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Kapitel 1
ОглавлениеMillenniumsnacht,
Eisland
Die Geschichte begann mit dem letzten Tag jenen Jahres. Emil Siegfriedsson, der einen langen rotgrauen Bart im Gesicht trug, mochte Silvester nicht. Man könnte gar behaupten, dass er es hasste.
Ein Teil der Leute wurde an diesem besonderen Tag schwerfällig, weil ihnen just dann immer wieder bewusst wurde, dass das Leben vergänglich war. Dass Sommer zu Winter, dass neu zu alt und Leben zu Tod wurde. Das mochte Emil Siegfriedsson nicht. Der andere Teil der Leute, der nicht schwerfällig wurde, drehte an diesem besonderen Tag im Jahr vollkommen durch. Sie schossen Unmengen an Goldmarkmünzen in die Luft um sie dann als Raketen in bunten Farben vom Himmel regnen zu lassen. Oder sie warfen Knaller in Menschenmengen und erfreuten sich am Schreck der anderen. Auch das mochte Emil Siegfriedsson nicht.
An jenem Silvestertag schienen die Leute entweder noch schwerfälliger zu sein oder noch mehr durchzudrehen. Schließlich war es ein besonderes Silvester – das Millenniumssilvester, in dessen Nacht ein neues Jahrtausend eingeläutet wurde. Wenn man nun das Datum schreiben würde, begann man die Jahresangabe mit einer neuen Zahl. Nicht jedem Menschen ist es vergönnt dieses Ereignis in seinem irdischen Dasein mitzuerleben. Vielleicht waren viele Erdenbewohner deshalb so aufgewühlt und aufgeregt. Emil Siegfriedsson war es nicht.
Um die Ruhe nicht zu verlieren, beschloss Emil Siegfriedsson seine Wohnung in der kleinen Stadt Rauchbucht zu verlassen und zu seinem Ferienhaus mitten auf dem Land der Insel Eislands aufzubrechen.
Eisland war eine mittelgroße Insel im Nordmeer, im hohen Norden des Erdballs. Die Sommer waren von kurzer Dauer, aber großer Intensität. Denn im Sommer ging die Sonne nicht unter und es war rund um die Uhr hell. In dieser kurzen Periode musste alles gedeihen um im darauffolgenden Jahr wieder sprießen zu können. Denn die Winter waren umso härter. Im Winter schien die Sonne lediglich für wenige Stunden am Tag und es war noch viel kälter als es im Sommer eh schon war. Meist fiel Schnee in dicken Schichten und es stürmte oft. Die Pflanzenwelt war karg. Die vielen Berge waren entweder von grünem Moos überzogen oder es fehlte gleich an jedwedem Bewuchs, sodass man einstweilen denken konnte, man befände sich auf dem Mond. Überall sprudelte und brodelte es aus heißen Quellen. Rauch stieg gen Himmel auf. Viele Eisländer nutzten jene Quellen um ein heißes Bad in der kühlen Landschaft zu nehmen, sich aufzuwärmen und mit Landsleuten zu plauschen. Bäume wurden kaum größer als die größten Bewohner Eislands. Dennoch verbreitete gerade diese Schlichtheit immense Schönheit.
Für den Alltag war die kleine Wohnung von Emil Siegfriedsson sehr gut geeignet. Sie lag direkt in der belebten Einkaufsstraße Rauchbuchts. Nur wenige Schritte über die Treppenstufen aus dem zweiten Stock hinab und Emil Siegfriedsson konnte seine Einkaufstüten im nahegelegenen Laden füllen, konnte einen Tee in einem Café trinken und mit Bekannten plauschen.
Doch an jenem Silvestertag war ihm in der Nähe seiner Wohnung zu viel Trubel und Heckmeck. Er packte eine Reisetasche und marschierte zu seinem Auto, welches ein Stück fernab seiner Unterkunft stand. Emil Siegfriedsson war einer der wenigen Menschen auf Eisland, der ein Auto besaß. Aber auch nur, weil er es sich selbst zusammengeschustert hatte. Er war nämlich ein findiges Kerlchen.
Es war vier Uhr nachmittags und wie gewöhnlich zu dieser Jahreszeit schon dunkel. Eingehüllt in dicken Winterjacken, mit Pudelmütze, Schal und Handschuhe tummelten sich bereits zu dieser Tageszeit viele Menschen auf der Straße. Einige suchten ein Lokal auf um die Zeit des Wartens bis Mitternacht zu überbrücken. Wieder andere bereiteten schon ganz minutiös ihre Feuerwerkskörper vor um die Leute und sich selbst zum Staunen zu bringen. Es herrschte Gewusel und Gemurmel.
Emil Siegfriedsson boxte sich durch die Menschenmenge und musste, als er endlich in seinem Auto saß, einmal tief durchatmen. Er fuhr sich mit seiner Hand über sein faltiges Gesicht. Er mochte Menschen – keine Frage. Doch mochte er nicht so viele auf einem Haufen. Er startete den Motor seines kleinen Autos, welches mit einem lauten Brummen aus dem Schlaf erwachte. Schließlich tuckerte er durch die Straßen bis zum Ortsende Rauchbuchts. Immer wieder kreuzten Kutschen, vor denen kleine Pferde gespannt waren, seinen Weg. Es war mühsam das kleine Örtchen zu verlassen und dabei keinen Unfall zu verursachen. Mochten an normalen Tagen gerade mal fünftausend Menschen in den Holzhäusern Rauchbuchts wohnen, war es an jenem Silvestertag mindestens die doppelte Menge.
Es fiel leichter Regen, den der Scheibenwischer immer wieder aufs Neue von der Frontscheibe verjagte. Emil Siegfriedsson drehte die Heizung auf und rieb sich die Hände warm. Jedes Mal wenn er auf der einzigen asphaltierten Straße der Insel lange geradeaus fuhr, ließ er seinen Blick nach rechts und links abschweifen und erfreute sich der himmlischen Ruhe der Landschaft. Moos- und grasbedeckte Hügel, die nun durch ihre nassen Tropfen im Mondschein glänzten. „So ist’s schön.“ Dachte sich der alte Mann.
Noch einige wenige Kilometer fuhr er so träumend weiter bis er um eine scharfe Kurve um einen Berg herum bog und durch grelles Licht geblendet wurde. Instinktiv schmiss er seinen Fuß auf die Bremse und hob seine rechte Hand zum Schutz vor die Augen. Das Auto quietschte und schlängelte bis es zum Stehen kam. Als erstes, nach dem plötzlichen Schreck, schaute Emil Siegfriedsson in den Rückspiegel um sich zu vergewissern, dass ihm kein weiteres Auto aufgefahren war – obwohl ein solches Szenario sehr unwahrscheinlich war. Im Rückspiegel war, wie zu erwarten, alles schwarz. Anschließend manövrierte Emil Siegfriedsson sein Gefährt an den Straßenrand und stieg aus, wobei er die Tür so leise wie möglich schloss. Er wollte kein Aufsehen erregen.
Riesige Baustrahler leuchteten eine riesige, aus großen Granitsteinen gemachte, Mauer an. Die Mauer war allerdings noch nicht fertig, so wie es Emil Siegfriedsson einschätzte, denn überall wimmelte es von emsigen Arbeitern. Kräne hievten neue große Steine hoch und platzierten sie auf die eh schon große Mauer. Es klopfte und hämmerte.
Auf einem Mal fiel Emil Siegfriedsson ein immenses Banner auf, welches dafür Werbung machte, dass hier eine neue Unterkunft für das Steinvolk entstehen würde. Das interessierte ihn. Er gehörte zu den Eisländern, die an die Existenz des Steinvolks glaubte. Folglich marschierte er Richtung Mauer.
Auf Eisland gab es den Aberglauben, welcher besagte, dass es unsichtbare Leute gab, die in Steinen wohnen würden. Das sogenannte Steinvolk oder im Volksmund auch die Unsichtbaren genannt. Um sie rankten sich unzählige Legenden und Mythen. Und nichts spaltete die Eisländer so sehr wie der Glaube an die Existenz jenen Volkes. Manche taten sie als reinen Humbug ab, andere hingegen verdienten ihren Lebensunterhalt mit ihnen, als Steinvolkkorrespondenten beispielsweise.
Emil Siegfriedsson steuerte den ersten Bauarbeiter an, den er auf seinem Weg kreuzte. Dieser stand mit dem Rücken zu ihm und war ganz vertieft in irgendwelche Dokumente, die er in der Hand hielt. Emil Siegfriedsson tippte ihm auf die Schulter. Der Bauarbeiter zuckte zusammen und stieß ein Grunzen des Erschreckens aus.
„Was machen Sie um Gottes Namen hier?“ Fuhr ihn der Arbeiter an.
Emil Siegfriedsson war aufgrund der Forschheit seines Gegenübers erstaunt und schaute ihn deshalb erstmal nur mit großen Augen an.
Derweil fuhr der Bauarbeiter fort. „Es ist doch Silvester. Sind Sie gar nicht in der Stadt um sich das große Feuerwerk anzuschauen?“ Mittlerweile hatte er sich ein Stück weit gefangen.
„Nein, das ist nichts für mich.“ Erwiderte Emil Siegfriedsson. „Warum sind Sie nicht in Rauchbucht, sondern müssen hier an diesem Feiertag arbeiten? Und was wird das, wenn es fertig ist? Also wenn ich fragen darf.“
Der Bauarbeiter schmatzte kurz und zuppelte sich am Helm. So als wenn er einen Augenblick darüber nachdenken musste, was er sagen solle und was lieber nicht. „Naja, das ist so.“ Begann er und machte eine kurze Pause. „Das hier wird ein neuer, riesiger Wohnkomplex für das Steinvolk. Die regierenden Leute wollen sie dazu bewegen, dass sie sich alle hier gesammelt in den Steinen niederlassen, sodass es z. B. weniger Hurteleien im Straßenbau gibt. Wovon wir alle was hätten. Also wir und sie auch.“
Emil Siegfriedsson nickte, denn er kannte die Problematik im Straßenbau. Ein ums andere Mal mussten gerade verlaufende Straßen eine zusätzliche Kurve um einen Stein machen, weil die Steinvolkkorrespondenten sich mit den versteckten Leuten nicht auf eine Umsiedlung ihres Steines einigen konnten.
Der Bauarbeiter fuhr fort. „Wir müssen diese Nacht noch fertig werden. Schließlich zieht das Steinvolk zu Neujahr immer um.“
Erneut nickte Emil Siegfriedsson. Erst dann fielen ihm die unzähligen Kerzen auf, die bis weit in die Dunkelheit reichten und alle zur Mauer führten. Durch das grelle Licht der Baustrahler hatte er sie erst gar nicht wahrgenommen. Kerzen zu Neujahr aufzustellen war eine Tradition der Eisländer. Damit wollten sie den versteckten Leuten bei der Suche nach einer neuen Bleibe in der Dunkelheit helfen.
„Aha. Dankeschön für die Auskunft.“ Sprach Emil Siegfriedsson und verabschiedete sich beim Bauarbeiter. Er wandte sich um, ging zu seinem Auto und dachte darüber nach, was er von der ganzen Angelegenheit halten sollte. Dabei bekam er nicht mehr mit wie ihm der Bauarbeiter einen argwöhnischen Blick hinterher warf. Denn jener hatte einst die Anweisung erhalten ja nicht zu viel Aufsehen um den Bau der Mauer zu verbreiten und bloß nicht zu viel Auskunft zu geben.
Als Emil Siegfriedsson an seinem Ferienhaus ankam, hatte es aufgehört zu regnen und die Sterne strahlten von einem wolkenfreien Himmel auf die Erde herab. Er ging durch das nasse Moos über die Terrasse nach drinnen ins Haus und wunderte sich darüber, dass es immer noch keinen Schnee gegeben hatte. Im Wohnzimmer angekommen, holte er eine Kerze aus dem Schrank und packte eine Packung Streichhölzer in seine Hosentasche. Anschließend begab er sich wieder auf den Weg nach draußen.
Mitten auf der unebenen Wiese vor seinem Hof befand sich ein mittelgroßer, grauer Stein. Er war mit einer bunt bemalten Tür verziert. Emil Siegfriedsson kniete nieder und zündete ein Streichholz an. Jetzt war auch er schwerfällig. Es würde ihn traurig stimmen, wenn das Steinvolk aus seinem Vorgarten verschwände. Doch für den Fall der Fälle wollte er ihnen nicht im Wege stehen. Es ist nämlich besser im Umgang mit den versteckten Leuten nicht das Kriegsbeil auszugraben, da sie einem sonst das Leben schwer machen konnten. Und so brachte der alte Mann die Kerze zum Brennen.
Just in jenem Moment flackerten am Himmel grüne Lichterschwaden auf und vollzogen Tänze, in denen sie sich zu wabernden Wolken verbanden um dann wieder in nebulöse Formen überzugehen. Polarlichter. Emil Siegfriedsson zog seine dickste Daunenjacke an und schlüpfte in seinen Schlafsack um die Milleniumsnacht mit diesem natürlichen Feuerwerk zu feiern. Er schlummerte kurz vor der Jahrtausendwende ins Reich der Träume ein.
Ein eisiger Schauer der Kälte durchzog Emil Siegfriedsson. Er schlug die Augen auf und blickte in die Dunkelheit. Mit einem lauten Gähnen und weit aufgerissenem Mund versuchte er zu sich zu kommen. Er schaute auf seine Zeigeruhr. Es war Punkt zwölf. „Genau richtig zum neuen Jahr.“ Dachte er sich. Er blickte in die Ferne, doch konnte er das Feuerwerk von Rauchbucht nicht sehen.
Also ging er ins Haus um sich einen heißen Tee zu brühen. Der Anrufbeantworter seines selbstgebauten Telefons blinkte und zeigte verpasste Anrufe an. Langsam trottete er dem Gerät entgegen und drückte auf die Abspieltaste um sich die Neujahrswünsche anzuhören.
„Emil bei uns ist es schon halb zehn und es wird nicht hell. Es ist stockdunkle Nacht. Wie ist es bei dir?“
„Emil in den Nachrichten verlieren Sie kein Wort zu der Dunkelheit. Melde dich bitte bei mir!“
„Emil, geht es dir gut? Du meldest dich ja gar nicht.“
„Emil, langsam mache ich mir Sorgen um dich. Das ist doch sonst nicht deine Art. Oh mein Gott, was passiert hier nur?“
Während der Anrufbeantworter noch weitere Nachrichten von seiner Schwester aus Borelien abspielte, verfiel Emil Siegfriedsson ins Grübeln. Er schaute auf seine Armbanduhr. Sollte es tatsächlich schon der erste Tag des neuen Jahres sein? Dann war es jetzt zwölf Uhr mittags und er hatte die Silvesternacht verschlafen.
Emil Siegfriedsson marschierte zum Fenster und schob die Gardine ein Stück zur Seite. Auch wenn es im Winter auf Eisland nur wenige Sonnenstunden gab, gab es sie doch. Und jetzt, wenn es Mittag war, hätte es zumindest ein bisschen hell sein müssen. Emil Siegfriedsson wischte sich noch einmal mit der Faust den Schlaf aus den Augen. Doch an der Dunkelheit änderte es nichts. Es war und blieb auch auf Eisland dunkel.