Читать книгу Ein Arzt in einer kleinen Stadt - Julie Burow - Страница 5
Drittes Kapitel. Die erste Praxis.
ОглавлениеEs mochte Mitternacht sein. Der Schnee rieselte ganz leise und ganz weich von einem dunkel schwarzen Wolkenhimmel zur Erde nieder. In allen Häusern waren die Lichter bereits erloschen und alle Welt träumte in dem kleinen Städtchen. Sogar der Hund des Nachtwächters, der zu den Füßen seines Herrn im Schilderhäuschen lag, knurrte nur ganz schlaftrunken, als eine Frauengestalt, tief in einen Mantel eingehuscht, an ihm vorüber und nach dem Eckhause des Senator Wallfeld eilte. Der helle Ton der Klingel, welche Dr. Franke dort schon hatte befestigen lassen, schallte über den ganzen Markt und weckte alle Hausbewohner, nur eine einzige nicht, denn diese – Jakobine – hatte nicht geschlafen. Sie saß beim Scheine einer kleinen geschirmten Lampe, deren Licht nicht nach außen dringen konnte, und spann. Der Ofen war noch warm und im Zimmer wehte eine weiche reine Luft, durchwürzt von Rosendüften. Ein paar ungeheure Blumenkübel standen an dem einen Fenster und darin grünte dem Winter zum Trotze Myrthengesträuch so groß und so dicht, dass es einen Schirm vor dem Fenster bildete. Ein weißes Kätzchen lag schnurrend auf einem Kissen in der Nähe des Ofens und an der Wand hing ein von einem schwarzen Schleier verdecktes Bild.
Als der scharfe Ton der Klingel erschallte, fuhr die Bewohnerin dieses einfachen Gemaches von ihrem Sitze empor, errötete so stark, dass selbst die bleiche feste Stirne noch einen Rosenschimmer annahm, erbleichte dann und setzte sich langsam und traurig wieder nieder.
»Törin«, flüsterte sie leise vor sich hin, »die immer noch auf eine Erscheinung hofft, die nie wiederkehren wird. Dein Messias ist, wie der der Juden, einmal dagewesen und kehrt nicht mehr zurück.«
Die Klingel ertönte von Neuem, sie besann sich:
»Jemand sucht um Mitternacht den Arzt, – ich will aufmachen, ich darf mich ja nicht sehen lassen«, dachte sie und schlüpfte mit unhörbaren Tritten die Treppe hinab, öffnete und stellte sich hinter die Türe. Sie erkannte das Dienstmädchen aus dem Hause der Rätin Baum, und trat vor, um zu fragen, was bei ihrer Herrschaft geschehen sei.
»Ach Jesus, Fräulein Wallfeld«, sagte die Kleine, »unser Herr ist wieder krank, sehr krank, und Madame möchte den neuen Arzt um Rat fragen, vielleicht nur um einen Mann neben dem Rasenden zu haben. Die arme Frau! Das ist doch eine Kreuzträgerin und ein Gottesengel.«
»Geh’ hinauf zum Doktor«, entgegnete Jakobine die blassen Hände faltend; »Gott führt und prüft die Seinen wunderlich«, damit kehrte sie sich ab und schritt weiter in ihr stilles Stübchen zu ihrem Spinnrocken, der leise schnurrend ihren trüben Gedanken accompagnierte.
Wenige Minuten darauf eilte Doktor Franke mit seiner Führerin durch die schlafenden Straßen und stand bald vor dem Hause, in dem man vor wenigen Tagen seine Visite nicht angenommen. An der Türe empfing ihn eine Dame, die eine Wachskerze in der Hand trug. Franke sah sie an, ein Blick genügte, um ihn zu überzeugen, dass er vor einem der seltensten weiblichen Geschöpfe stand.
Beschreibungen müssen aber schon immer eine längere Zeit mitnehmen, wenn sie eine entsprechende Vorstellung von der Person erwecken sollen, die man vorzuführen beabsichtigt. Die Rätin Baum war groß, schlank und bleich; ihr Haar von einer seltenen Fülle, dunkelblond und leicht gelockt, und gab einen Kopf von plastischer Schönheit mit reichen, weichen Flechten. Ihr Auge von unbestimmbarer Farbe hatte jenen tiefen dunkeln Glanz, der an facettierten Stahl erinnert, und um Mund und Nase lag ein Ausdruck sanfter Festigkeit.
Ihre Stimme zitterte, als sie nach einem leisen Willkommen den Arzt bat, in ein Vorderzimmer zu treten, in das sie ihm voranging.
Dort heftete sie einen langen Blick auf ihn und sagte mit einem leisen Seufzer:
»Sie sind noch sehr jung, Herr Doktor.«
Franke lächelte.
»Es ist ein Unglück für einen Arzt, kein ehrfurchterweckendes Äußere zu haben. Vielleicht aber gelingt mir's mit Hilfe der Zeit, mir das freundschaftliche Vertrauen meiner Mitbürger zu erwerben, da ich auf das Ehrerbietige noch lange keine Ansprüche machen kann.«
»Verzeihen Sie, Herr Doktor, meine Äußerung; ich bin im Begriffe Ihnen einen tiefen Blick in das Innere meines Familienlebens zu gestatten und da ist's wohl natürlich, dass ich lieber einem Greise als einem sehr jungen Manne gegenüber zu stehen wünsche.«
»Gnädige Frau, wenn schmerzliche Erfahrungen geistige Reife geben, so bin ich wenigstens kein Jüngling mehr; auch ich habe gelitten, und wenn Sie mir ein schmerzliches Familien–Geheimnis mitzuteilen haben, so werden Sie in mir, außer dem besten ärztlichen Rate, den ich zu geben weiß, gewiss die auf richtigste Teilnahme finden.«
»Wohlan«, sagte Madame Baum, »mir bleibt keine Wahl; da es sich um Leben und Tod handelt, muss ich jetzt traurige Verhältnisse offenbaren, die ich bisher geheim halten konnte.«
»Rechnen Sie auf meine Teilnahme und Diskretion«, entgegnete der Arzt ermutigend.
Sie stützte den Kopf auf die Hand und sah trübe vor sich nieder.
»Ich bin, mein Herr, seit fünfzehn Jahren verheiratet.«
Unmöglich! wollte Franke sagen, aber er besann sich und verschluckte das Wort, das nur zu leicht wie eine Betise hätte klingen können.
»Meine Verheiratung erlöste mich aus sehr drückenden Verhältnissen, ich war ein blutarmes Mädchen und machte, wie man zu sagen pflegt, ein großes Glück. Mein Mann liebte mich sehr, er war mehrere Jahre älter als ich. – Er war reich, sein Herz ist gütig und liebevoll, er besitzt einen reifen Verstand. Nur ein bedeutender Charakter-Fehler, oder lieber eine Schwäche, entstellt und besudelt den Mann, der mein Gatte und meiner Kinder Vater ist. Er ist – nun ja, es muss gesagt werden – er ist ein heimlicher Trunkenbold. – Aber was der Welt auch verborgen blieb, der Gattin konnte es nicht verborgen bleiben. – Herr Doktor, ich habe alle meine geistigen Kräfte angestrengt, um den Unglücklichen von der Fessel seines Lasters zu erlösen. Umsonst! Seit drei Jahren leidet er an einem zeitweisen Wahnsinne, der jetzt so arg ist, dass ich durchaus die Hilfe eines Arztes in Anspruch nehmen muss, die ich bis dahin von ihm ferne hielt. Wollen Sie den Unglücklichen jetzt sehen?«
Franke erhob sich.
Er war tief erregt von den Mitteilungen der Frau, die dem Arzte und Psychologen ein eigentümliches und sehr trauriges Gemälde aufrollten. Sie gingen durch einige Zimmer, die alle den Charakter häuslicher Behaglichkeit hatten, und blieben endlich an einer Türe stehen, durch deren Schlüsselloch ein heller Lichtschimmer fiel. Frau Baum legte die Hand auf den Drücker und warf einen festen Blick auf den Arzt, bevor sie öffnete und ihn eintreten ließ. Eine Lampe brannte an der Decke in sehr bedeutender Höhe und beleuchtete einen Schauplatz wilder Zerstörung.
Der Kranke, ein großer Mann, lag auf einem Sofa. Er war völlig gekleidet, aber aus der Weste bauschte sich vorne das Oberhemd hervor und hing in ein paar langen Fetzen über das Beinkleid nieder. Ein paar Stühle lagen in Trümmern am Boden, ein Tisch war umgeworfen und eine darauf stehende Wasserflasche zerschlagen, so dass das Wasser über die Dielen floss. Der Leidende musste eben einen Paroxysmus gehabt haben, der seine Kraft erschöpft, denn er lag regungslos, totenbleich, mit klappernden Zähnen und halbgebrochenen Augen.
Frau Baum trat zu ihm, ergriff seine Hand und sagte mit sehr sanfter Stimme:
»Allwin!«
Er hörte sie nicht, seine Brust begann zu fliegen, seine Hände zitterten. –
»Allwin!« wiederholte die Gattin.
Er schüttelte das wirre Haupt, dessen Haar schon stark ergraut war, und stöhnte endlich:
»Lass' mich, lass' mich nur, Maria.«
Sie kniete neben ihm nieder und schob ihren Arm unter seinen Kopf.
»Geh‘! Geh‘fort, geh‘gleich«, sagte er mit röchelnder Stimme.
»Lass' das Tier auf der Landstraße verenden, wo es hingehört, wer kümmert sich um eine sterbende Bestie.«
»Allwin!« sagte sie noch einmal.
»Genug, genug«, heulte er, »was willst Du von mir. Was hilft mir all’ Deine Güte, all’ Deine Freundlichkeit; ist das eine Möglichkeit, dass eine schöne, geistvolle Frau, wie Du, einen Caliban, ein Scheusal, wie mich, lieben kann?« –
Seine Stimme ging in ein Geschnaube über, seine Hände ballten sich, allmählich richtete er sich aus seiner liegenden Stellung empor, knirschte mit den Zähnen, schlug um sich und blickte mit Augen, die Feuer zu sprühen schienen, umher. Sie war aufgestanden und sah ihn fest an. So blickt ein Tierbändiger auf das Ungeheuer, das er zu zähmen beabsichtigt, so ernst, so sanft und so klar.
Das wilde Feuer im Auge des Rasenden schien vor diesem Blicke auszulöschen, er sank zusammen, verhüllte das Gesicht mit den Händen und weinte.
Franke trat nun seinem Patienten näher und machte seine Beobachtungen; die Symptome waren die bei diesem Elende gewöhnlichen, und mit leisem Geflüster gab er der Gattin die nötigsten Verhaltungsregeln. Es fand sich indes, dass sie diese bereits kannte und lange geübt hatte.
»Wer leistet Ihnen Hilfe bei der Pflege Ihres Mannes?« fragte der Arzt endlich.
»Außer einem Dienstmädchen, das ich erzogen, habe und das ziemlich alle Verhältnisse meiner Familie kennt, betritt niemand anderer als ich diesen Raum.«
»Aber wer bändigt den Kranken in den Momenten der Raserei?«
»Meine Augen, meine Stimme.«
»Wenn aber diese Mittel nicht ausreichen? Herr Baum ist ein riesenstarker Mann, und sein Zustand kann jeden Augenblick in eine Raserei umschlagen, die dem Leben so zarter Wesen, wie Sie, gnädige Frau und Ihre, jugendliche Dienerin, gefährlich sein dürfte.«
»Ich stehe in Gottes Hand, Herr Doktor, und lebe und sterbe auf meinem Posten. Ich fürchte die Paroxysmen des Mannes nicht, den ich bis jetzt noch immer durch ein liebevolles Wort lenken konnte. Ich werde unter keiner Bedingung einen Fremden in die traurigen Geheimnisse meines Familienlebens einweihen; einen rohen Krankenwärter vielleicht? Bis jetzt genießt mein Gatte der öffentlichen Achtung. Außer einigen vertrauten Freunden ahndet niemand weder seinen Fehler, noch die furchtbare Strafe desselben. Ich muss meiner Kinder wegen, meiner selbst wegen, einen siebenfachen Schleier über dieses entsetzliche Familienunglück ziehen. Meine Kraft wird ausreichen, so lange es Gott gefällt! – Zu Ihnen, mein Herr, habe ich das Zutrauen, dass Sie das traurige Geheimnis einer Frau bewahren, die Sie zu ihrem Vertrauten wählte, ohne Sie zu kennen, bloß auf das Wort einer Freundin hin, deren Achtung Sie sich sehr schnell gewonnen haben. Ich denke, ein Mann von Ehre wird und muss eine Frau in dem Streben, ihre Pflicht zu tun, unterstützen. Zudem sind Sie noch jung und Ihr Auge, Ihr ganzes Wesen hat einen Ausdruck, der mich hoffen lässt, in Ihnen mir im Laufe der Zeit einen Freund erwerben zu können.«
Franke fand keine Antwort: wenn höchste Bewunderung zur Freundschaft führen kann, so bin ich auf dem besten Wege zu derselben, wollte er sagen, aber das kam ihm wieder so trivial, so phrasenhaft vor und er schwieg daher gänzlich; aber in seinem Auge und in der einfachen Verbeugung, die er machte, lag eine so treuherzige Versicherung, dass Maria ihm die Hand reichte und mit Freundlichkeit sagte:
»Ich glaube Ihnen, Herr Doktor.« –
Er kam nach Hause. Die Stirne glühte ihm fieberhaft von der durchwachten Nacht und den vielfachen Gemütsbewegungen derselben. Einige Augenblicke erschien ihm die Frau, mit der er auf so seltsame Weise bekannt geworden, wie eine Heilige. Dann tadelte er leise ihren übertriebenen Stolz, dann dachte er mit Bewunderung ihrer fast erhabenen Schönheit, aber keine Minute verließ ihn die Erinnerung an sie. –
Doktor Franke war ein Mann von achtundzwanzig Jahren. Er hatte, wie wir wissen, in Paris und London geweilt, war durch die Straßen von Madrid geschlendert und hatte deutsche Lieder gesungen unter den Fenstern römischer Damen. Aber keine Frau hatte auf ihn einen Eindruck gemacht, der dem, unter dem er sich jetzt befand, auch nur entferntest zu vergleichen gewesen wäre. Wenn er seinen Reisegefährten bei sich gehabt hätte, so würde er ihm wahrscheinlich und zwar ganz wahrheitsgemäß gesagt haben, dass Maria Baum ein Weib sei, welche durchaus keine Leidenschaft erwecken könne. Der Ernst, die Festigkeit ihres Wesens erschienen ihm fast zu männlich, um jenes heitere, spielende Gefühl zu begünstigen, das er sonst Liebe genannt hatte. Sie war fünfzehn Jahre verheiratet und musste daher jedenfalls älter sein als er selbst, und eine Leidenschaft für eine ältere Frau hatte er bis dahin auch stets für eine garstige Karikatur gehalten. Dazu zog sich durch das ganze Wesen seiner neuen Bekannten ein gewisses Etwas, das ihm unter allen andern Verhältnissen drückend, ja in manchem Falle vielleicht lächerlich erschienen wäre. Ihr »Ich lebe und sterbe auf meinem Posten«, so wie die Worte »Ich stehe in Gottes Hand«, die sie ein paarmal wiederholte, hätten für ihn sonst einen Anstrich von Bigotterie, von Pietismus gehabt, der ihm jede andere Frau unangenehm oder lächerlich gemacht haben würde. In Mariens Munde waren sie ihm erhaben erschienen, es hatte in der Art und Weise, mit der sie sich auf ihre Pflichten berufen, auf ihren Gott gestützt hatte, ein Adel, eine Wahrheit gelegen, die dem jungen Weltmanne beneidens- und bewundernswürdig schienen.
O glücklich derjenige, der bei den schwierigen Lagen, in die das Leben ihn versetzt, eine andere Stütze hat, als bloß sein Ehrgefühl. Glücklich derjenige, der ein Auge über sich glaubt, das ihn bewacht, eine Hand, die ihn stützt, einen Willen, in dem der eigene Wille aufgehen kann wie der Strom im Meere.
Franke ging in seinem Zimmer auf und ab und betrachtete den Winterhimmel, der von grauen Wolken bedeckt war.
Ganz unten am Horizont webte die untergehende Sonne einen Saum von Purpur und Gold um den schweren Wolkenmantel und einzelne Licht- und Glutstrahlen schossen unter demselben von Zeit zu Zeit hervor.
»O Menschenleben, grau in grau«, sagte Franke vor sich hin, »der Glaube ist die Sonne, die dir Licht und Glanz verleiht. Welch ein Elend, dass diese geistige, diese göttliche Sonne nichts ist, als ein Spiegelbild, zusammengesetzt aus den Wünschen und Träumen unsrer eigenen Brust. Unter dem Messer des Anatomen, unter dem Mikroskop des Naturforschers, in den Schmelztiegeln des Chemikers, unter dem Spaten des Geologen zerfliegt das schöne Sonnenbild eines persönlichen Gottes, und an seine Stelle tritt das kalte tote Gesetz und die ewig mit ihm sich gattende Materie. Wir arbeiten auf dieser Welt, um unser Dasein zu fristen und tun das Rechte, um vor unseren eigenen und anderer Augen nicht als Lumpe dazustehen. Grau in Grau – alles, was wir anseh'n, denken, fühlen. Es lohnt kaum zu leben, und selbst das Vergnügen, der Genuss – was ist's? – Ein Moment, in dem ein Blitz durch die öde Dunkelheit zuckt. Wer glauben könnte! – glauben! pah, glauben ist schlafen; erwachen müssen wir alle und ich glaube, ich träume jetzt und zwar von einer stolzen und schönen Frau. Dummes, dummes Zeug!« und damit rieb er sich die Stirne und ging hinab zu seinem Wirte, dessen chemisches Laboratorium er besehen sollte. –