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5. Einsam und verlassen?

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Nein, sie war nicht verrückt geworden. Das blaue Fellknäuel hatte unzweifelhaft gesprochen. Aber vielleicht träumte sie ja? Sie zwickte sich in den Unterarm. Wieder Fehlanzeige. Sie musste an einen Spruch denken, den Sherlock Holmes in einem ihrer Bücher gesagt hatte, als er einem scheinbar unlösbaren Rätsel gegenüberstand: „Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein – so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.“

Und wenn sie nicht verrückt geworden war und nicht träumte, blieb als Wahrheit nur übrig, dass dieses Ding tatsächlich geradewegs aus dem Nichts aufgetaucht war. Aber woher? Und wie? Sie schüttelte den Kopf. Erst einmal musste sie herausfinden, mit wem sie es hier überhaupt zu tun hatte.

„Entschuldigung, aber was genau bist du? Und wieso konntest du hier einfach so auftauchen?“, fragte sie und beugte sich zu ihrem seltsamen Besucher herunter.

Das Fellknäuel antwortete nicht sofort. Stattdessen blickte es sich hektisch im Zimmer um und schien nach etwas zu suchen. Lila nutzte die Zeit, um es sich etwas genauer anzusehen. Viel zu entdecken gab es da allerdings nicht: Das Wesen war vielleicht so groß wie ihre Hand und am ganzen Körper mit blauem Fell bedeckt. Eine Trennung zwischen Kopf und Körper konnte sie nicht erkennen. Im Verhältnis zu seinem Körper hatte es große Augen, aber nur einen sehr kleinen Mund. An seinen winzigen Händchen und Füßchen baumelten je vier knubblige Finger und Zehen. Lila fand, es sah aus wie eine Miniaturversion des Krümelmonsters aus der Sesamstraße.

Unterdessen schien das Fellknäuel sich daran zu erinnern, weswegen es eigentlich hergekommen war. Das kleine Wesen strich sich das Fell glatt und plusterte sich auf. Dann fing es mit einer piepsigen Stimme an zu sprechen.

„Die Tage der Einsamkeit sind vorbei! Von nun an musst du nie wieder alleine sein. Ab sofort werde ich als dein kleiner Freund für dich da sein. Ich komme aus der fünften Dimension und wurde von der Agentur der kleinen Freunde geschickt, die kein einsames Kind auf der Erde vergisst. Jahrelanges Training und Vorbereitung haben mich zum perfekten Begleiter aller Altersklassen gemacht. Wir beide werden eine Menge Spaß miteinander haben. Eine magische Zeit voller Überraschungen erwartet dich!“

Damit beendete es seinen Monolog. Das alles hatte extrem merkwürdig geklungen – wie ein auswendig gelernter Text, den man in einer Prüfung herunterleiern musste. Oder wie ein Werbetext. Und das war nur die Form gewesen. Was das Fellknäuel da gesagt hatte, war schließlich noch viel merkwürdiger gewesen.

Vielleicht war das nur wieder einer von Alex‘ dämlichen Scherzen, überlegte sie. Aber nein – das war viel zu raffiniert und aufwendig, um die Handschrift ihres Bruders zu tragen. Wieder musste sie an das Zitat von Sherlock Holmes denken. Sie war nicht verrückt, sie träumte nicht und es war keiner von Alex‘ Streichen – ihr Bruder hatte sowieso viel zu wenig Fantasie, um sich so etwas auszudenken. Also blieb nur eine Möglichkeit übrig, schlussfolgerte sie: Es war alles die Wahrheit!

„Cool“, hauchte sie. Dann fiel ihr etwas ein. „Das ist ja alles schön und gut, kleiner Freund. Die Sache ist nur die: Ich bin eigentlich gar nicht einsam. Ein paar Freundinnen habe ich schon. Eine war vorhin sogar zum Essen da.“

Das kleine Wesen stutzte und seine Augen wurden noch größer. Es sah aus, als ob eine Welt für ihn zusammengebrochen wäre.

„Aber, aber, wie ist das möglich?“, stammelte es. „Nein, das kann nicht sein. Ich habe doch genau gehört, wie du gesagt hast, dass du keine Freunde hast und dass niemand dich mag!“

„Oh Mann, das war doch nur ein Scherz“, stöhnte Lila und klatschte sich die flache Hand gegen die Stirn. „Ehrlich, ich habe Freunde.“

Für ein paar Sekunden schwieg das blaue Wesen. „Nun ja, hehe, auch die Agentur macht mal einen Fehler“, hüstelte es. „Vielleicht bin ich für eine Sekunde eingenickt und habe deswegen die Begleitumstände verpasst. Das muss es gewesen sein.“ Wieder machte es eine Pause. „Aber einerlei. Nun, wo ich schon mal hier bin, gibt es keinen Rückweg mehr in die fünfte Dimension. Also bleibe ich einfach bei dir.“

Das kleine Wesen lächelte Lila an und sie konnte nicht anders, als breit zu grinsen. Ein kleiner Freund ganz für sie alleine hörte sich cool an – vor allem, wenn man bedachte, dass er anscheinend über einige coole Fähigkeiten verfügte, wie zum Beispiel einfach so aus dem Nichts aufzutauchen. Trotzdem hatte sie noch dutzende Fragen.

„Wie heißt du denn eigentlich?“, fragte sie als erstes.

Jetzt war das blaue Wesen an der Reihe, sich mit der kleinen Hand gegen die Stirn zu schlagen.

„Oh je, hab ich ja total vergessen. Der Name kommt doch gleich als erstes. Das kriegen wir schon am ersten Tag beigebracht!“

Wieder blickte es sich im Zimmer um. Schließlich blieb sein Blick an einem Buch in ihrem Regal hängen: Hugo Cabret . Ein stinklangweiliger Wälzer. Lila hatte es von Papa bekommen und es noch nicht einmal angefasst. „Du kannst mich Hugo nennen. Wir sollen einen Namen aus der Umgebung des Kindes auswählen“, erklärte er.

„Ich mag den Namen“, meinte Lila und ließ sich wieder aufs Bett fallen. Hugo setzte sie vorsichtig auf ihren Schoß. Ihr fiel wieder ein, was er vorhin noch so alles gesagt hatte. „Du hast doch vorhin irgendwas von magischen Überraschungen erzählt. Heißt das, du kannst zaubern und sowas? Wie so ein Hauself bei Harry Potter?“

Hugo zuckte bei diesen Worten zusammen und verzog das Gesicht.

„Magie bitteschön“, sagte er. „Ich kann den Buchstaben Z nicht ausstehen, also verwende ihn bitte nach Möglichkeit nicht. Es gibt schließlich noch genügend andere… Und im Übrigen funktioniert das nicht einfach so: Ich kann nur dann Magie wirken, wenn du dich in Gefahr befindest. Ist ein Vorsorge-Mechanismus.“

„Ok“, meinte Lila ein ganz klein wenig enttäuscht. „Und warum magst du den Buchstaben Z nicht?“

Schon die Erwähnung des Buchstabens reichte aus, um Hugo erneut zusammenzucken zu lassen. Er warf die winzigen Ärmchen in die Luft und gestikulierte wild damit herum. „Schau doch mal, was für fürchterliche Wörter mit Z beginnen. Zerstörung, Zeitlimit und Zeckenbiss etwa. Nein, danke!“

Lila musste lachen. Anscheinend war ihr kleiner Freund ein bisschen merkwürdig. Dennoch merkte sie, dass sie ihn bereits lieb gewonnen hatte. Er sah mit seinem zerzausten Fell einfach zu knuffig aus und außerdem hatte er sie schon mehrfach zum Lachen gebracht. Vielleicht war er ein bisschen verwirrt, aber das machte Lila nichts aus.

Den Rest des Tages lagen die beiden auf dem Bett herum und unterhielten sich über dieses und jenes. Lila war besonders an der sogenannten fünften Dimension interessiert, aber Hugo meinte, er dürfe darüber nichts erzählen und außerdem erinnere er sich schlecht. Lila glaubte ihm das zwar nicht, aber sie fragte nicht weiter nach.

Draußen wurde es langsam dunkel und Lila wurde zunehmend müder. Das Abendessen hatte sie unter dem Vorwand sausen lassen, sie habe keinen Hunger.

Schließlich machte sie sich fertig für die Nacht und verschwand unter ihrer Bettdecke. Hugo hatte sich währenddessen auf ihrem Nachttisch zusammengerollt, wobei er eine ihrer Socken als Kopfkissen benutzte. Er gähnte und streckte seine knuffigen Fäustchen in die Luft, was in Lilas Augen unglaublich süß aussah.

„Willst du wirklich hier schlafen?“, fragte Lila, bevor sie das Licht löschte.

„Aber ja“, nuschelte Hugo müde. „Möglichst nahe bei dir. Von nun an weiche ich nicht mehr von deiner Seite.“

Lila löschte das Licht und schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein.

Lila Winkelbaum und das Geheimnis der Zeituhr

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