Читать книгу Theorie der Marienkäfer - Julius Anton Ulbrich - Страница 9
Papierblumen
ОглавлениеWenn eine Sauna komplett aus Plastik bestehen würde, wäre der Geruch in etwa so, wie es momentan in diesem stickigen Raum dunstig und müffelnd zu sich geht.
Seit sechs Stunden sitzt man nun hier, starrt desinteressiert in die Leere und lässt unzählige Präsentationen über sich ergehen. Bei keiner einzigen habe ich bisher zugehört; nicht mal bei meiner eigenen. Man sagte mir, sie wäre exzellent gewesen. Schon ernüchternd, wenn man bedenkt, dass ich diese Präsentation in den vergangenen Stunden beim „Zuhören“ der anderen Präsentierenden angefertigt hatte.
Knapp 20 Minuten bevor ich dran war, konnte ich sie komplettieren und es war mit Abstand eine der inhaltlich schlechtesten Darbietungen, die ich mir in meinem bisher kurzen Leben aus dem Arsch gezogen habe. Jedoch fraß man es mir buchstäblich aus der Hand.
Energie und Selbstvertrauen. Mein heutiger Erfolg ist das Resultat dieser zwei Elemente sowie der unbequemen Kleidung, welche ich sonst im Leben nicht in meiner Freizeit anziehen würde. Irgendein weiser Mann, nehme ich mal an, sagte einmal vor langer Zeit „dress to impress“ und dies schien sich nun tatsächlich zu bewahrheiten.
Gott sei Dank, dass ich an Münchens Wirtschaftsuniversität vor Ewigkeiten gelernt habe, ordentlich zu präsentieren und Menschen etwas stimmig zu machen, selbst wenn es inhaltlich nicht so stark ist. Wenn ich es darauf anlegen würde, könnte ich sogar einem Rollstuhlfahrer ein paar Wanderschuhe schmackhaft machen. Glücklicherweise steuert mein Moralkompass komplett dagegen.
Der junge Mann, welcher in diesem Augenblick dran war, hätte diese Fähigkeiten ebenso gut gebrauchen können. Er steht da wie ein Schluck Wasser in der Kurve und redet mehr mit der Tafel und seinen Zetteln als mit dem Publikum. Zumindest wenn man dieses Geflüster, bei dem man sich hier in den oberen Rängen richtig anstrengen muss, als Reden bezeichnen möchte. Somit weiß ich noch weniger als sonst, was sein belangloses Thema, welches keinen interessiert, sein soll.
Meine Aufmerksamkeit ist komplett auf das Mädchen gerichtet, das neben mir sitzt und ebenso wenig zuhört. Mit Tausenden Farben malt sie seit heute Morgen das Cover ihres Schreibblocks aus und unerklärlicherweise schaue ich schon seit Stunden dabei zu. Ich kann nicht beschreiben wieso aber es ist mit Abstand das Beruhigendste, was ich in den letzten fünf Jahren erlebt habe.
Der gesamte Raum verschwimmt im Hintergrund beim Zuschauen, während sich die weißen Kacheln mit Farbe füllen und das Leben scheint in Ordnung. Man sollte eher dieses Ausmalen auf die Leinwand da unten projizieren anstatt der lächerlichen und kläglichen Darbietung des momentan Präsentierenden. Zumindest würden dann wenigstens ein paar der Zuschauer endlich mal aufpassen.
Was soll das überhaupt? Es ist doch nur ein Schreibblockcover, welches ausgemalt wird und dabei wohlgemerkt nicht mal besonders gründlich.
Es regt mich schon fast auf bei dem Gedanken, dass so etwas Triviales besser zu funktionieren scheint als Psychotherapie, Reden mit Familienmitgliedern, alle anderen möglichen Ablenkungen wie Sex, Drogen und Alkohol oder sogar dieses dämliche Fachkonsultieren mit dem „Lebenscoach“, den mir meine Eltern aufgebrummt haben, nachdem sie herausgefunden hatten, dass ich den Unterricht letzte Woche habe sacken lassen.
Ich will gar nicht wissen, was so ein Typ reichen Menschen für ein bisschen Gequatsche über das Leben und die Welt mit ihren Erste-Welt-Problemen pro Stunde aus der Tasche zieht. Scheinbar ist das Ausmalen eines Schreibblocks alles, was ich brauche, um richtig zu funktionieren. Ich frage mich, ob ich diesem Heini bei unserem nächsten Termin davon erzählen werde.
Dass ich beinahe jedes Mal aggressiv werde, wenn sie den Stift niederlegt, um so zu tun, als ob sie aufpassen würde, kann doch wohl kaum normal sein. Ich will sie natürlich jetzt auch nicht ansprechen nur um zu bitten, sie solle doch möglichst ohne Unterbrechung weitermalen, damit ich dabei zusehen kann. Am Ende werde ich sonst noch der Vergewaltigung und sexuellen Belästigung beschuldigt, weil ich in ihre Richtung geatmet habe und wie man bekanntlich weiß, wäre mein Leben als Mann in der heutigen Gesellschaft damit grundlegend vorbei.
Ein lustloses, asynchrones Klatschen, welches mit jedem Mal erbärmlicher wird, reißt mich plötzlich aus meinem Gedankengang. Der junge Mann scheint mit seiner Hundescheiße fertig zu sein und stolpert kompetent beinahe noch über ein paar Kabel auf seinem Weg zurück ins Publikum.
Kaum ist man von der unentbehrlichen Vorstellung erlöst, folgt die nächste. Es sollen noch ungefähr sechs oder sieben Stück folgen und ich bin mir nicht sicher, ob ich bis dahin überlebe.
Vielleicht haben wir ja Glück. Ein Feuer, ein Erdrutsch, Terroristen, plötzliche Erdnussbutterallergie: irgendetwas, was dem Ganzen vorzeitig ein Ende setzen könnte. Zumindest ein Feuer könnte ich „aus Versehen“ selbst legen, jedoch kann ich dann meiner Endnote hinterherwinken, während unser verschrobener Dozent sie mir wegen mutmaßlicher Brandstiftung oder so einem Quatsch entzieht.
Das momentan präsentierende Mädchen ist ein weiteres Paradebeispiel der öffentlichen Redeangst. Rot wie eine Tomate. Man könnte fast meinen, sie hätte selbst das Atmen verlernt. Dennoch scheint sie, was immer ihr Thema auch sein mag, gut über die Runden zu kommen.
Viel wichtiger allerdings ist, dass das Mädchen neben mir scheinbar einen Fehler gemacht hat. Sie ist ganz skeptisch mit der Wahl ihrer Farbe für die nächste Kachel. Immer wieder setzt sie den Stift an und bricht wieder ab, da sie sich nicht sicher zu sein scheint, ob sie weitermachen oder den Fehler mit einer anderen Farbe überdecken soll. Ich will schon fast einen Vorschlag machen, aber das ruiniert sicher die perfekte Illusion meiner malenden Muse und ihrer unabsichtlichen Gabe, mir das Leben zu erleichtern. Nach Sekunden, die sich wie qualvolle Stunden anfühlten, nahm sie den Mut auf, endlich weiterzumachen.
Warum befriedigt es mich so sehr? Normalerweise könnte man mich mit Kunst jagen, also was genau ist hierbei anders? Es ist wahrscheinlich nur so etwas Persönliches für mich, wie das jeder Mensch mit manchen Dingen eben so hat. Jeder hat insgeheim diese ganz außergewöhnlichen Dinge, Momente, Beschäftigungen oder Aktionen, die einen aus unerklärlichen Gründen einfach überglücklich machen. Bisher hatte ich so etwas nie und es ist schön, heute einen Schritt menschlicher geworden zu sein. Allerdings sollte ich diesen Gedanken so schnell wie möglich streichen, da es mich sowieso nur unnötig zum Grübeln und unter Umständen zum Brodeln bringt.
Interessanterweise war dieser Selbstrat längst zu spät, denn das Mädchen mit dem Tomatengesicht saß schon längst wieder in der Reihe unter mir und wir neigten uns mit der allerletzten Präsentation dem Ende zu. Wie ich jetzt realisiere, habe ich dann doch tatsächlich fast eine gesamte Stunde in diese eine Erkenntnis investiert. Die schnelle Zeitüberbrückung war es allemal wert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wegen der Malerei des Mädchens gut gelaunt bin oder weil ich dank dieser Vorlesung nie wieder in meinem Leben dieser verdünnten, billigen Philosophie beiwohnen werden muss.
So schnell wie dieser eine Augenblick nun schwand, wäre es mir allerdings doch lieber gewesen, mich nicht über meine eigene Inkompetenz aufzuregen und dass ich dem Mädchen stattdessen einfach weiter beim Malen zugeschaut hätte. Ich bin sehr glücklich und würde diesen Moment am liebsten für immer einfrieren. Den langweiligsten Kurs aller Zeiten jeden Tag zu durchleben, würde ich in Kauf nehmen, um dem Mädchen für immer beim Malen zuzuschauen. Dass das absolut schnulzig klingt, ist wahr.
Ebenso aber auch, dass jeder bestimmt schon mal den Wunsch hatte, die Zeit zu stoppen. Abgesehen davon, dass es physikalisch fürs Erste wohl unmöglich ist, bin ich froh, dass niemand über solch eine Gabe verfügt. Die meisten hätten es gar nicht verdient, würden es überhaupt nicht wertschätzen und würden solch ein Geschenk von unendlichem Wert bloß abgrundtief missbrauchen. Ob dies nun für Raub, Macht, Mord, Betrug und vor allem die Vergewaltigung jedes anderen Menschen auf diesem Planeten benutzt werden würde; ich bin mir sicher, kaum einer könnte widerstehen. Dabei sind es solch kleingeistige und primitive Zwecke für eine solch grenzenlose Kraft.
Ich könnte endlich meine Ruhe haben, wann immer ich will. Eine Woche lang durchschlafen. Endlos Zeit haben, um sich Wissen anzueignen, endlich mal Sport treiben, Hobbys entwickeln und ein besserer Mensch werden.
Na ja, das mit dem besseren Menschen würde wahrscheinlich nicht hinhauen, selbst wenn ich bis ans Ende der Unendlichkeit dafür Zeit hätte. Zu guter Letzt wäre es aber natürlich auch nützlich, um Momente, wie jetzt, für länger als einen Augenblick zu erleben.
Das fällt dann wohl eher unter Zeitverlangsamung, aber das wäre sicherlich in einem zeitkontrollierenden Paket inklusive. So sehr ich auch bete, die Zeit bleibt nicht stehen.
16.00 Uhr. Die letzte Sekunde meiner sinnlosen Existenz in diesem Kurs ist Geschichte. Es ist ein Moment, auf den ich eigentlich seit Ewigkeiten warte. Nun bin ich aber nicht unbedingt glücklich und zufrieden, als sie ihren Block in ihrer Tasche verstaut und für immer meinem Leben entschwindet. Der Saal leert sich und ich trete nach draußen in die kalte Nachmittagsluft. Was nun? Ich habe noch nicht nachgeguckt, habe gleich aber bestimmt irgendeine Arbeit für die Uni zu erledigen, wenn ich nach Hause komme. Papierblumen beim Füllen mit Farbe zu beobachten, wäre mir deutlich lieber.
Tatsächlich läuft das Mädchen von eben gerade vor mir in Richtung Innenstadt. Ich könnte sie ja auf einen Kaffee einladen oder was auch immer Menschen so als Standardprozedur machen, um jemanden kennenzulernen. Ergibt keinen Sinn.
Wir haben uns heute das erste Mal gesehen, wenn man es so nennen möchte, weil wir zufällig nebeneinandergesessen haben und kein Wort miteinander gewechselt haben und das würde bestimmt komisch rüberkommen, wenn ich sie einfach so frage, auf einen Kaffee mitzukommen.
Hübsch ist sie ja auch, also würde sie dann gleich wieder denken, ich will sie nur wegen ihres Aussehens kennenlernen, um mit ihr schlafen zu können, dabei interessiert mich bloß die Möglichkeit, als Freunde weiterhin nebeneinanderzusitzen, damit ich ihr eventuell wieder beim Malen zuschauen kann. Wenn ich ihr das genau so sagen würde, würde sie mich ebenso als Irren einstufen und nie wieder mit mir etwas zu tun haben wollen. Obwohl, wenn sie in einem meiner anderen Kurse ist oder sein wird, weil ja eh in ein paar Monaten ein neues Semester anfängt, könnte ich mich ja auch immer absichtlich neben sie setzen.
Das ist garantiert ein Weg, um als Stalker eingestuft zu werden, aber das könnte das Risiko möglicherweise wert sein. Was soll schon passieren? Ich sollte sie einfach fragen. Vielleicht hat sie ja auch was anderes vor. Kann aber auch sein, dass sie nichts vorhat und mir nur vorspielt, was vorzuhaben, um nirgendwo mit mir hingehen zu müssen.
Ein dumpfes lautes Knallen direkt in meinen Ohren unterbricht meine unnötige Grübelei, als ich blutend zu Boden stürze. Verwirrt wie sonst was, lag ich im kalten Schnee und eine unglaubliche Hitze strömte bis hinauf an meine Schädeldecke. Ich bin doch jetzt nicht ernsthaft ungebremst gegen dieses Straßenschild gelaufen, nur weil ich schon wieder am Tagträumen war? Jedenfalls hat es das Mädchen immerhin auf mich aufmerksam gemacht wie sie nun entsetzt zu mir herüberläuft. Mit einem Taschentuch tupft sie an meiner Kopfwunde herum und stellt sich mir vor. Sie fragt sogar, ob ich noch kurz in ihre Wohnung kommen soll, weil sie einen erweiterten Erste-Hilfe-Kurs bestritten hatte und der Meinung ist, dass das hier unter Umständen genäht werden müsste.
Ich willigte nicht ein, bedankte mich bei ihr und sagte, ich hätte einen ganz dringenden Termin, zu dem ich keinesfalls zu spät kommen dürfte, und dass ich mir am Bahnhofskiosk schnell ein Pflaster kaufen würde. Besorgt und auch ein wenig verdutzt verabschiedete sie sich und bog an der nächsten Kreuzung ab. Erst jetzt realisierte ich, was ich gerade getan hatte. Was war das denn gerade bitte? Ich muss mir wohl zu hart den Kopf gestoßen haben.
Ich sprintete los, konnte sie aber nicht mehr sehen, als ich zur Kreuzung gelangte. Ich sollte mir einfach noch ein paarmal mit dem Straßenschild eins überziehen und dem Ganzen ein Ende setzen. Ob ich dem Lebensguru auch hiervon erzählen soll? Wohl eher nicht.