Читать книгу Die Wächter der Insel - Juliett L. Carpenter - Страница 4
2. Kapitel
ОглавлениеZwei Tage zuvor
Im fünften Stockwerk eines klobigen Bürohochhauses in Sydney flötete das Telefon. Keine Minute lang kann man sich in Ruhe auf seine Arbeit konzentrieren, dachte Lindy erbittert und schnappte sich den Hörer. "Lloyd Andrews Limited, Deggendorf am Apparat."
"Hallo Lindy, hier ist Robin Cameron."
Sie erkannte seine Stimme sofort, auch nach all den Jahren, und ihr Gehirn brauchte ein paar Sekunden, bis es sich von dem plötzlichen Stromstoß erholt hatte.
"Lindy, bist du noch dran?"
"Ja, ja. Aber ich weiß gar nicht, was ich sagen soll ... Wieso rufst du an?"
"Wollte nur mal hören, wie´s dir geht."
Ach, er will nur mal hören, wie es mir geht, dachte Lindy bissig. Auf einmal. Sie ärgerte sich darüber, dass ihr Puls raste wie nach einem Sprint.
"Gut geht´s mir, na ja, ich bin jetzt bei Lloyd Andrews im Marketing ... hast du ja schon gemerkt ... äh, ich bin jetzt stellvertretende Produktmanagerin für eine neue Seifenmarke ... interessante Sache, macht mir Spaß ..." Hör auf, du redest bloss Schwachsinn, dachte Lindy und knetete abwesend ihre Stirn. "Und wie läuft´s bei dir? Arbeitest du immer noch auf diesem Buschflugplatz?"
"Ja, man schlägt sich so durch. Hör mal, ich bin nächstes Wochenende in deiner Gegend. Hast du Lust, mit mir was Essen zu gehen?"
"Nächstes Wochenende?" Lindy blätterte in ihrem Terminkalender, erinnerte sich an die Party am Sonntag und daran, dass sie am Montag die Unterlagen fertig haben musste, zog eine Grimasse, entschied sich, nahm den Hörer wieder. "Nächsten Samstag ... hm ... um acht?"
"Okay. Im Champs Elysées – falls es das noch gibt."
"Ich glaub schon. Na, dann bis Samstag."
Als sie auflegte, bemerkte sie, dass Tom, der andere Junior im Marketing, sie von seinem Schreibtisch schräg gegenüber grinsend beobachtete. Ich wette, er hat sich kein Wort entgehen lassen, dachte Lindy und schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln, das ihm hoffentlich das Blut in den Adern verstopfte.
Am Samstagabend war das Champs Elysées ziemlich voll, und Lindy war froh, dass sie den Tisch reserviert hatte. Es war eins dieser pseudo-französischen Lokale, früher hatte ihr das gefallen. Gereizt nahm sie einen Schluck von ihrem Chardonnay. Es war schon das zweite Glas. Lindy wollte nicht schon wieder auf die Uhr sehen, und im Grunde wusste sie auch genau, wie spät es war: immer noch halb neun, oder höchstens ein paar Minuten später.
Fünf Minuten gebe ich ihm noch, und keine Sekunde mehr, dachte Lindy. Es war entwürdigend, so lange sitzengelassen zu werden, und sie spürte, wie sich in ihrem Magen ein Knoten Wut ballte. Wie immer. Alles wie früher. Er war noch nie pünktlich gewesen, eigentlich hätte sie erst eine halbe Stunde später kommen müssen! Sie begann, ihm auf ihrem Smartphone eine Nachricht zu schreiben, doch in diesem Moment sah sie ihn schon durch die Tür fegen und mit einem der Kellner sprechen. Ihr Körper spannte sich. Sie beobachtete, wie er mit suchenden Blicken das Restaurant durchquerte. Gleich musste er sie an ihrem Ecktisch bemerken. Sein Blick richtete sich auf sie – und glitt ohne Reaktion über sie hinweg.
"He, Mister Cameron, brauchen Sie eine neue Brille?" rief Lindy halb amüsiert, halb beleidigt hinter ihm her, sah ihn stutzen und zurückkommen. Erst als sie seine Verblüffung bemerkte, fiel ihr ein, dass sie sich ziemlich verändert hatte in den Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten. Als sie zusammengelebt hatten, waren sie noch Studenten auf dem Weg zu einem MBA-Abschluss gewesen ... seither hatte Lindy die Jeans gegen Rock und Blazer eingetauscht, ihre langen dunklen Haare hatte sie sich kurz und weizenblond stylen lassen, und die Brille war im Müll gelandet, als sie sich schließlich doch noch an die Kontaktlinsen gewöhnt hatte.
Robin ließ sich auf den Platz ihr gegenüber sinken. Er grinste über das ganze Gesicht. "Ich hab dich nicht erkannt. Meine Güte."
"Das hab ich gemerkt." Lindy konnte nicht anders – sie musste zurückgrinsen. Robin sah fast so aus wie früher, er hatte noch immer den schmalen, sehnigen Körper eines Langstreckenläufers und dieses breite Grinsen, das von einem Ohr zum anderen zu reichen schien. Seine grünbraunen Augen leuchteten.
"Hatten wir nicht acht Uhr ausgemacht?" fragte Lindy.
"Doch. Vor Sydney war Stau. Kannst du mir nochmal verzeihen?"
"Na gut. Ausnahmsweise."
Mühe gegeben hat er sich ja nicht gerade mit seiner Aufmachung, stellte Lindy etwas enttäuscht fest. Er trug verwaschene Jeans und ein helles Hemd, das schon bessere Tage erlebt hatte. Seine glatten rotbraunen Haare hatten lange keinen Friseur mehr gesehen und sein Gesicht sah dank der Sonnenbrille witzig aus, zur Hälfte tief gebräunt und um die Augen fast weiss.
"Du siehst aus, als kämst du gerade von einer Expedition zurück."
Er erwiderte ihren kritischen Blick unbeeindruckt. "Darf ich annehmen, dass das nicht als Kompliment gemeint war?"
"Ich verstehe nur nicht, wie du auf diesem Flugplatz in dieser grässlichen Kleinstadt leben kannst, das ist alles."
Im selben Moment, als Lindy das sagte, wünschte sie schon, sie könne die Worte zurückholen, während sie noch in der Luft schwebten. Doch sie hatten schon ihr Ziel getroffen. Das breite Grinsen verschwand, und das hatte sie nicht gewollt – oder doch?
"Das haben wir alles schon vor drei Jahren ausdiskutiert", sagte Robin kühl. "Meinst du nicht, dass wir die Sache auf sich beruhen lassen könnten? Ich bin glücklich damit, anderen Leuten das Fliegen beizubringen, und du bist glücklich damit, Marketingstrategien für neue Seifenmarken zu planen, wenn ich´s am Telefon richtig verstanden habe. Ende."
Verlegen nahm Lindy einen Schluck aus ihrem Glas. "Tut mir leid. Ich glaube, ich bin schon ein bisschen beschwipst. Weil ich mit dem Essen auf dich warten wollte, habe ich seit acht Uhr schon drei Gläser Wein getrunken."
"Das kann ich leider nicht mehr aufholen. Mein Schicksal sind heute Saft oder Wasser", sagte Robin etwas besänftigt und versuchte die Bedienung auf sich aufmerksam zu machen. "Ne lange Strecke steht an. Verdammt lang – nach Neuseeland. Ich überführe Peter Brooks' Cessna, er hat sie an einen Club in Auckland verkauft."
Sie versteifte sich unmerklich, als er den Flug erwähnte, und natürlich entging ihm das nicht.
"Jetzt sag nicht, dass du immer noch nicht darüber hinweg bist", sagte Robin und seufzte. "Das mit deinem Vater ist schon so lange her."
"So etwas vergisst man nicht", sagte Lindy und wünschte, sie könnte sich in diesem verdammten Restaurant eine Lucky Strike anzünden. Aber sie hatte keine Lust darauf, rausgeworfen zu werden. "Der Anblick, wie sie ihn aus dem Flugzeugwrack gezogen haben ... sei froh, dass du sowas nie erlebt hast. Wieso überführt dieser Kerl sein Flugzeug nicht selbst?"
Robin grinste. "Peter? Er ist ein so schlechter Pilot, dass er Neuseeland vermutlich verfehlen und den ganzen Weg nach Südamerika weiterfliegen würde. Aber ich sag dir was – ich ruf dich an, wenn ich ankomme. Dann weißt du, dass ich sicher und gemütlich in Auckland hocke. Meinst du, das hilft?"
"Ja, doch, das klingt gar nicht schlecht."
Sie griffen gleichzeitig nach der Speisekarte, und ihre Finger berührten sich. Beide zuckten zusammen. Verwirrt begann Lindy in der Karte zu blättern und spürte zu ihrem Ärger, wie sie rot wurde. Sie hoffte, dass man es im weichen Kerzenlicht nicht sah.
"Nur damit du es weißt, du bist eingeladen", hörte sie Robin sagen.
"Bist du sicher? Deine schottischen Vorfahren würden sich im Grab herumdrehen, wenn sie wüssten, wie du mit deinem Geld um dich wirfst."
"Sollen die sich doch drehen, so oft sie wollen. Abgesehen davon brauchst du nicht zu denken, dass ich als Fluglehrer einen Hungerlohn verdiene. Keine Sorge. Ist zwar nicht berühmt, aber immerhin. Ich kann´s mir leisten."
"Das wollte ich damit nicht sagen." Lindy fragte sich niedergeschlagen, wie lange es wohl dauern würde, bis wieder einmal die verbalen Stahlpfeile flogen. Nicht sehr lange, wenn es so weiterging. Sie entschied sich, das Thema zu wechseln. "Mein Gott, ich war schon seit einer Ewigkeit nicht mehr im Champs Elysées. Vielleicht hätten wir ins Blue Flamingo gehen sollten, das ist eher mein Revier. "
Er zog die Augenbrauen hoch. "Da drin kommt man sich doch nur vor wie in einer Hochglanzillustrierten. Außerdem hat das Champs Elysées viel besseres Essen."
Lindy spürte, wie Erinnerungen in ihr hochstiegen. "Erinnerst du dich, damals, hier haben wir gefeiert, als ich meine Zwischenprüfung bestanden habe ... puh, ist das lange her ..."
"Natürlich weiß ich das noch", sagte ihr Ex-Freund. Er betrachtete mit Vergnügen das riesige Steak, das ihm gerade serviert wurde. So wie sie ihn kannte, hatte er in den letzten Wochen von Sardinen aus der Dose und seinen scheußlichen Schinken-Marmelade-Sandwiches gelebt. "Du hattest diese witzige Bluse mit den Koalas an. Der Ausschnitt war ganz schön tief. Sogar der Kellner hat geglotzt."
Lindy lachte. "In der Firma könnte ich die nicht anziehen. Einer meiner Kollegen, Tom heisst der Mistkerl, versucht jetzt schon ständig, mich anzugrapschen. Ich werd´s ihm schon noch abgewöhnen."
Sie lächelten sich an. Robins Augen schienen ständig die Farbe zu wechseln, je nachdem, in welcher Stimmung er war. Jetzt waren sie grün, ein helles, durchscheinendes Grün. Wahrscheinlich lag es doch nur am Licht. Er trägt noch dieselbe Brille wie damals, stellte Lindy fest.
"Na, dann erzähl mal", meinte er. "Bist du schon im Hafen der Ehe gelandet? Womöglich hast du schon drei schreiende Bälger daheim? Rück raus."
"Nein, ich lebe nur mit meinem Freund zusammen", erzählte Lindy, während sie ihre Crevettes mit den Fingern zerlegte und in die Sauce tunkte. "Mit Anthony. Aber ich glaube nicht, dass ich mal heiraten werde. Und du?"
"In dieser Richtung nichts Neues jenseits der blauen Berge."
Sie fragte sich, ob er eine Freundin hatte. Sehr wahrscheinlich. Aber er schien nicht vorzuhaben, sie zu erwähnen. "Du hast Angst, deine Unabhängigkeit zu verlieren, Cameron, stimmt´s?"
Robin nippte an seinem Orangensaft. "Ja, das wird´s wohl sein. Klingt ganz schön banal, was? Aber ich will weiterhin immer das tun können, was ich wirklich will. Ohne Kompromisse."
"Das heißt, wenn du keine Lust mehr hast, in Tocumwal zu arbeiten, dann bist du am nächsten Tag verschwunden?"
"Na ja, vielleicht nicht gerade am nächsten Tag. Aber grundsätzlich schon. Habe ich dir eigentlich erzählt, dass ich in zwei Wochen die Weltmeisterschaften im Segelflug mitmachen werde?"
"Du weisst doch genau, dass du mir das nicht erzählt hast. Meine Güte!"
"Sie finden in Leszno statt, das ist in Polen. Mein Chef Danny sponsert mich und stellt mir seine eigene brandneue Ventus zur Verfügung. Er macht das natürlich nicht, weil er mich so gern hat. Als Aushängeschild braucht er mich, klar. Um ehrlich zu sein, Danny ist ein ziemlicher Mistkerl, aber seine Maschine ist wunderschön. Ich habe sie Southern Cross getauft."
Lindy begann von ihrem Chef Mr. Wu zu erzählen, und von dort kamen sie irgendwie zur Menschenrechtsbewegung in China. Als die Teller abgeräumt wurden, diskutierten sie hitzig über Kennedys Schuld am Vietnamkrieg. Robin spielte den Teufelsadvokaten, aber das ließ Lindy nicht auf ihrem Lieblingspolitiker sitzen. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, wann sie zuletzt so saftig mit jemandem gestritten hatte, und wann ein Gespräch ihr zuletzt soviel Spaß gemacht hatte.
Während die Stunden verstrichen, leerte sich das Restaurant allmählich. Aber am Ecktisch saßen Lindy und Robin sich noch immer gegenüber. Kennedy ließen sie längst wieder friedlich in seinem Grab ruhen, irgendwie waren sie beim Thema alte Freunde aus dem Studium gelandet und wie man über Facebook den Kontakt zu ihnen halten konnte.
„Ich bin immer noch nicht bei Facebook“, gestand Robin. „Reizt mich einfach nicht.“
Lindy verzog das Gesicht. „Und ich habe mich wieder abgemeldet, nach diesen ganzen Datenschutzskandalen. Aber dafür habe ich neulich live und ganz in echt Malcolm und Tom getroffen, stell dir das vor – sie sind bei Harding & Brown, stell dir das vor. Dort wollten sie doch eigentlich nicht hin." Die Weinkaraffe vor ihr war leer, und ihre Wangen fühlten sich heiß an, wahrscheinlich waren sie rot wie Tomaten. Sie trank selten so viel. "Und Melissa arbeitet bei Main Score. Sie sind also alle im Management gelandet."
Robin ließ den Blick nicht von ihrem Gesicht. "Klar. Wie geht's ihnen? Hat sich Tom wirklich den BMW gekauft, von dem er immer geträumt hat?"
"Kann sein, danach habe ich ihn nicht gefragt. Um ehrlich zu sein, es war ein bisschen abstoßend", gestand Lindy. "Alle, die ich getroffen habe, haben sich ziemlich verändert."
"Klingt logisch", sagte Robin ruhig. "Ich habe mich auch verändert."
"Ja, du bist anders geworden ... aber du legst nicht so einen schrecklichen Wert darauf, andere zu beeindrucken. Unter meinen Freunden ..."
" ... die auch mal meine Freunde waren, vor der Tocumwal-Ära ..."
" ...kommt es doch nur darauf an, den richtigen Lebensstil zu haben. Stil! Ich glaube, ich habe das Wort ein paarmal zu oft gehört. Es traut sich ja keiner mehr, einen eigenen Geschmack zu haben. Wenn der seiner Clique nämlich nicht gefällt, dann ist er auf einmal der Trottel vom Dienst."
"Ich weiß", sagte Robin Cameron. "Das weiß ich leider noch ziemlich gut."
Lindy sah in seinem Gesicht, dass die Erinnerung bitter schmeckte, doch sie konnte nicht mehr aufhören zu reden, die Worte bahnten sich ihren Weg nach draußen. "Man kann nicht mehr den kleinsten Misserfolg eingestehen. Das würde ja bedeuten, dass man nicht mehr zu den Gewinnern gehört ... Mein Gott, wenn ich daran denke, was aus den anderen geworden ist, bin ich fast froh darüber, dass du nach Tocumwal gegangen bist ..."
Sie merkte, dass Robin sie verblüfft anstarrte.
"Manchmal glaube ich, dass du doch das Richtige getan hast", wiederholte Lindy.
"Du musst wirklich beschwipst sein", sagte Robin sanft.
Ein Kellner nutzte ihre kurze Gesprächspause, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass das Restaurant gleich schließen würde. Verlegen räumten Robin und Lindy ihre Sachen zusammen. Als sie das Restaurant verließen, wurden hinter ihnen bereits die Lichter ausgeschaltet.
Einen Moment lang standen sie gemeinsam auf dem Bürgersteig.
"Na ja, so schlimm war das Wiedersehen doch gar nicht, oder?" meinte Robin. "Zumindest haben wir uns nicht die ganze Zeit gestritten. Vielleicht haben wir doch was gelernt in diesen drei Jahren."
Lindy zögerte, wollte nicht daran denken, dass sie ihn nach diesem Abend vermutlich wieder ein paar Jahre lang nicht sehen würde. Ich liebe ihn nicht mehr, schon längst nicht mehr – und zu Hause wartet Anthony auf mich, sagte sie sich trotzig, doch eine kleine Stimme in ihrem Inneren lachte höhnisch.
"Wo steht dein fahrbarer Untersatz?" fragte Robin. Seine Augen blickten seltsam, braun waren sie jetzt, und Lindy konnte ihren Ausdruck nicht deuten. "Ich bringe dich noch hin."
"Richtung Park", sagte Lindy vage, und sie machten sich gemächlich auf den Weg. "Fährst du immer noch deinen blauen Ford? Ich wette, du hast wieder nicht abgeschlossen."
Er zuckte die Schultern. "Kann sein. Und wenn schon – den klaut keiner mehr. Siehst du, das ist einer der Vorteile, wenn man keinen schicken BMW hat."
Entspannt, zufrieden gingen sie nebeneinander her und erreichten bald die ersten Grünflächen. Neben ihrem roten Mitsubishi blieb Lindy schließlich stehen.
"Na, dann ...", sagte Robin, aber Lindy machte noch keine Anstalten einzusteigen.
"Weißt du, wenn du nur angerufen hättest ... nach dem großen Krach ... dann wäre es vermutlich ganz anders gekommen", sagte sie und achtete darauf, dass ihre Stimme sachlich klang. Sie fühlte sich schutzlos. Eine witzige Bemerkung von ihm hätte sie jetzt nicht verkraften können. "Aber wir waren wahrscheinlich beide zu stolz dafür."
Nein, er machte keine witzige Bemerkung. Er sah nur in eine andere Richtung, und seine Stimme klang seltsam, als er sagte: "Und ich wünschte, ich hätte mein Temperament damals ein bisschen besser unter Kontrolle gehabt ..."
Lindy spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Mach dir keine großen Hoffnungen, Lin, dachte sie. Er arbeitet nur die Vergangenheit auf.
"Mein Hitzkopf war auch nicht gerade von Pappe", gab sie zu. "Schon erstaunlich, dass man in einer einzigen Nacht alles kaputtmachen kann, was man in Jahren zusammen aufgebaut hat."
"Nein, nein, so war es nicht“, widersprach er. „Der Streit war nicht Ursache, sondern Wirkung. Wir hatten einfach beide verschiedene Wege eingeschlagen und sind sie gegangen, koste es, was es wolle."
"Warum haben wir dann den Kontakt abgebrochen? Das hätte nicht sein müssen."
Robin zögerte eine Sekunde lang, bevor er zugab: "Es hat zu weh getan."
"Na ja, inzwischen wissen wir wohl beide, dass Beruf und Selbstverwirklichung allein nicht glücklich machen."
"Hätten wir damals auch schon kapieren können."
Lindy lachte verlegen auf. "Weißt du was, du Mistkerl? Ich habe mir all die Jahre gewünscht, dass du zurückkommen würdest."
Sie blickte ihn an und versuchte, aus dem Tumult in ihrem Inneren schlau zu werden. Wir haben uns so weit voneinander entfernt, dass wir kaum noch Gemeinsamkeiten haben, dachte sie. Es würde nicht mehr funktionieren!
Aber aus irgendeinem Grund genügte der Gedanke nicht, um ihre Pulsfrequenz wieder auf normales Maß zu senken. Ihr Hirn wusste, dass es mit ihnen vermutlich keinen Sinn hatte, so wie sie jetzt waren, aber gleichzeitig wünschte sie sich Robin zurück, und das mit einer Sehnsucht, die sie selbst erstaunte. Es war ein schrecklicher Gedanke, dass sie sich vielleicht die letzten drei Jahre lang angelogen hatte, dass sie damals vielleicht eine Chance weggeworfen hatte, wie man sie nur ganz selten bekam.
Von ihm kam nichts, er ging schweigend neben ihr her, als habe er sie überhaupt nicht gehört.
In Lindys Magen war ein scheußliches Gefühl, so als habe sie Spinnweben und Backsteine gegessen statt Seeteufelmedaillons mit Pinienkernen.
"Auf jeden Fall wünsche ich dir für die Zukunft alles Gute", sagte sie. "Wir sollten uns jetzt besser auf den Heimweg machen ..."
Ganz plötzlich drehte er sich zu ihr, zog sie an sich und küsste sie. Überrascht lag Lindy schlaff in seiner Umarmung, doch dann begann sie den Kuss zu erwidern. Sie spürte seine Hand auf ihrer Wange, sanft und sehr vertraut. Ihre Frisur geriet durcheinander und ihr Lippenstift verwischte sich, als sie sich noch einmal küssten, heftiger diesmal.
Lange Zeit standen sie dort auf dem Gehweg, und Worte waren gar nicht nötig. Schließlich schafften sie es, sich voneinander zu lösen. Lindys Stimme war heiser. "Es würde nicht klappen mit uns."
"Wahrscheinlich nicht", hörte sie ihn sagen. "Aber verdammt, ich kann dich jetzt nicht so einfach gehen lassen. Ich will dich gar nicht gehen lassen. Ich hab dich vermisst."
"Wir könnten es ja nochmal versuchen", sagte Lindy, legte die Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge. Er roch nach Sonnenöl und Rauch.
"Bist du sicher?"
"Vielleicht soll das so sein – dass wir nochmal eine zweite Chance bekommen."
"Aber wie und wo ... Tocumwal ..."
"Ruf mich einfach an, sobald du zurück bist", sagte Lindy leise. "Wir finden einen Weg."
"Versprochen", flüsterte Robin.