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4. Bei den Winkelbaums

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Die Fahrt durch die Stadt dauerte nicht lange. Schon nach kurzer Zeit sah Lila durch das Fenster die ihr gut bekannten Straßenzüge vorbeihuschen. Bei der Haltestelle „Pinienweg“ stiegen sie aus; das Haus der Winkelbaums war nur eine Querstraße entfernt. Lila hielt es allerdings für angebracht, noch einige Worte über ihre Familie zu verlieren, bevor sie Jane dort einschleppte.

„Bevor wir zu Hause ankommen, muss ich dich noch vor ein paar Sachen warnen. Zum Beispiel vor dem Essen… Papa ist Bibliothekar und liest eine Menge schräger Bücher – auch Kochbücher, wenn du verstehst, was ich meine. Aber meistens kann man es schon essen“, versuchte sie gleich, Jane zu beruhigen.

Jane nickte aber nur verständnisvoll.

„Und lass dich nicht von meinen Geschwistern ärgern. Vor allem nicht von meinem großen Bruder Alex. Er nervt einfach nur wie die Pest und versucht ständig, mich zu ärgern“, führte Lila ihre Erläuterungen fort. „Meine Schwester Eva ist eigentlich ok.“

„Und deine Mutter?“, fragte Jane.

„Arbeitet“, sagte Lila knapp.

Mittlerweile waren sie an der Straßenecke angekommen. Als sie in die ruhige Nebenstraße einbogen, stockte Jane.

„Ist es das...?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn.

„Ja, das Gelbe“, bestätigte Lila.

Sie spürte, dass ihre Wangen schon wieder leicht rot wurden. Das Haus der Winkelbaums in der Mitte der Straße war zweistöckig, hatte einen kleinen Garten sowie einen Geräteschuppen – und leuchtete sonnengelb. Lila hatte sich schon längst an den Anblick gewöhnt, aber für Besucher war die Farbe stark gewöhnungsbedürftig.

„War schon so, als wir eingezogen sind“, nuschelte Lila beschämt. Wieso musste sie eigentlich in der komischsten Familie der Welt aufwachsen?

Ihre Sorgen waren allerdings unbegründet.

„Ich finde es super“, sagte Jane. „Unser Haus ist grau – total langweilig.“

Wenn Lilas Laune nicht sowieso schon exzellent gewesen wäre, sie hätte jetzt noch einmal Auftrieb bekommen. Beschwingt stieß sie das Gartentor auf und sie durchquerten den kleinen Vorgarten. Sorgfältig achtete sie darauf, nicht auf die Beete mit Petersilie zu treten, die ihr Vater dort mühevoll angelegt hatte. Er war empfindlich, was das betraf. Vor der schwarz gestrichenen Tür, die in die gelbe Wand eingelassen war, blieb sie stehen und klingelte. Ihren Schlüssel hatte sie vergessen.

Nach wenigen Sekunden wurde die Tür geöffnet. Durch die Gläser seiner schmalen Brille starrte ihnen Papa entgegen. Er trug eine fleckige Küchenschürze über seinem karierten Hemd und sein langsam grau werdendes Haar stand wieder einmal in alle Richtungen ab. Ansonsten war Lila halbwegs zufrieden – immerhin trug er keines seiner unsäglichen Tweed-Jackets, die Mum so sehr verabscheute.

Papas Blick verharrte nur kurz auf seiner jüngsten Tochter, dann wanderte er weiter zu Jane. Sofort zeigte sich ein breites Lächeln auf seinem Gesicht.

„Oooh, ein Gast“, sagte er vergnügt. „Du musst in Johannas Klasse sein, schätze ich. Ich bin Arthur“, stellte er sich vor.

Er streckte Jane seine Hand hin, die verdutzt einschlug.

„Papa, das ist Jane“, stellte Lila sie vor. „Jane, wie du sicher schon mitbekommen hast, ist das mein Papa – der einzige Mensch, der sich weigert, mich wie alle anderen einfach Lila zu nennen.“ Der letzte Satz wurde von einem funkelnden Blick begleitet. Papa blickte sie tief getroffen an und griff sich spielerisch ans Herz.

„Aber dein Name ist nun mal Johanna – und ein außergewöhnlich schöner, wie ich finde“, flötete er, während er die beiden Mädchen nach drinnen führte. „Ihr könnt euch übrigens glücklich schätzen: Das Essen steht schon auf dem Tisch.“

Zum Lilas übergroßer Erleichterung stellten sich ihre Befürchtungen als unbegründet heraus. Allzu exotische Experimente hatte sich ihr Vater heute verkniffen: Es gab Curry. Gut, es war vielleicht etwas scharf gewürzt, aber es schmeckte besser als die Thunfischsoße, die er gestern zu einem Topf Spaghetti serviert hatte.

Während des Essens unterhielten sie sich über ihren Ausflug ins Museum. Papa hatte eine Schwäche für alte und antike Gegenstände und war ganz neidisch, dass sie die Ausstellung noch vor der offiziellen Eröffnung besuchen durften. Als Lila zugab, nicht sonderlich auf die Ausstellungsstücke geachtet zu haben, schnalzte er bedauernd mit der Zunge. Den Diebstahl der Zeituhr fand er hingegen weit weniger interessant als die beiden Mädchen. Ihre Spekulationen, wer wohl hinter dem Raub steckte, tat er mit einem lapidaren „Die Polizei wird ihn schon finden...“ ab.

Gerade als sich Jane und Lila einen zweiten Teller füllten, kam ihr Bruder in die Küche hereingeschlurft. Er trug wie üblich kurze Hosen und ein Tanktop, und hatte seine Haare mit Absicht so frisiert, dass sie aussahen, als wäre er gerade erst aufgestanden.

„Was gibt’s?“, fragte er laut und beäugte kritisch den Inhalt des auf dem Tisch stehenden Topfes.

„Reis mit Curry“, antwortete Papa.

Lila verdrehte nur noch die Augen. Alex ging dreimal die Woche ins Fitnessstudio und schien seit letztem Sommer von der Idee besessen zu sein, seinen Körper mit Muskeln aufzupumpen. Die ersten Resultate waren bescheiden gewesen, weswegen er beschlossen hatte, nichts mehr zu essen, auf dem nicht in dicken Lettern „Proteine“ geschrieben stand. Reis war allerdings in Ordnung und so häufte er sich eine riesige Portion davon auf seinen Teller und begann zu essen. Jane würdigte er keines Blickes.

„Wo isch Eva?“, nuschelte er stattdessen mit vollem Mund.

„Ich habe ihr einen Job in der Bücherei besorgt“, antwortete Arthur strahlend. „Sie hilft dort zwei Nachmittage in der Woche, die neuen Bücher einzusortieren. Sie kriegt einen ordentlichen Stundenlohn – würde dir auch nicht schaden.“

Diesmal verdrehten Alex und Lila synchron die Augen. Ihre Schwester Eva war einfach zu perfekt: fleißig, ordentlich, hervorragende Noten, ehrenamtliches Engagement – die Liste ließe sich ewig fortsetzen. Ihre beiden Geschwister reagierten allergisch darauf, wenn ihre Eltern sie ermutigten, sich doch öfter ein Beispiel an Eva zu nehmen.

Daher wechselte Lila lieber schnell das Thema und erzählte Papa, dass Janes Vater im Stadtrat saß. Den Rest der Zeit unterhielten sie sich über die Arbeit eines Lokalpolitikers und mutmaßten, welche Attraktionen wohl für das große Sommerfest nächste Woche geplant waren. Die Vorbereitungen dafür liefen schon ewig und es hieß, dass zum Abschluss ein gigantisches Feuerwerk geplant war. Erst nach über einer Stunde fiel Jane auf, dass sie ja noch zum Volleyball-Training musste und sie verabschiedete sich freundlich. Papas Frage, ob sie noch eine seiner berühmt-berüchtigten Zitronenschnitten zum Nachtisch mochte, verneinte sie, da Lila hinter seinem Rücken hektisch den Kopf schüttelte. Lila und Jane verabredeten sich für den nächsten Tag auf dem Schulhof, dann machte Jane sich auf zur Bushaltestelle.

„Was für ein nettes Mädchen“, sagte Papa, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

„Ja“, gab Lila knapp zurück. Es war tatsächlich ein Glück gewesen, dass sie heute Morgen in der Schule zufällig nebeneinander gesessen hatten. Vielleicht würde morgen der erste Tag seit langem sein, an dem sie gerne zur Schule ging.

„Wann kommt Mum?“, fragte sie nach einer Pause.

„Spät. Vielleicht so gegen acht. Sie hat wieder Ärger in der Kanzlei“, erklärte Papa.

Lila nickte wissend. Ihre Mutter war Anwältin und arbeitete sehr viel – an schlechten Tagen bis spät in die Nacht. Acht Uhr bedeutete zwar, dass sie es nicht zum Abendessen schaffen würde, aber es war besser als nichts.

Alex und Lila halfen ihrem Vater noch dabei, die Küche aufzuräumen, dann verschwanden sie beide nach oben. Die Zimmer der Kinder lagen im ersten Stock.

Kaum hatten sie oben den Treppenabsatz erreicht, setze Alex den Tonfall auf, der Lila regelmäßig in den Wahnsinn trieb.

„Na, wen hast du denn da mitgeschleppt?“, säuselte er hinter ihr. „Am ersten Tag schon jemanden gefunden, der dich mag. Nicht schlecht – ich hätte getippt, dass es mindestens drei Wochen dauert.“

Sofort stieg Lila Zornesröte ins Gesicht und sie drehte sich um. Ihr Bruder meinte es nicht böse – meistens zumindest. In den meisten Fällen wollte er sie nur ärgern, was ihm leider ziemlich gut gelang.

„Was denkst du dir eigentlich, du Troll? Immerhin schaufele ich mir nicht kiloweise Eiweißriegel in den Mund, damit die coolen Jungs mich mögen“, fauchte sie zurück.

Das war eigentlich ein ziemlicher guter Konter, fand Lila, aber Alex ging gar nicht weiter darauf ein, sondern verschwand in seinem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Er hatte sein Ziel erreicht, Lila auf die Palme zu bringen – das fand er anscheinend lustig.

Immer noch wütend knallte Lila ihre Zimmertür hinter sich zu und ließ sich auf ihr Bett fallen, wobei sie vorsichtig um diverse Bücher- und Klamottenstapel auf dem Boden herum manövrierte. Ältere Brüder waren einfach die Hölle, dachte sie. Vor allem, wenn sie unbedingt zur coolsten Clique der Schule gehören wollten und sich nur noch von Eiweißriegeln ernährten. Auf Dauer konnte das nicht gesund sein, das hatte sie schon immer gewusst.

„Jaaa, sicher, ich habe keine Freunde und niemand mag mich“, grummelte sie laut in das leere Zimmer hinein. „Was denkt der sich eigentlich?“

Eine Antwort bekam sie selbstverständlich nicht, zumindest nicht sofort. Missmutig legte sie sich hin, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Und dann, gerade als ihr Blick zu dem lebensgroßen Sherlock-Holmes-Poster an der Wand herüber wanderte, passierte es: Es gab einen lauten Knall und etwas Weiches berührte sie am Bein. Erschrocken sprang Lila auf und sah sich hektisch nach der Quelle des Lärms um.

Nach einer Sekunde, in der ihr Blick durch das Chaos in ihrem Zimmer gehuscht war, erkannte sie, was sie gerade an ihrem Bein gespürt hatte: ein lebendiges, blaues Fellknäuel, das auf ihrem Bett herumzappelte. Als dieses ihren Blick bemerkte, blieb es plötzlich ruhig liegen.

„Hallo“, murmelte es leise.

Lila glaubte, sie sei verrückt geworden.

Lila Winkelbaum und das Geheimnis der Zeituhr

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