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Fall 1 Die verlorene Handtasche

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Materielles Recht: Gesetzliche Schuldverhältnisse (Eigentümer-Besitzer-Verhältnis, Fund, Deliktsrecht, Anwartschaftsrecht, Haftungsmaßstab)
Prozessrecht: Streitgenossenschaft, Zuständigkeit, prozesstaktische Erwägungen aus Klägersicht
Prüfer: Sie sind zugelassener Rechtsanwalt. Wimmer betritt aufgeregt ihre Kanzleiräume anlässlich einer Erstberatung und berichtet von folgendem Vorgang: Vor drei Monaten hatte er im Gesundbrunnen-Center in Berlin-Wedding in der Tiefgarage geparkt. Im Erdgeschoss kaufte er sich bei der „Asia-Imbiss-GmbH“ etwas zu essen, bezahlte und ließ dabei seine schwarze Handtasche am Tresen liegen. Darin befand sich neben dem Personalausweis sein iPhone, dass er vor zwei Jahren neu für 600 € von der Deutschen Telekom AG unter Eigentumsvorbehalt erworben hatte. Von den 36 Monatsraten sind noch 12 Raten offen. 5 Minuten nach Verlassen des Imbiss bemerkte Herr Wimmer in der Tiefgarage das Fehlen der Tasche und erinnerte sich sofort daran, dass er sie auf dem Tresen liegen gelassen hatte. Er eilte sofort zurück. Die Angestellte Frau Ming erklärte ihm auf Nachfrage, dass sie die Tasche gefunden und dann hochgehalten habe. Dabei habe sie gefragt, wem die Tasche gehöre. Zwei Frauen hätten sich daraufhin gemeldet, die Tasche genommen und seien verschwunden. Herr Wimmer holte einen Polizeibeamten, demgegenüber Frau Ming ihre Aussage wiederholte. Konkrete Einzelheiten zum Aussehen der Frauen konnte sie nicht machen. Nachdem das Strafverfahren gegen die unbekannten Frauen und gegen Frau Ming (Letzteres mangels Vorsatz) eingestellt wurden, begab sich Herr Wimmer in den Asia-Imbiss und verlangte von Frau Ming Schadensersatz. Diese stritt nunmehr ab, eine Handtasche gefunden zu haben. Herr Wimmer ist von Frau Ming (die im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Charlottenburg wohnt) schwer enttäuscht und findet, dass sie Schadenersatz leisten müsste. Er wünscht erstmal nur eine umfassende Beratung bzgl. des weiteren Vorgehens. Das Gesundbrunnen-Center befindet sich im Sprengel des Amtsgerichts Wedding. Wie gehen Sie den Fall an?
Kandidat 1: Zunächst ist das Mandantenziel zu ermitteln. Dabei sind nicht nur Schadensersatzansprüche gegen Frau Ming sondern auch solche gegen die „Asia-Imbiss“ GmbH zu prüfen. Der Mandant ist zwar insbesondere über Frau Ming verärgert, hat jedoch Ansprüche gegen die GmbH nicht ausgeschlossen.
Prüfer: Richtig.[1] Warum ist auch die Prüfung von Ansprüchen gegen die Asia GmbH von besonderer Bedeutung?
Kandidat 2: Die Geltendmachung von Ansprüchen gegen die GmbH könnte insbesondere den wirtschaftlichen Vorteil bieten, dass diese Ansprüche eher realisiert werden können, als gegen eine einfache Angestellte, deren Einkommen die Pfändungsfreigrenzen nicht überschreitet.
Prüfer: Ganz genau. Gut gesehen.[2] Fangen wir mit Ansprüchen gegen Frau Ming an. Wie sieht es denn da aus?
Kandidat 3: Es könnte ein deliktischer Anspruch bestehen …
Prüfer: Das ist zutreffend, jedoch würde ich gern in der Prüfungsreihenfolge Vertrag, Vertrauen, Gesetz bleiben. Gibt es vertragliche Ansprüche?[3]
Kandidat 3: Ein vertraglicher Anspruch gegen Frau Ming dürfte ausscheiden, da Herr Wimmer lediglich ein Bewirtungsvertrag mit der „Asia-Imbiss“ GmbH geschlossen hat. Der Arbeitsvertrag von Frau Ming dürfte keinen Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten der jeweiligen Kunden darstellen, zumal diese eigene vertragliche Ansprüche gegen die GmbH haben können. Auch Ansprüche aus Vertrauenstatbeständen sind nicht ersichtlich.
Prüfer: Das stimmt. Wie sieht es mit gesetzlichen Ansprüchen aus?
Kandidat 4: Hier wäre nun ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB zu prüfen …
Prüfer: Sehen Sie noch speziellere Schuldverhältnisse, die vorrangig geprüft werde könnten?
Kandidat 4: Es könnte über einen Anspruch aus §§ 989, 990 BGB nachgedacht werden. Ein solcher Anspruch dürfte mangels Vorliegen eines Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses ebenfalls ausscheiden. Die Angestellte Frau Ming stellt lediglich eine Besitzdienerin gemäß § 855 BGB dar. Als Besitzer kommt somit nur die GmbH in Betracht.
Prüfer: Sehr gut. Kommt noch ein weiteres gesetzliches Schuldverhältnis in Betracht? Frau Ming hat die Tasche doch irgendwie „gefunden“.
Kandidat 1: Vielleicht das Fundverhältnis nach §§ 965 ff. BGB?
Prüfer: Sehr richtig. Und?
Kandidat 1: Ansprüche aus §§ 965 ff. i.V.m. § 280 Abs. 1 BGB scheiden ebenfalls aus, da kein gesetzliches Fundverhältnis entstanden ist. Die Handtasche war nicht herrenlos. Hinsichtlich der Gewahrsamsverhältnisse ist auf die tatsächliche Sachherrschaft nach den Anschauungen des täglichen Lebens abzustellen. Danach war der Imbissinhaber (Asia GmbH) mit seinem generellen Herrschaftswillen oder sogar noch Herr Wimmer, der sich nur kurz entfernt hatte und dem der Ort der Handtasche sogleich erinnerlich war, Gewahrsamsinhaber.
Prüfer: Das sehe ich ganz genauso. Bleibt also der § 823 Abs. 1 BGB. Besteht denn danach ein Anspruch gegen Frau Ming?
Kandidat 2: Als sonstiges Recht ist das Anwartschaftsrecht an dem iPhone im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB allgemein anerkannt. Mit der Herausgabe an die unbekannten Frauen dürfte Frau Ming eine zurechenbare rechtswidrige Ursache für den Schaden gesetzt haben. Zwar bestreitet sie den Vorwurf, jedoch dürfte im Rahmen der Beweisprognose der Polizeibeamte als neutraler Zeuge eine Überzeugung beim Gericht vermitteln können. Das Handeln dürfte fahrlässig und damit schuldhaft erfolgt sein. Irgendeine Art Legitimationsprüfung hätte durchgeführt werden müssen.
Prüfer: Haftet Frau Ming denn für jede Form der Fahrlässigkeit?[4]
Kandidat 4: Zwar liegt kein Fundverhältnis vor. Aufgrund der altruistischen Handlungsweise der Frau Ming könnte jedoch der gemilderte Haftungsmaßstab des § 968 BGB für den „Scheinfinder“ analog geltend.
Prüfer: Sehr guter Einfall. Was versteht man denn unter grober Fahrlässigkeit?
Kandidat 3:[5] Wenn Sorgfaltspflichten verletzt werden, die jedermann einleuchten müssen.
Prüfer: Und liegt grobe Fahrlässigkeit vor?
Kandidat 3: Irgendeine Art Legitimationsprüfung durchzuführen und dazu mal nach dem Inhalt der Tasche zu fragen, muss jedem einleuchten.
Prüfer: Gut. Könnte dem Anspruch sonst noch etwas entgegenstehen?
Kandidat 1: Es steht auch ein Mitverschulden des Herrn Wimmer gem. § 254 BGB im Raum, der durch das Liegenlassen eine Mitursache gesetzt hat.
Prüfer: Und würden Sie den Anspruch kürzen?
Kandidat 1: Vielleicht um 50 %?
Prüfer: Halte ich für gut vertretbar. Wie sieht es denn mit Ansprüchen gegen die Asia GmbH aus?
Kandidat 2: Ein vertraglicher Anspruch dürfte sich aus dem Bewirtungsvertrag als gemischten Vertrag mit Schwerpunkt im Werklieferungsvertrag gem. §§ 241, 651a, 280 Abs. 1 BGB wegen Nebenpflichtverletzung ergeben. Zumindest beim Auffinden entstehen besondere Obhutspflichten.
Prüfer: Gut vertretbar. Kommen noch weitere Anspruchsgrundlagen in Betracht?
Kandidat 2: Darüber hinaus kommt ein Anspruch aus § 831 BGB wegen fehlender Belehrung der Verrichtungsgehilfin in Betracht.
Prüfer: Gut, dann gibt es also nach unserer Lösung gegen Frau Ming und die Asia GmbH Ansprüche. Bei Frau Ming ist vielleicht wirtschaftlich nichts zu holen und möglicherweise ist der Anspruch ihr gegenüber nach Ansicht des zuständigen Gerichts analog § 968 BGB ausgeschlossen. Das Gericht kann das mit der groben Fahrlässigkeit schließlich auch anders beurteilen. Beide Ansprüche könnten gem. § 254 BGB hälftig zu kürzen sein. Welche Schritte leiten Sie ein?
Kandidat 3: Es sollte aufgrund der wirtschaftlichen Prognose in jedem Falle die Asia-Imbiss GmbH verklagt werden. Ein Abzug von Mitverschulden sollte nicht erfolgen, da insofern gute Chancen bestehen, dass das Gericht keine Kürzung gem. § 254 BGB vornimmt.
Prüfer: Finde ich vom Ausgangspunkt her richtig. Ob und inwieweit das Gericht eine Kürzung vornimmt, kann letztlich nicht genau vorausgesagt werden. Der Mandant kann über das Kostenrisiko bei höherem Streitwert und einer drohenden Verlustquote belehrt werden. Aber sollte nicht auch Frau Ming verklagt werden?
Kandidat 4: Ja. Es könnte zwar zu einer Klageabweisung wegen § 968 BGB analog kommen. Auch ist insofern die wirtschaftliche Realisierung der Forderung fraglich und es entstehen weitere Kostenrisiken, insbesondere wenn sie einen weiteren Rechtsanwalt mandatiert. Jedoch können beide Beklagte beim Amtsgericht Wedding im Gerichtsstand des § 32 ZPO verklagt werden. Vertragliche Ansprüche sind aufgrund des einheitlichen Streitgegenstandes insofern mit zu prüfen. Das ergibt sich aus § 17 Abs. 2 S. 1 GVG. Daher entstehen die Gerichtsgebühren auf Klägerseite nur einmal und es kommt nicht zu einer Erhöhung des Gebührenstreitwertes.
Prüfer: Die Klage gegen beide als Gesamtschuldner scheint tatsächlich der beste Weg zu sein. Sieht jemand noch einen weiteren Vorteil?
Kandidat 4: Außerdem kann so verhindert werden, dass Frau Ming als Zeugin im Prozess mit der GmbH aussagt, wodurch sich die Prozessrisiken bzgl. der Beweisaufnahme verbessern könnten. Daher stellt die Klage gegen beide Beklagte den deutlich sicheren Weg dar. Das leicht erhöhte Prozesskostenrisiko muss demgegenüber zurücktreten.
Prüfer: Das lässt sich hören. Letzte FrageVon den Raten an die Telekom AG sind erst 2/3 gezahlt. Kann der Mandant trotzdem den gesamten Schaden einklagen?
Kandidat 1: Solange der Mandant seine Raten zahlt, sollte er den Schaden von Sinn und Zweck des Schadensrechts voll geltend machen können.[6]
Prüfer: Das ist sehr gut vertretbar. Angenommen, die Rechtslage ist in diesem Punkt unklar. Vielleicht muss auch die Telekom AG klagen oder Leistung an die Telekom AG verlangt werden. Was könnte dem Mandanten geraten werden?
Kandidat 2: Er könnte sich den Anspruch der Telekom AG vorsorglich abtreten lassen.
Prüfer: Das ist eine überzeugende Antwort.[7] Vielen Dank an alle Kandidaten.[8]

Vertiefungshinweise
EBV beim Besitzdiener: BGHZ 8, 130 – Platzanweiserin im Kino
Haftungsmaßstab beim „Scheinfinder“: LG Frankfurt NJW 1956, 873 f.; Oechsler in Mü/Ko, 8. Aufl., 2020, § 968 Rn. 2
Gewahrsamsverhältnisse im Einkaufscenter: KG Berlin NJW-RR 2007, 239–241
Die mündliche Zivilrechtsprüfung im Assessorexamen

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