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2. Kapitel.

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Inhaltsverzeichnis

Kurz vor sieben Uhr kamen wir am Billetschalter in der Vorhalle des Zirkus an. Viele Personen drängten sich mit uns durch einen schmalen Gang, von dem aus wir in einen großen, halbkreisförmigen Saal gelangten, dessen etwa hundert Fuß langer und achtzig Fuß breiter innerer Raum mit Sand und Sägemehl bedeckt und auf drei Seiten von amphitheatralisch ansteigenden Sitzen umgeben war. Ein leichtes, hölzernes Geländer trennte die Arena von den untersten Bänken, hätte aber schwerlich den dort Sitzenden wirklichen Schutz gewährt, wenn etwa ein widerspenstiges Pferd sich einfallen ließ, zwischen die Zuschauer hineinzusprengen. Doch waren diese Plätze ebensogut besetzt wie die oberen Reihen. Das Publikum bestand zwar größtenteils aus Kennern und Liebhabern von Pferden, doch fehlte es auch nicht an andern Zuschauern, und die sogenannte gute Gesellschaft war zahlreich vertreten.

Unsere Plätze befanden sich auf einer der oberen Sitzreihen; wir hatten sie kaum eingenommen, als der Direktor mit der Peitsche in der Hand in die Mitte der Arena trat und sich gegen die Anwesenden verneigte. Er war groß, breitschulterig, von starkem Muskelbau, jedoch in seinen Bewegungen leicht und behende, den ziemlich kleinen Kopf umgab blondes, lockiges Haar, er hatte hübsche Gesichtszüge, scharfblickende Augen, eine etwas gebogene Nase und einen langen Schnurrbart. Nach kurzer Ansprache, in welcher er sich über die Kunst des Bändigens und Zureitens der Pferde verbreitete, gab er dem Stallmeister einen Wink, mit der Vorstellung zu beginnen.

In diesem Augenblick entstand ein Geräusch auf der linken Seite der Halle. Eine Dame in dunkelfarbiger Kleidung kam den Gang herunter, ihr folgte ein junger Mann in tadellosem Gesellschaftsanzug, und beide nahmen in der vordersten Reihe nahe am Geländer Platz. Die Dame war verschleiert, ich erkannte sie jedoch sofort, es war die geheimnisvolle Unbekannte, die wir am Nachmittag im Kabriolett gesehen. Mein Gefährte, der sie zu gleicher Zeit bemerkte, zog die Augenbrauen in die Höhe.

Wahrhaftig, ein Wink des Schicksals, sagte ich, daß du mir mitteilen sollst, wer sie ist und was du von ihr weißt! Also nur heraus damit, ich bin ganz Ohr.

Eines nach dem andern, erwiderte der Journalist, oder noch besser, ich lasse dich wählen. Willst du wissen, wer sie ist, so stelle ich dich ihr vor und überlasse dich dann deinem eigenen guten Glück. Willst du aber von mir Näheres über sie erfahren, so kann das nur unter einer Bedingung geschehen.

Und die wäre?

Daß du dich verpflichtest, weder nach ihrem wahren Namen zu fragen, noch ihre persönliche Bekanntschaft zu machen. Nur dann kann ich's vor meinem Gewissen verantworten. Bis zur Pause hast du Zeit, dich zu entschließen – aber jetzt laß mich in Ruhe, ich will sehen, wie er mit der Stute dort fertig wird.

Die Stute war ein schönes Tier, aber, wie ihr Eigentümer behauptete, vollkommen unbrauchbar, weil sie die Unsitte hatte, bei der geringsten Veranlassung scheu zu werden. Der Pferdebändiger, welcher vollständig ruhig und gelassen blieb, ja eine unerschütterliche Festigkeit zeigte, trat dicht vor die Stute hin und blickte ihr starr in die Augen. Nach wenigen Sekunden trat er einen Schritt rückwärts, ohne den Blick von ihr abzuwenden, und sie folgte ihm wie ein Hund, wohin er ging. Nun brachte man einen Sattelgurt und eine Leine herbei; das rechte Vorderbein des Tieres wurde festgebunden, und nach kurzem Kampfe gelang es dem Tierbändiger, das Pferd zu Boden zu werfen. Auf der Weiche der Stute sitzend erklärte er nun seiner Zuhörerschaft Grund und Zweck dieses Verfahrens. Dann ließ er das Tier wieder aufstehen und trieb es in der Arena im Kreise herum; er selbst ging hinterdrein, in einer Hand die Zügel, in der andern Leine und Peitsche haltend, während die Diener, um die Stute zu erschrecken, allerlei Papierstreifen und andere Gegenstände in der Luft schwenkten; sobald sie aber Miene machte, scheu zu werden, brachte ein plötzliches Anziehen der Leine sie zitternd auf die Kniee nieder. Zuletzt ertönten Trommeln und Trompeten vor den Ohren des geängstigten Tieres, Blechpfannen klapperten, Pistolen knallten auf allen Seiten, bis die Stute nach kurzem aber heftigem Kampfe allen Widerstand aufgab und ihre Furcht überwand. Nun schirrte man die Besiegte an einen Wagen; von rechts und links erhob sich ein wahrer Höllenlärm, auf jede Weise versuchte man sie in Schrecken zu setzen. Sie aber ging ruhig und unbeirrt ihres Weges und wurde unter dem donnernden Beifall der Zuschauer aus der Arena geführt.

Ich muß gestehen, daß ich der Vorstellung nur mit geteilter Aufmerksamkeit gefolgt war; meine Blicke kehrten immer wieder zu der Dame im dunklen Kleide zurück. Sie saß unbeweglich da, die Hände ruhten lässig in ihrem Schoß; sie schien den Vorgängen in der Arena kein größeres Interesse zu schenken als dem unausgesetzten aber gewiß ganz oberflächlichen Geplauder ihres geschniegelten Begleiters. Es mochte wohl nicht leicht sein, diese Frau aus ihrer Teilnahmlosigkeit aufzurütteln; sie sah aus, als gäbe es für sie nichts Neues unter der Sonne, als habe sie alle Illusionen hinter sich und suche nur nach irgend etwas, das ihr eine Empfindung entlocken, sie in Aufregung versetzen könne. Wenn sie zu letzterem Zweck hiehergekommen war, hatte sie sich – das sah man ihr an – entschieden verrechnet. Schon war sie im Begriff, den Ort wieder zu verlassen, gab jedoch auf Zureden ihres Begleiters, der ihr vielleicht noch etwas Besonderes in Aussicht stellte, den Entschluß wieder auf und verharrte auf ihrem Sitz, wie jemand, der sich in das Unvermeidliche fügt.

Das nächste Tier, das den Zuschauern vorgeführt wurde, war ein kleines Bergpferd, das die Eigenheit hatte, nach rückwärts gehen zu wollen. Sein Besitzer berichtete, er sei einmal auf dem Lande zur Kirche gefahren und habe das Pferd in einem nahen Wagenschuppen eingestellt. Nach beendetem Gottesdienst wollte er es wieder herausholen, konnte es aber in dem engen Raum nicht wenden; nun sei es durch nichts in der Welt dazu zu bringen gewesen, rückwärts herauszukommen. Schließlich habe man die Rückwand des Schuppens abbrechen müssen, um es durch die Oeffnung hinauszuführen. An diesem Problem mußte sich der Pferdebändiger wohl zwanzig Minuten lang abarbeiten. Als es ihm nach unglaublicher Anstrengung endlich gelungen war, das Tier zum Rückwärtsgehen zu bewegen, wollte es durchaus keinen Schritt mehr vorwärts tun. Dem Mann perlte der helle Schweiß auf der Stirn. Sollte man es für möglich halten, rief er mit komischem Pathos und vorwurfsvollem Blick auf das störrige Tier, daß der Besitzer dieses Pferdes überhaupt jemals zur Kirche gelangen konnte?

Der Spaß brachte das Publikum zum Lachen, und mir schien, als zeige sich selbst in den Zügen der Dame zum erstenmal ein schwacher Schimmer von Interesse. Zehn Minuten später war der Widerstand des Tieres gebrochen, und nun kam der Haupteffekt des Abends an die Reihe.

Ein kohlschwarzer Rappe wurde hereingeführt, bei dessen Erscheinen ein Murmeln der Bewunderung durch die Zuschauerbänke lief. Er war nicht groß, schien aber vollkommen ohne Makel; Mähne und Schenkel glänzten wie Atlas; in jeder Bewegung, besonders in der Art, wie er den Kopf hielt, trug er eine gewisse Selbstgefälligkeit zur Schau, als sei er sich der eigenen Schönheit bewußt. Kein Zeichen von Bösartigkeit war an ihm wahrzunehmen; im Gegenteil, er benahm sich edel und gutmütig, während er im Ring herumgeführt wurde – und doch sollte dieses Pferd die Untugend haben, unwiderruflich und unaufhaltsam mit seinem Reiter durchzugehen.

Als der Pferdebändiger schließlich mitten in der Arena mit dem Rappen zusammentraf und ihm ins Auge schaute, erwiderte dieser den Blick mit einer Art höflichen Interesses, als wollte er sagen, er freue sich, die Bekanntschaft des Herrn zu machen und hoffe, ihre gegenseitigen Beziehungen würden freundlicher Natur sein.

Während ihm Zaum und Zügel angelegt wurden, stand er still wie ein Lamm, hielt den Kopf in die Höhe und schaute das Publikum verständnisvoll an, als schmeichle es ihm, der Zielpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein. Was von seiner unbezähmbaren Wildheit verlautet war, mußte wohl stark übertrieben sein, er schien die Sanftmut selbst, und wir versprachen uns wenig Kurzweil von ihm.

Der Versuch, das Tier zu Boden zu werfen, stieß jedoch schon auf Hindernisse; es zeigte dabei viel Feuer und widersetzte sich so mutvoll, als gelte es einen richtigen Zweikampf. Wieder und immer wieder warf sich der Pferdebändiger mit seiner ganzen Körperlast ihm entgegen, jedesmal aber machte der Rappe eine geschickte Wendung und wehrte den Angriff ab. Es war indes nur eine Frage der Zeit: schließlich ward das Tier doch bezwungen und lag ruhig am Boden.

Ich weiß nun, was ich tue! sagte ich zu meinem Gefährten.

So warte doch! entgegnete dieser, der mich offenbar mißverstanden – warte nur, der Bursche wird schon noch seine Tücken loslassen!

Ich spreche ja nicht von dem Pferde, sondern von der Dame im dunklen Hut.

Was ist mit ihr?

Sei so gut und erzähle mir ihre Geschichte; – ich verzichte aufs Vorstellen.

Ja, so! Deine Neugier ist also größer als deine Galanterie! Aber du mußt warten, bis dies hier vorbei ist. Der Mann soll nur auf seiner Hut sein! – Ha! ich hab's doch gedacht! –

Während wir sprachen, hatte man dem Pferde einen starken Leitriemen angelegt und ließ es langsam in der Arena die Runde machen. An seinen rechten Vorderfuß war eine Leine gebunden, die durch den Ring am untern Sattelgurt lief und vom Pferdebändiger festgehalten wurde. Als er den Kreis etwa zur Hälfte durchlaufen und in unserer Nähe angelangt war, blieb die Peitschenschnur in einem Spalt des Geländers hängen, und der Griff flog dem Manne aus der Hand. Bei dem Versuch, die Peitsche wieder aufzuheben, ließ er die Leine fallen.

Sofort, als hätte der Rappe nur auf diesen Augenblick gewartet, tat er einen Seitensprung. Sein Führer stemmte sich mit aller Gewalt rückwärts, bohrte die Fersen in den Sand und zog mit Anstrengung seiner ganzen Muskelkraft den Leitriemen straff. Trotz seiner Löwenstärke war es ihm jedoch völlig unmöglich, das Tier allein mit Hilfe des Zügels zu bezwingen. Es tat einen zweiten Sprung in die Quere und zwar so plötzlich, daß der Pferdebändiger das Gleichgewicht verlor und auf seine rechte Schulter niederstürzte. Er hatte jedoch die Zügel fest um die Hand gewickelt und ließ sie nicht fahren. Das Pferd schleifte ihn auf dem Boden hin, schlug nach vorn und hinten aus und versuchte, ganz rasend vor Wut, ihn abzuschütteln.

Die Zuschauer hatten anfänglich den Ernst der Lage kaum begriffen; als sie aber jetzt den Mann hilflos unter den Hufen des Pferdes liegen sahen, ertönte ein allgemeiner Schreckensruf; man sprang von den Sitzen, wobei eine Reihe von Bänken polternd umfielen. Der Lärm und die Verwirrung schienen das Tier noch rasender zu machen.

Inzwischen waren die beiden Gehilfen herzugeeilt und versuchten den Rappen beim Kopfe zu fassen; aber er warf den einen zu Boden und versetzte dem andern mit dem Huf einen Schlag in die Seite. Nur wenn es gelang, die Leine wieder zu fassen, war irgendwelche Aussicht vorhanden, das Pferd zu bändigen. Der Mann, der durch die Arena geschleift wurde, hatte seine Geistesgegenwart nicht verloren – er wußte vollkommen, worauf es ankam, aber er konnte die Leine nicht ergreifen, ohne die Zügel fahren zu lassen, und das schien ihm zu gefährlich.

Der ganze Vorgang hatte kaum eine Minute gedauert, aber es wurde immer klarer, daß es bald zu einer Katastrophe kommen müsse. Wenn die schwache Schranke, welche das Pferd von den Zuschauern trennte, zerbrach, konnte nichts mehr das drohende Unheil abwenden. – Schon durch das Drängen und Stoßen über die umgefallenen Bänke hatte sich das Publikum manche Verletzung zugezogen. Natürlich hätten die Zuschauer nichts Klügeres tun können, als den Saal zu verlassen, wer das aber wollte, fand den Ausgang versperrt, weil die Neugier die meisten an Ort und Stelle fesselte, so sehr auch die Furcht sie von dannen trieb.

Der Rappe befand sich jetzt rechter Hand an der Ecke der Arena. Plötzlich richtete er sich auf den Hinterbeinen in die Höhe, sprang über den Mann am Boden hinweg, ohne ihn jedoch mit den Hufen zu berühren, und tat einen Satz nach der linken Seite des Raumes hin. Aller Blicke wandten sich nach dieser Richtung; mir und meinem Gefährten wurde sofort klar, daß die schöne Frau dort auf dem vordersten Platz aufs höchste gefährdet war. Wir sahen sie sich erheben, sich kerzengerade in die Höhe richten, ihren Schleier zurückwerfen. In tödlichem Schreck war ihr Begleiter aufgesprungen, er wollte fliehen, strauchelte aber und fiel der Länge nach zur Erde. Wie verhaltene Angst lief ein seltsam zischender Laut durch das ganze Haus, als das rasende Tier jetzt auf das Geländer zustürzte. Um das Leben der Dame schien es geschehen.

Warum rettete sie sich nicht durch schnelle Flucht? Hatte der Schrecken ihre Glieder gelähmt? – Keineswegs. Ich sah, wie es in ihren großen, müden Augen aufflammte, wie ihre bleichen Wangen sich bis an die Schläfen mit Glut überzogen. Sie sprühte von Feuer und Leben, es schien, als ob ihr die Gefahr und Aufregung einen wahren Genuß verschaffte.

Wie es zuging, daß dieser Augenblick des wilden Entzückens nicht zugleich ihr letzter war, blieb uns zuerst unerklärlich. Schon berührte der Rappe mit den Vorderfüßen die schlanke Gestalt, die nicht vor ihm zurückwich, schon setzte er zum Sprung an über das Geländer – da schwankte er plötzlich und stürzte nieder, im Fall die Schranke mit sich reißend. Bald begriffen wir den Sachverhalt: es war dem Manne, der noch immer die Zügel hielt, endlich gelungen, sich der Leine wieder zu bemächtigen; mit der Kraft der Verzweiflung hatte er sie angezogen und das Pferd zu Fall gebracht. Jetzt stand er zum erstenmal wieder auf den Füßen, keuchend, mit Staub bedeckt, aber, wie es schien, mit heilen Gliedern. Die Menge jubelte ihm entgegen; er achtete jedoch nicht auf den Beifallssturm, sondern sagte, zu der Dame gewandt:

Mir war's zuletzt recht bange um Sie, gnädige Frau! Es wird Ihnen doch nichts geschadet haben?

Wir standen jetzt in ihrer unmittelbaren Nähe. – Im Gegenteil, hörte ich sie erwidern, es hat mir großes Vergnügen gemacht.

Der baumstarke Mann warf ihr einen schnellen Blick der Bewunderung zu, dann verzog er den Mund, gutmütig lachend: Das muß ich sagen, meinte er, Sie sind leicht zu befriedigen, gnädige Frau, so etwas wäre nicht jedermanns Geschmack.

Nun sprach er in rauhem Ton zu dem Rappen, der mit zitternden Flanken und weit geöffneten Nüstern am Boden lag: »Mach' daß du aufstehst! Dein Spiel ist nun aus, jetzt geht's wieder an die Arbeit! – Nehmen Sie, bitte, Ihre Plätze wieder ein, meine Damen und Herren, wandte er sich an das Publikum, in fünf Minuten wird das Tier so zahm sein, daß ein Kind es leiten kann!« –

Beifallgemurmel durchlief die Zuschauerreihen; die meisten entschlossen sich wirklich, dazubleiben. Unterdessen hatte sich der geschniegelte junge Herr zwischen den Bänken wieder emporgearbeitet, eine dicke Beule auf der Stirn, leichenblaß und völlig verwirrt starrte er umher. Er allein unter allen Anwesenden wußte nicht, was sich zugetragen. Ein kaltes Lächeln spielte um die schönen Lippen der Unbekannten; sie zog den Schleier wieder herab, nahm den Arm ihres noch ganz bestürzten Begleiters und verließ mit ihm die Halle. Wir folgten ihr auf dem Fuße, der Journalist und ich. Im Gang hob ich einen Handschuh auf, den sie fallen gelassen, und habe ihn seitdem als Andenken bewahrt.

Der große Bankdiebstahl

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