Читать книгу Ein Arzt in einer kleinen Stadt - Julie Burow - Страница 4
Zweites Kapitel. Der Hauswirt.
ОглавлениеDer Wintermorgen sah glänzend hell in das Fenster des Zimmers, in dem Doktor Franke beim Kaffee saß. Er hatte sich den kleinen, schweren Mahagoni-Tisch ans Fenster gerückt und betrachtete die trübe Aussicht über ein Schneefeld, dessen Horizont der Wald begrenzte. Ein blauer dampfender Streif bezeichnete den Flussarm, der hier vorüberfloss. Weit hinaus bis ans Ufer standen eigentümliche Gerüste zum Ausspannen und Trocknen der fertigen Tücher bestimmt, sogenannte Tuchrähme, und darneben sah man in der ganzen Länge derselben blaugrünes Spargelkraut mit roten Beeren aus dem Schnee ragen.
Meisen, Goldammer und Spatzen pickten daran und hüpften dann um die einzelnen Pflanzen her, zierliche Spuren ihrer Krallchen in der Schneedecke zurücklassend. Franke hatte sich auf seinen Reisen zum Beobachter der Natur gebildet. Ihm entging kein Punkt auf dem reinen und belebten Bilde vor seinen Augen.
Es war von einer eigentümlichen Schönheit, obgleich man es weder großartig, noch üppig, noch milde nennen konnte. Dicht unter seinem Fenster war ein kleiner, mit einem Staketenzaun eingehegter Fleck, offenbar ein Blumengärtchen. Hin und wieder ragten einzelne Büschchen aus dem Schnee hervor, eine kleine Türe führte ins Freie. Fliederbüsche bildeten an einer Seite eine Laube, die im Sommer wohl still und grün sein mochte; an der Mauer des Hauses zog sich ein Spalier empor, wahrscheinlich für eine jetzt am Boden unter Moos schlafende Weinranke. Die Aussicht aus diesem Fenster erschien dem Doktor unendlich anziehender als die im andern Zimmer auf den Marktplatz, welche jenen Charakter der Stille und Öde hatte, der so häufig den kleinen deutschen Landstädtchen eigen ist. – Franke hatte seinen Hauswirt bitten lassen, auf kurze Zeit bei ihm einzutreten und Herr Senator Wallfeld erschien alsbald in sehr sauberem Hausanzuge und erkundigte sich, wie sein Gast geschlafen. Der Doktor nötigte ihn zum Sitzen und bat ihn, ihm mit seinem freundschaftlichen Rate und seiner Weltkenntnis an die Hand zu gehen.
»Ich bin fremd hier, geehrter Herr«, sagte er, »und muss mich dem Publikum, dem ich über den Hals geschickt werde, nach Kräften zu empfehlen suchen. Würden Sie die Güte baden, mich, so viel als dies notwendig, mit den hiesigen Verhältnissen bekannt zu machen?«
»Mit dem größten Vergnügen, Herr Doktor: Sie müssen aber bedenken, dass ich selbst ein zurückgezogener Mann bin, der die bissigen Honoratioren nur wenig kennt. Ich war Färber beim Herrn Kommerzienrat Werl, der die große Tuchfabrik hier anlegte, und kam von jeher wenig in Gesellschaft. Meine selige Frau« – hier blickte er auf zu dem Bilde – »war wie ich, wenig für großen Umgang, und meine Schwester ist auch nicht dafür. Indes man kennt die Leute doch so dem Namen nach und ich weiß Ihnen ungefähr zu sagen, wo Sie werden Visiten machen müssen.«
Er nannte nun eine Reihe von Personen und Familien und es war ziemlich das Verzeichnis der Honoratioren, das wir aus Kotzebues »Deutschen Kleinstädtern« kennen. Da waren Titel, lang wie der Johannistag und bedeutungslos wie eine Glasscheibe. Franke schrieb sie in sein Taschenbuch und versah diejenigen, welche sein Wirt ihm als ganz besonders wichtig bezeichnete, mit einem Kreuzchen. Franke erkundigte sich dann nach einer passenden Restauration, nach Wäscherinnen und all den hundert Menschen und Dingen, ohne die ein Mann nun einmal seine Junggesellen-Wirtschaft nicht beginnen kann.
Herr Senator Wallfeld zeigte sich in jeder Beziehung als ein gefälliger und freundlicher Wirt und der erste Weg, den Doktor Franke machte, als er im schwarzen Frack, mit weißer Halsbinde und weißen Glacéhandschuhen seine Visiten zu machen begann, war daher in das Familienzimmer des Senators. Eine sehr sanfte Stimme rief auf sein Klopfen »Herein« und Franke sah sich im nächsten Moment einer eigentümlichen und überraschenden Erscheinung gegenüber. War die Dame alt oder jung? Unmöglich konnte man das entscheiden. Sie trug sich nonnenhaft, ihr Haar war unter einer dicht anliegenden Haube so verhüllt, dass nur ein Streifchen, kaum einen Finger breit, über der sehr hohen Stirne sichtbar blieb.
Ihre Augen, sehr hellblond, waren von den langen dunkeln Wimpern fast immer verdeckt, wenn sie sie aber aufschlug, so strahlte darin ein Glanz, der seltsam mit dem bleichen, feinen, gänzlich farblosen Gesichte kontrastierte, in dem nur die schmalen Lippen eine hochrote gerade Linie bildeten. Franke musste sich unaufhörlich besinnen, wo er schon in seinem Leben Züge diesen ähnlich gesehen hatte. Selbst als die Erscheinung, mit dem Versprechen den Senator zu rufen, schon lange verschwunden war, stand sie ihm noch deutlich vor Augen, sonderbarer Weise gepaart mit der Erinnerung an ein helles, mit Weinlaub umsponnenes Fenster, durch das Italiens Sonnenschein hineinblickte, in ein kleines Zimmer.
Herr Wallfeld weckte ihn aus seinen Träumen, nötigte ihn auf das harte, altmodische Sofa und begann ein Gespräch über Alltagsgegenstände. Franke hörte kaum darauf und konnte sich nicht zurückhalten endlich zu fragen, wer die Dame gewesen.
Er täuschte sich nicht, wenn er zu bemerken glaubte, dass die gefurchte Wange seines Wirtes bis zur Schläfe errötete, als er antwortete:
»Meine Stiefschwester Jakobine.«
Nach einigen Augenblicken des Schweigens, in denen er mit sich zu kämpfen schien, setzte er hinzu:
»Ein sehr unglückliches Geschöpf, dem man um schwerer Leiden willen viele Sonderbarkeiten übersehen muss. Sie ist überdies fast immer krank und ich freue mich schon, Hilfe für die Arme so in der Nähe zu haben.«
»Hat Ihre Frau Schwester früher Reisen gemacht?« fragte Franke weiter.
Der Hausherr drehte am Knopfe seines Rockes:
»Sie hat das Weichbild unserer Stadt nicht überschritten und ist, verzeihen Sie es schon, Herr Doktor, in ihrer Seltsamkeit und ihrem Unglücke kaum ein Gegenstand für unsere Unterhaltung.«
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Franke mit Herzlichkeit, »wenn ich ahndungslos einen schmerzlichen Gegenstand berührt habe. Ich kenne die Verhältnisse Ihrer Frau Schwester gar nicht.« –
»Sie ist unverheiratet!« –
»Nun Ihrer Fräulein Schwester. Das schöne Gesicht der Dame schien mir bekannt und es war mir zumute, als müsste ich dasselbe irgendwo in Italien gesehen haben.«
Die Stirne des Hausherrn war finster geworden.
»Das ist unmöglich, mein Herr – ganz unmöglich – sie müsste denn«, setzte er leise vor sich hinmurmelnd hinzu, – »als spukendes Gespenst dort gewesen sein.«
Dann, sich wieder an Franke wendend, sagte er unter sichtlichem Kampfe mit sich selbst:
»Sie sind ein einzig Kind, mein Herr, Sie können daher nicht wissen, dass in großen Familien, ich meine in solchen, die aus vielen Geschwistern bestehen, sich meistens ein Unglückskind befindet, ein solches, das zum Elend, vielleicht zur Schmach der Übrigen da zu sein scheint; ein solches ist Jakobine. Ich habe sie nach dem Tode meiner Gattin bei mir, sie führt meinen Haushalt – irgendwo muss sie sein – am wohlsten wäre ihr im Grabe. Ich selbst mag und will Ihnen nichts mehr von dem beklagenswerten Geschöpfe sagen, zeitig genug wird man Ihnen ihr Geschick in diesem kleinen Orte erzählen. Sie brachte Unehre in eine ehrbare Familie. Sie hat gelitten und gebüßt; Gott sei ihr gnädig! Ich als Bruder kann am wenigsten das Schlimmste von ihr glauben. Sonst ist sie wenig sichtbar; es ist der Unstern, der über allem waltet, was mit ihr im Zusammenhange steht, dass sie Ihnen fast im ersten Moment Ihrer Anwesenheit vor die Augen kommen musste.«
Senator Wallfeld wischte sich nach diesen Worten die bleiche Stirne. Er hatte in heftiger, aber unterdrückter Aufregung und mit hörbarem Beben der Stimme gesprochen und Dr. Franke war nicht wenig betreten über seinen Missgriff, als auch von Teilnahme erfüllt und neugierig gemacht durch die Worte seines Hauswirtes. Er konnte sich nicht helfen, die dunkle Erinnerung, dass er diesen Zügen schon einmal im Leben und zwar in Italien begegnet sei, ließ sich nicht verbannen und er überließ es der Zeit, das Rätsel, das ihm gleich beim Eingange in seinen Lebensberuf entgegenkam, zu lösen.
Die Visiten nahmen Zeit weg. Überall ward der junge Arzt angenommen. In vielen Häusern setzte man ihm Frühstück vor, überall dehnte sich auf Veranlassung der Bewohner sein Aufenthalt weit über die üblichen Visitenmomente hinaus, überall fragte man ihn nach seinen Reisen, seinen Familienverhältnissen und vor allem nach seinem Urteil über seinen neuen Wohnort, das freilich nur noch ein sehr unmotiviertes sein konnte. –
Nur in einem einzigen Hause wies man ihn mit einem »Nicht zu sprechen« ab, und diese einzige Ausnahme erregte natürlich sein Interesse in gewissem Grade. In seinem Notizbuche fand er über die Familie: »Rat Baum im Herrschaftshause am Wall« und daneben ein Kreuzchen. In der Tat, das Haus, welches der Rat Baum bewohnte, führte seinen Namen mit gutem Rechte. Ein schönes, palastartiges Gebäude, massiv und mit zwei Flügeln, die einen Hofraum einschlossen, dessen vierte Seite eine Staketenwand von einem sehr großen Garten schied. In den Seitenflügeln wohnten andere Familien, solche Leute, von denen zwölf ein Dutzend ausmachen. Doktor Franke hatte sich auf seinen vielen Reisen gewöhnt, die Personen nach ihren Kleidern, Möbeln, Geräten, nach ihrer nächsten Umgebung zu schätzen. In ganz Hermstädt hatte er nicht eine einzige Familie gefunden, die in dieser Taxation vollwichtig erschienen wäre.
Nicht zusammenpassende Mobilien, geschmackloser Putz, ungemütliche Zimmer, kalte Putzstuben und unsaubere Wohnräume.
Nur im Rat Baum'schen Hause, von dem er freilich nur den hohen gewölbten Flur und ein freundliches Vorzimmer gesehen, gefiel es ihm. Ein gewisser Geist gemütlicher Häuslichkeit schien dort seinen Wohnsitz aufgeschlagen zu haben. Franke hatte gefunden, dass da, wo die Stühle so wohlgeordnet stehen, wo die Blumen so gepflegt erscheinen, wo die Kupferstiche an den Wänden so im richtigsten Lichte hängen, stets Familienglück im Innersten des Hauses zu wohnen pflegte und er trat aus dem Herrschaftshause am Wall, den Hut in der Hand und ein gewisses Gefühl der Teilnahme im Herzen.
Abends kam sein Hauswirt zu ihm und brachte ihm drei für ihn eingegangene Briefe. Der erste war von seiner Mutter, wie er an den langen, und nach den verschiedensten Seiten ausgeschweiften Buchstaben erkannte. Der zweite von Gräben und der dritte von dem Rechtsanwalt der Konkursmasse seines Vaters.
Er legte sie alle drei über Seite und erzählte lächelnd dem Senator von seinen verschiedenen Erlebnissen, auch von dem hübschen Hause am Wall. Sein Wirt hatte sich zu ihm gesetzt und ihm anfangs bloß höflich, dann lächelnd zugehört.
»Ich kenne die wenigsten der Personen, die Sie besucht haben; meine Verhältnisse schließen mich zu sehr von allen diesen Leuten ab; nur die Familie Baum ist mir bekannt. Sie ist hier nicht besonders beliebt, aber die Urteile einer kleinen Stadt sind nicht immer weise. Richten Sie sich nicht ganz nach denselben, Herr Doktor. Ich für mein Teil habe namentlich gegen Frau Baum große Verpflichtungen, es ist eine edle, hochherzige Dame, wenn auch vielleicht in ihrem Auftreten etwas exzentrisch – etwas, nun Herr Doktor, etwas anders wie alle Leute.«
»Nun ich werde sie ja wohl später noch kennenlernen.« –
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Dame lebt sehr abgeschlossen in ihrem Familienkreise. Sie hat zwei liebe Kinder, zwei Mädchen, die sie selbst unterrichtet, dazu ist ihre Haushaltung nicht klein. Gesellschaften gibt die Familie gar nicht, Fremde finden selten, fast nie Zutritt; wem es aber gelingt, einmal festen Fuß dort zu fassen, der wird gleichsam Familienglied und ist sicherlich beneidenswert, obgleich ihm dadurch beinahe die andere Geselligkeit in unserem Städtchen verschlossen wird. Auch ich komme häufig dorthin. Die Frau Rätin war vor Jahren unsre Nachbarin und ist jetzt noch meine werte Freundin. Sie hat mir viel Liebes und Gutes erwiesen, mir und manchem andern«, setzte er mit einem Seufzer hinzu.
»Und der Rat Baum?« fragte der Doktor.
»Ah der ist ein ganz wackerer, respektabler Mann, etwas eigen und wunderlich. Mein Neffe, der Postsekretär, spielt oft mit ihm Schach oder Piquet manchen lieben schönen Abend, die Frau Rätin sieht es gern, wenn ihr Mann durch so etwas beschäftigt und angeregt wird. Ich selbst komme viel mit dem Rat zusammen, er findet Vergnügen an Chemie und das ist, wie ich Ihnen schon gestern sagte, meine Fachwissenschaft, denn ich bin Färber; aber sie ist auch mein Steckenpferd«, setzte er hinzu und sah ernst vor sich nieder, »ja und viel, viel hat dies Steckenpferd mir schon gekostet.«
Des Mannes Stirne war wieder so seltsam bleich geworden, wie es Franke schon einmal an ihm bemerkt hatte, wieder wischte er sich die perlenden Schweißtropfen und seine Augen glänzten unheimlich. Ein tiefes schweres Leid schien auf seiner Seele zu lasten. Der steife altfränkische Ausdruck machte einem Ausdruck bittern Wehs Platz in den breiten gutmütigen Zügen, ja momentan blitzte etwas durch dieselben, das wie Groll und Hass erschien. In solchen Augenblicken weckte des Gesicht des märkischen Pfahlbürgers Erinnerungen an die Züge gewisser Personen, die er in Italien gekannt und richtig – wenn er so von der Seite aufblickte, so das Auge von ihm abwandte mit einem Zusammenziehen der buschigen Brauen, sah er genau aus wie Jacopo, der tolle Maler, der ihm und seinem Freunde in Venedig so viel Interesse eingeflößt, mit dem sie zusammen so manche köstliche Sommernacht auf den Wellen des Canale grande verschwärmt hatten.
»Wenn es Ihnen Vergnügen macht – Sie sind ja Arzt und müssen deshalb schon gewissermaßen Freund von den Naturwissenschaften sein – so sehen Sie sich gelegentlich einmal mein Laboratorium an«, sagte der Senator, als er den Blick bemerkte, den Franke auf ihn geheftet hatte, »wir sprachen ja von Chemie, nicht wahr, Herr Doktor?« –
Franke bejahte es und sein Hauswirt erhob sich und sagte ihm mit einer steifen altmodischen Verbeugung gute Nacht.