharfer Schmerz. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen.

Es ging so unglaublich schnell; ich hatte nicht einmal mehr Zeit, mich darauf vorzubereiten.

Schwindel erfasste mich. Ein Schatten legte sich über meine Augen. Alles verschwamm vor mir. Ich sah zu den Zwillingen. Dann wanderte mein Blick zu den beiden Elfen am Eingang, in ihrem Gespräch vertieft.

Und auf einmal durchzuckte mich etwas anderes.

Widerstand.

Ich wollte nicht zurück. Mein Körper, mein Geist, weigerten sich. Es war fast, als würde ich gegen eine unsichtbare Kraft ankämpfen wollen. Beinahe hätte ich aufgeschrien.

Ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen.

Es schmerzte. Es war, als würde jemand einen langen Stachel mitten in meine Brust bohren. Ich wusste nicht, woher dieses Gefühl auf einmal kam; diese Sehnsucht.

Ich wollte nach Luft schnappen, weil ich mich fühlte, als erstickte ich gleich.

Dann wurde auf einmal alles dunkel um mich herum.


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