Читать книгу Ein Arzt in einer kleinen Stadt - Julie Burow - Страница 7
Fünftes Kapitel. Eine große Gesellschaft.
ОглавлениеUnter den Familien, denen Franke Visite gemacht, war natürlich auch die des Kommerzienrats Werl. Die Häuslichkeit hatte ihm eben nicht imponiert trotz dem Reichtum, der in allen Möbeln und Geräten sich mit großer Ostentation zeigte. Die Rätin Werl, eine dicke Frau, mit einem großen, hübsch gefärbten Gesicht, fast wie das Wachsbild vor dem Laden eines Friseurs, hatte ihm viel erzählt von ihren mancherlei Körperleiden und den Bädern, die ihr verordnet worden, der Kommerzienrat hatte gar nichts gesprochen, als:
»Wie gefällt's Ihnen in Hermstädt, he? Und denken Sie gute Geschäfte zu machen in Hermstädt, he?«
Franke wusste, dass diese Familie jährlich vier große Gesellschaften gab, und es war ihm daher nicht überraschend, eine goldumrändelte Karte vorzufinden, die ihn zu einem Tee bei dem Kommerzienrate einlud.
Er stand lächelnd vor dem Spiegel und knüpfte die Schleife seines Halstuches. Der letzten großen Gesellschaft hatte er in Neapel beigewohnt. Damals ein reicher Mann an der Seite seines vornehmen Freundes. Unwillkürlich verglich er den Abend, dem er entgegenging, mit jenem. Vor seinen Augen schwebten die graziösen Gestalten, die südlichen Gesichter der schönen Neapolitanerinnen vorüber, er sah den goldenen Vollmond am tiefblauen Himmel Italiens und unterdes tobte der Sturm und raste in den Zweigen des alten Nussbaumes vor der Haustür.
Sein frühester Bekannter im Orte, der Postsekretär Walter, hatte versprochen ihn abzuholen und trat ein in seiner glänzenden, mit Gold gestickten Staatsuniform, ein hübscher junger Mann mit einem Gesicht, auf dessen belebten Zügen ein neckischer Humor funkelte.
Franke und Walter waren in den letzten Tagen sich einigermaßen nähergetreten und als der Post-Sekretär den Kreis-Physikus betrachtete, sagte er lächelnd:
»So werden Sie nicht imponieren; unsre gute Stadt verlangt den Augenschein, um an die Würde eines Menschen zu glauben. Besitzen Sie keinen Ring, keine einigermaßen kostbare Tuchnadel? Nicht einmal eine gestickte Weste?«
»Schlimm, sehr schlimm«, entgegnete er dann auf das Nein des Befragten; »aber hoffentlich haben Sie einen Vetter im zehnten Gliede, der General oder Präsident ist, oder eine Base, die etwa als Bettmeisterin oder Silberwäscherin am Hofe angestellt ist? – Alles nicht! Sie werden schwer hier reüssieren, und zumal da Sie schon so unglücklich gewesen sind, das Haus der Rätin Baum zu betreten. – Die Dame ist, müssen Sie wissen, der Stein des Anstoßes und der Ärgernis für unsre Haute volée, die man hier mit dem Ausdruck Honoratioren bezeichnet.«
»Und was«, fragte Franke mit wenig verhehltem Interesse, »ist denn der Grund, dass diese Dame hier keine Freunde hat?«
»In einer kleinen Stadt, mein Bester, sind die Gründe des Ge- oder Missfallens in ein mystisches Dunkel gehüllt. Die Rätin Baum ist eine sehr schöne Frau. Ihr Auftreten ist sehr einfach, aber sie hat hohe Bildung und steht in Verbindung mit den bedeutendsten Männern des Tages, wie ich aus ihrem Briefwechsel ersehen kann. – Sie lebt in tiefster Abgeschlossenheit, keine unsrer Damen wird je zu ihr eingeladen, nie macht sie einen Besuch und die einzige weibliche Person, mit der sie hier in freundschaftlichem Verhältnisse steht, ist meine arme Base Jakobine. Dagegen kommen viele Männer in das Baum'sche Haus und jeder, der es einmal betreten, kehrt, von dem Liebreiz und dem Geist der Wirtin angenehm angeregt, gern dahin zurück. Auch ich bin oft dort, freilich sehe ich die Frau vom Hause nicht jedes Mal, aber auch die Gesellschaft des Rates ist angenehm, er ist ein trefflicher Schach- und Trick-track-Spieler und die beiden kleinen Mädchen können schon ganz hübsch die Stelle der Mutter vertreten.«
Sie waren unter diesem Gespräche an das hell erleuchtete Haus des Kommerzienrates gekommen. –
Es lag in einer Seitenstraße, die nur von den langen rauchigen Fabrikgebäuden gebildet wurde, in denen es ohne Aufhör Tag und Nacht schnurrt, das ist wirklich wunderbar und braust und zittert von der Arbeit der Dampfmaschinen und der verschiedenen englischen Spinnapparate. Eben schlug die Uhr der nahen Kirche Sechs und aus den Türen der Fabrikgebäude strömten, während zehn Minuten lang das Gerassel der Maschinen schwieg, die Tagarbeiter heraus, indes auf klappernden Holzschuhen die Nachtarbeiter eifrig hinzu eilten, um im rechten Moment an ihren Plätzen zu sein. –
Die meisten derselben waren Weiber mit bleichen aufgedunsenen Gesichtern. Sie hatten Tücher um die Köpfe gezogen, die das liederlich arrangierte Haar und zum Teil auch die zerrissene und schmutzige Kleidung verhüllten, und trugen Töpfchen mit Speisen in den Händen. An einigen Stellen mussten die beiden Gäste des reichen Fabrikherrn sich durch die zerlumpten Gruppen der Arbeiter beinahe drängen, und Flüche und nicht wenig schmutzige Worte tönten ihnen nach von bleichen und wulstigen Lippen, die vor Frost bebten. Burschen von zwölf bis sechzehn Jahren, Mädchen von unterdrücktem Wachstum und einige brutal aussehende Kerle standen an der Tür eines Gebäudes, aus der ein heißer, erstickender Dampf die Vorübergehenden mit einer Art von Pesthauch begrüßte. Es war das Trockenhaus, in dessen Vorderräumen noch einige Wollkrämpelmaschinen angebracht waren, die ebenfalls bei Nacht arbeiteten, während oben die Handweber bereits Feierabend gemacht. Dicht neben demselben bog man schief um eine Ecke und stand vor dem hell erleuchteten Palast des Kommerzienrats. –
Rechts und links neben der Haustüre hielten zwei Bronze-Figuren, in Nischen stehend, große, in blendendem Gaslicht strahlende Laternen in den Händen, welche den Eingang und die zu ihm führenden Sandstein-Stufen erleuchteten. Der Flur, mit zweifarbigen Quadern ausgelegt, schwamm in einem Meer von Licht. Blumenkübel standen trotz des eisigen Winters, der durch das geöffnete Haustor hereinwehte, auf den Treppen-Absätzen, ein Diener in krebsroter Livree öffnete die Türe eines Garderoben-Zimmers und gab den beiden Gästen für ihre Mäntel Nummerkarten. Eine Minute darauf standen sie in dem schon ziemlich gefüllten Saale. Franke musste sich sagen, dass das Ganze glänzender, ja auch geschmackvoller arrangiert sei, als er es vermutet.
Wirt und Wirtin erfüllten ihre Obliegenheiten mit möglichster Grazie. Der Kommerzienrat fragte jeden mit breitem Lächeln:
»Wie gefällt es Ihnen bei mir, he?« und die Kommerzienrätin, in einer Pariser Haube und einem Blondenkleide, erzählte von einigen Gesellschaften in Berlin, bei denen die Prinzen zugegen gewesen und sich viel mit ihr unterhalten hätten. Die Hauptzierde der Gesellschaft waren die vielen blühend hübschen Mädchen, unter denen des Postmeisters reizende Lätitia ziemlich den ersten Platz einnahm. Gleich nach dem Tee wurden lebende Bilder aufgestellt, und zwar hatte die Frau Kommerzienrätin einige Blätter aus den hübschen Fleurs animées dazu gewählt.
Die Kostüme hatte die reiche Dame in Berlin anfertigen lassen und die jungen schönen Mädchen sahen reizend genug aus als Rosen, Korn- und Mohnblumen. Postsekretär Walter hatte bei dem die Distel zeigenden Tableaux die Rolle des Esels übernommen und sah mit seinem grauen Frack, der roten Halsbinde und den gelben Handschuhen unwiderstehlich komisch aus. Später tanzte man und Franke als ein gewandter und ziemlich unermüdlicher Tänzer hatte sehr bald bei den anwesenden jungen Damen und deren Müttern Gnade gefunden. –
Es war ein Hauptaugenmerk des jungen Arztes, sich die Gesichter und Namen der Anwesenden einzuprägen. Er musste sich sagen, dass nach allem, was er hier sah, sich echte Originalität mehr in dieser kleinen Welt als in der Residenz entwickle. Fast jeder der Gäste im Hause des Kommerzienrats hatte seine kleine Absonderlichkeit, besonders unter den Männern. – Zwei davon fielen ihm gleich anfangs sehr auf. Der eine, ein Mann von Mittelgröße, mit einer eigentümlich keck in die Welt schauenden Nase, und einem Bändchen des roten Adlerordens im Knopfloch, der andere sehr groß, sehr hager und bis oben hinauf zugeknöpft, so dass man von seiner Wäsche nichts gewahr werden konnte, als ein sehr kleines Stückchen Hemdkrause, das zwischen dem zweiten und obersten Knopfloch wie neugierig hervor sah. Postsekretär Walter, den er nach diesen beiden fragte, nannte ihm den ersten als den pensionierten Ober-Registrator Semmler; den zweiten als den gleichfalls pensionierten Major von Meinhard. Beiden hatte er bereits Besuche gemacht, aber nur die weiblichen Familienglieder gesprochen, und er ließ sich daher den Herren vorstellen, da ihm Walter auseinandersetzte, dass beide Männer sich in der letzten Zeit einen nicht unbedeutenden Namen in der gelehrten Welt durch ihre gemeinschaftlichen astronomischen Forschungen gemacht hatten. Um eilf Uhr ging man zu Tische. Es war an kleinen Tafeln gedeckt und das Walten eines Freundes führte ihn an einen Tisch mit der schönen Lätitia und zwei Fräulein von Meinhard, beide so rosige, schlanke und zierliche Mädchen, als Norddeutschland sie nur hervorzubringen vermag. Die Champagner-Stöpsel knallten, die jungen Mädchen lachten. Franke im Gefühl seiner Jugend, Gesundheit und Kraft vergaß die Schmerzen der letzten Vergangenheit und fühlte sich so angeregt und so fröhlich als in Neapel. Er war nicht mehr der reiche Erbe; in einer großen Stadt wäre er ein sehr unbedeutendes Individuum gewesen; hier machten ihn sein Rang als Arzt und sein jugendlich hübsches Äußeres zu einer hervorragenden Persönlichkeit. Er fühlte sich bevorzugt, geehrt, ja sogar ein wenig umschmeichelt, und empfand ein recht inniges Behagen. Es ist ja gleich viel, ob man in Rom, Neapel oder Hermstädt Liebe und Wohlwollen erweckt, der Besitz dieser Güter ist eigentlich doch das beste Glück des Menschen.
Nach Tische trat Franke mit Lätitia zu einem Walzer an. Sie waren ziemlich das letzte Paar und er führte seine schöne Dame zu einem Ecksofa, das die vor ihm stehenden Tänzer verdeckten, sich dort neben ihr niederlassend. Es war drückend warm im Saale und Franke hatte eine Orange in den Händen behalten, die er zerlegte und auf einer Schale seiner Tänzerin darbot. Sie nahm lächelnd ein Stückchen und sagte, bevor sie es an die Lippen brachte:
»Ich fürchte nicht, Herr Doktor, dass Sie die bösen Künste bereits erlernt haben, die man in Ihrem Hause treibt.«
»In meinem Hause? Weshalb, mein Fräulein, treibt man dort böse Künste?« fragte er scherzend dagegen.
»Ei, wissen sie das nicht? Ihr Haus ist seit Jahren sehr im Verruf; denn zwei Mordtaten sind dort vorgefallen und noch nicht aufgeklärt. Es ist das wohl schon lange her, aber das Andenken an so was erhält sich für immer.«
»Das ist interessant und schauerlich, mein Fräulein«, entgegnete Franke lächelnd, »das alte Haus mit der freien Aussicht und den freundlichen hellen Stuben sieht gar nicht aus, als ob jemals etwas Böses oder Seltsames dort geschehen sein könnte.«
»Und doch, und doch!« flüsterte das junge, rosige Mädchen mit ernsthaftem Kopfnicken.
»Ich war damals vielleicht noch nicht auf der Welt oder doch noch ganz klein und unsereinem erzählt man solche Dinge nicht ordentlich. Du bist ein junges Mädchen, sagt der Vater, wenn ich ihn darnach frage, um alles zu wissen – noch viel zu jung, und Mama sagt: Christum lieb haben ist besser, denn alles wissen. Aber man hört denn doch so dies und das über die Schauergeschichten, die sich in der Welt zutragen.«
»Und was haben Sie denn gehört, Fräulein, über die Schauergeschichten in meinem Hause?«
»Ja, Herr Doktor, gerade nicht viel, nichts Genaues, unsre alte Kinderfrau erzählte mir davon, aber ich weiß, die lügt wie gestochen.«
»So, so«, entgegnete Franke lächelnd.
»Ja, aber wahr ist's doch, seh'n Sie, der Vater und die Frau des Senator Wallfeld sind vergiftet in einer Nacht. Herr Wallfeld versteht allerhand Gifte zu machen und seine Schwester hat ihm ein Päckchen mit einem schrecklichen Gift heimlich genommen, das hat er vermisst, und die beiden Leichen haben alle Zeichen der Vergiftung an sich getragen, und in derselben Nacht ist ein naher Verwandter spurlos aus dem Hause verschwunden. Ja, und die Schwester, die Jakobine Wallfeld, hat Jahre lang im Gefängnis gesessen, o es ist eine ganz schreckliche Geschichte.«
»So scheint es«, sagte Franke nachdenklich.
Das bleiche Gesicht Jakobinens stand plötzlich vor ihm, es war ihm, als suche er den sanften, resignierten und schmerzvollen Blick, den sie bei ihrem kurzen Zusammentreffen auf ihn heftete. Hinter diesen Zügen eine Meuchelmörderin zu vermuten, schien ihm an Wahnsinn zu streifen und doch war der eigene Bruder nicht frei vom Verdacht, das hatte er aus den Worten des Ratsherrn nur zu gut herausgehört, aber Frau Baum, diese feste, stolze und edelherzige Frau, hatte die Freundschaft und den Glauben an die Angeschuldigte bewahrt, ihm war dies hinreichend, um ebenfalls an ihre Unschuld zu glauben. Jakobine Wallfeld erschien ihm als eine Märtyrin und es war ihm einen Moment lang, als ob es sein eigentlicher Lebensberuf sei, das Geschick dieses armen Wesens aufzuklären. –
»Ja aber wenn Sie so dasitzen wollen und die Tour verpassen, Herr Doktor, so erzähle ich Ihnen gar keine Geschichten mehr, weder schöne noch schreckliche«, sagte Lätitia, und erweckte mit diesen Worten den Träumer zur Einsicht in die Gegenwart.
Franke sprang auf, schlang seinen Arm um die jugendliche Gestalt und schwang sich mit ihr in die Reihen der Tänzer. Die Töne eines echten deutschen Walzers trugen ihn wie auf Flügeln durch den Saal, noch einmal und noch einmal flog er mit ihr die Runde durch und als er sie endlich zu ihrem heimlichen Plätzchen zurückführte, sagte sie lächelnd:
»Wahrhaftig, Sie sollen sich nur erst gar nicht für einen Arzt ausgeben. Welcher vernünftige, rechtschaffene Doktor walzt seine Patienten schwindsüchtig?«
Franke fand keine rasche Erwiderung auf dies Wort der jungen Dame, er tat daher das Beste, lächelte und sagte, sie sei wunderschön in der Aufregung des Tanzes. Eine halbe Stunde darauf, saß er im Cotillon neben einem Fräulein Meinhard auf derselben Stelle und hielt mit der jungen Dame lachend Zwiesprache über die vielen welkenden Blumen und die herabbrennenden Kerzen im Saale, und als Sträußchen und Orden verteilt waren, mit welchen letzteren die jungen Schönen seiner neuen Heimat seine ganze Brust dekorierten, als Bonbons geknallt hatten, und die bunten Kleinigkeiten eines Christbaumes verteilt waren, fand er sich allein, in seinen Mantel eingehüllt, den Kopf voll von hundert seltsamen Gedanken, in der schneeigen Straße zwischen den Fabrikgebäuden.
Die Räder und Walzen schnurrten und rasselten, trübes Lampenlicht schimmerte durch die geschlossenen Laden und in der großen Pforte in mitten der Gebäude lehnte an einem Pfosten eine in Pelze gehüllte Gestalt, der Fabrikwächter.
»Was ist die Uhr«, fragte Franke im Vorübergehen.
»Fünf vorbei, bald Morgen, Gott sei Dank«, sagte der Mann mit einer tiefen, dumpfen Stimme.
Der Hund zu seinen Füßen knurrte und Franke eilte an ihm vorüber in sein Haus, wo eine unsichtbare Hand ihm öffnete.
»Sie wacht«, dachte der junge Arzt, »früh und spät wacht sie – unglückliche Jakobine!« –