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Eidechsen

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Wer auch immer das erste Konzept eines Warteraums entwickelt hat, gehört an den Hoden aufgehängt. Was bringt es den Raum in einer beruhigenden Farbe zu tapezieren, wenn der gesamte Inhalt und die Atmosphäre einen irritiert und zur Weißglut treibt?

Ich komme mir auf diesen lächerlich kleinen, modischen Stühlen wie in einem Mausoleum vor. Der klinische Geruch wird passend von einem Teeservice und Wassergläsern unterstützt, welche aussehen, als hätte man sie seit der Vorkriegszeit nicht mehr in Anspruch genommen. Dazu kommen die alten uninteressanten Zeitschriften und die alten Menschen, welche sich hievend und stöhnend durch ihre sinnlose Existenz quälen. Natürlich sind alle alten Menschen nicht gleich alte Menschen.

Alt werden ist bestimmt nicht ganz uninteressant, wenn man, nach 40 Jahren Arbeit im Hamsterrad, endlich aufhören darf, ununterbrochen zu rennen. Dabei ist genau das der größte Fehler, den man begehen kann.

Der Moment, in dem man stehen bleibt, baut der Körper ab, sowohl physisch als auch psychisch, was darin resultiert, dass man auf einmal wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt und von heute auf morgen zu einem unfähigen Sabbersack wird, den die Familie so schnell wie möglich in irgendein Heim abschieben möchte. Nur solche Gestalten geistern nämlich hier in dieser Praxis umher. In einer Ecke dient ein Infusionsbeutelstand als Kleiderhaken. Soll wohl witzig oder selbstironisch sein, ist aber einfach nur genauso fehl am Platz wie der riesige, zusammengeklappte, weiße Sonnenschirm, welcher grundlos mitten in der Rezeptionshalle steht. Muss wohl zum Winter reingeholt worden sein, aber der dauert jetzt schon seit Monaten an und man könnte doch wohl erwarten, so etwas in einem Kellerraum zu verstauen. Das ganze Bild wird passenderweise von einem riesigen Gemälde abgerundet, das so aussieht, als hätte man einer weißen Eidechse mit einer Schrotflinte ins Gesicht geschossen und die Sauerei von einem Zweitklässler mit Fingerfarben auf einer Leinwand verewigen lassen. Es ist schon lachhaft, was aus der Kunst geworden ist.

Dass alles auf dieser Welt Kunst sein kann und interpretationsbedingt und unumstößlich ist, muss wohl doch die beste Ausrede für jeden talentlosen Depp sein, um sich besonders zu fühlen. Wenn man von furchtbar autistischen Strichmännchen mal absieht, konnte und wollte ich noch nie zeichnen oder malen, und dennoch könnte ich lediglich meinen Arm in einen Farbeimer tunken, durch eine Leinwand hindurchschlagen und es als Kunst deklarieren. Dann würden sie alle aus ihren Ecken kriechen.

Diese Möchtegernintellektuellen, welche meinen würden, meine Botschaft hinter diesem impulsiven Meisterwerk verstehen zu können, indem sie irgendeinen Bockmist hineininterpretieren. Ob es sich um klischeehafte Interpretationen wie Gewalt, Freiheit, Liebe und Depression oder auch ganz banale Interpretationen wie Gummipömpel oder Wackelpudding handeln würde, ist ja total egal, da sie alle laut der Kunstwelt mit ihren Interpretationen recht hätten. Dabei ist es nur eine kaputte Leinwand mit ein bisschen Farbe drauf, weil irgendein geisteskranker Idiot meinte, mittendurch schlagen zu müssen.

Dieser Idiot wäre ich, und wenn ich der Meinung wäre, es aus irgendwelchen Gründen als Kunst zu bezeichnen, so sollte allein meine Interpretation des Ganzen gelten und nicht die von irgendeinem Weinconnaisseur, welcher in seiner Freizeit Holzboote baut und während seines später abgebrochenen Kunststudiums zu viele alte italienische Filme geguckt hat. Dasselbe gilt natürlich auch für irgendwelche Bücher, über die ich früher in der Schule immer solch unnötige Interpretationen, die keinen jucken, anfertigen musste. Mir fällt dabei auf, dass ich eigentlich normalerweise auch von all diesen Dingen irritiert bin, aber heute doch stärker als sonst. Ob es daran liegt, dass ich in den letzten 30 Stunden nur eine Stunde geschlafen habe, erkältet bin oder wegen besagter Erkältung hier sitzen und mir ein Attest besorgen muss, lasse ich den Literaturleistungskursstudenten dieser Welt zur Interpretation offen. Genau für solche unnötigen Atteste ist diese Praxis immer genau richtig, da ich die Ärztin schon lange persönlich kenne. Heute scheint jedoch nur ihr Mann da zu sein, und weil man sich ja noch nicht kennt, ist soziale Konvention à la Händeschütteln angesagt.

Meine Hände sind dank der Erkältung und meiner Daunenjacke, die ich die ganze Zeit schon nicht ausziehen wollte, allerdings sehr schwitzig geworden und ich hasse es, Leuten einen schwitzigen Händedruck zu verpassen. Beim Konzentrieren darauf, keine schwitzigen Hände zu bekommen, werden sie natürlich noch feuchter und mir wird ganz warm. Ein flaues Magengefühl, welches man kriegt, wenn man nervös wird, macht sich in mir breit.

Ich sehe heute aber auch aus. Wo ich sonst kaum einen Tag ohne Dusche ertragen kann, habe ich es aufgrund von Gleichgültigkeit und Krankheit seit Tagen nicht geschafft Hygiene, mit Ausnahme des Zähneputzens, zu betreiben. Meine Haare sind dadurch ungewöhnlich fettig, fast so wie früher, als mein bester Freund mich scherzhaft immer mit einer Fritteuse verglich, weil ich damals immer zu viel Haargel benutzte.

Ich war so faul, dass ich nicht mal Socken unter die Schuhe angezogen hatte, was sich jetzt als großer Fehler entpuppte, denn auch sie wurden nun feucht und schwitzig und ich roch wahrscheinlich wie sonst was, als mir nun wässriger Schnodder leicht aus der Nase lief. Das Hosenbein musste sowohl dafür wie auch für meine schwitzigen Hände notgedrungen ausreichen, denn nun war er da. Ein paar Minuten zu spät, wie sich das für einen Arzttermin so gehört, stand er vor mir. Aus unerklärlichen Gründen hatte ich ihn mir deutlich älter vorgestellt, als er so ganz gepflegt dastand in seinen Satinschuhen. Mein so ungewaschenes Auftreten war mir jetzt fast schon peinlich. Der erwartete Händedruck war immerhin relativ trocken.

Im Praxiszimmer tippte er dann auf seinem Computer vor sich hin und protokollierte, wie es zu meiner Erkältung kam, als würde ich wie der Zeuge eines Verbrechens auf der Polizeiwache Bericht erstatten. Er will mich abtasten und meine Atmung überprüfen. Ich hingegen will doch nur mein blödes Attest und hier schnell wieder raus, gebe mich aber seinen Praktiken gegenüber geschlagen.

Ich gebe es ja zu, dass ich eigentlich nur ein paar dieser aufkommenden langweiligen Kurse überspringen möchte, ohne Konsequenzen für meine Abwesenheit zu kassieren. So wie er am Rumfummeln und Grübeln ist, scheint allerdings doch irgendetwas nicht mit mir zu stimmen. Als er dann noch meinen Rachen sowie meine Ohren überprüft und bemerkt, dass ein wenig zu viel Ohrenschmalz vorhanden ist, wird es mir nun doch ein bisschen zu peinlich. Das ist es aber wert, wenn ich dafür das Attest schlussendlich erhalte.

Immer diese Homöopathen und ihre ach so akribische Gründlichkeit. Wie ich jetzt höre, hat er auf einmal die brillante Idee, mir mit einer Spritze in den Hals zu stechen. Da hätte ich ja auch gleich zu Hause recherchieren können, was mir fehlt.

Krebs, Schwangerschaft, Strahlentherapie und Abtreibung; jede Diagnose und Behandlung erscheinen mir sinnvoller, als mir mit irgendeiner meterlangen Nadel wie bei einem Kebab direkt durch den Hals stechen zu lassen.

Zu müde, um mich zu wehren, willige ich ein und bereite mich auf mein Ende vor, obwohl mir Nadeln normalerweise nichts ausmachen. Erst jetzt realisiere ich, dass er mir nicht durch den Hals, sondern in den Mund von innen in den Hals spritzen möchte. Das ergibt schon eher Sinn und ich fühle mich ganz schön dämlich, dass ich darauf nicht von selber gekommen bin.

Überraschenderweise tut es gar nicht weh. Mein Hals wird relativ taub und zu schlucken fühlt sich an, als hätte man mir zwischen meinem Kopf und meinem Körper ein Vakuum installiert, welches alle Substanzen gefühllos von A nach B transportiert. Er erklärt mir, dass ich möglicherweise morgen zu irgendeinem Infusionstermin zurückkommen solle, was mir aber recht ist, da es bedeutet, einen weiteren Tag sacken lassen zu können.

Wie ich jetzt so die Praxis fast eine halbe Stunde später verlasse, fühlt es sich schon wie ein unnötiges Getue an, nur um ein Attest zu beschaffen. Wenn es aber tatsächlich ein Problem mit meiner Gesundheit gibt, war es gut, zu lügen und den Unterricht zu schwänzen. Erst beim Auto angekommen, bemerke ich, dass ich mit dem Attest das Einzige, wofür ich nun eigentlich gekommen war, doch vergessen habe. Um jetzt noch mal zurückzustapfen bin ich aber entschieden zu müde und morgen ist ja auch noch ein Tag.

Somit sind es schon einmal zwei ganze Tage, an denen ich der uninteressanten Lektüre meiner Dozenten entgehen kann. Es sollte aber dennoch machbar sein, ein paar weitere freie Tage durch Tarnung und Täuschung zu erlangen. Nichts macht mir mehr Freude, als einfach zu Hause in Frieden sitzen zu können, die Seele baumeln zu lassen und mit der wenigen Zeit, die ich in dieser Existenz habe, zu tun, was ich möchte.

Das hört sich für viele trostlos und traurig an, aber nicht jeder Mensch auf Erden braucht jeden Tag diese Dauerbeschallung an nutzlosen Informationen und das Gequatsche der anderen über die ach so „interessanten“ Geschichten ihres alltäglichen Lebens. Irgendwas sagt mir jedoch, dass diese Einstellung eigentlich nicht in Ordnung sein kann. Ich verstehe es irgendwie auch nicht, warum dieses Semester mich so lustlos gemacht hat. Schuld zuzuschieben ist immer einfach und eben das mache ich jetzt auch mit der Behauptung, dass all diese Pflichtkurse, die man gar nicht selber gewählt hat, einem den Spaß am Studieren nehmen. Diese unglaublich nervige Präsentation für diese lächerliche Ausrede eines „Philosophiekurses“ habe ich nach wie vor noch nicht angefangen.

So war es bereits in der Schule, als jedem Schüler die Mathematik aufgezwungen wurde. An sich ist Mathematik ein Bestandteil des Lebens und dessen Notwendigkeit steht außer Frage. Auf der anderen Seite frage ich mich bis heute, wann ich die Vektorrechnung aus der analytischen Geometrie auch mal an der Supermarktkasse gebrauchen kann.

Es ist schon zum Haareraufen, dass alles im Leben mit der Zeit geht, sich fortbildet und trotzdem ist unser mausgraues deutsches Schulsystem immer noch 250 Jahre alt und seitdem unverändert. Dem verdanke ich unter anderem auch meinen etwas mittelmäßigen Abschluss, der im Durchschnitt aufgrund des Mathekurses etwas abgerutscht ist. Glücklicherweise bin ich nun auch schon fast zu Hause, da dieser Gedankengang sich allmählich zunehmend negativ auf meine Fahrweise im Straßenverkehr auswirkt.

Beim Aufschließen der Haustür frage ich mich, ob er auch heute wieder auf mich wartet. Kurios wie es auch sein mag, sitzt der Marienkäfer tatsächlich immer noch an der exakt gleichen Stelle wie auch die letzten Tage, als ich nun mein Schlafzimmer betrete und nach oben blicke. Seit ich ihn vor knapp einer Woche entdeckt habe, ist es zur Gewohnheit geworden, beim Betreten des Zimmers an die Decke zu schauen, um zu überprüfen, ob er noch da ist.

Tagelang hat er sich jetzt nicht bewegt. Das Fenster war oft genug offen gewesen. Er hätte rausfliegen können, wo eine ganze Welt auf ihn wartet, aber stattdessen hockt er nur in diesem Zimmer. Soll mir recht sein. Marienkäfer haben womöglich auch ab und zu Hunger. Irgendwann wird er sich schon bewegen müssen.

Theorie der Marienkäfer

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