Читать книгу 1000 £ Kopfpreis - tot oder lebendig - Julius Lauterbach - Страница 6
Der Inderaufstand von Singapore
ОглавлениеGleich nach der Ankunft wurden wir Deutschen in Automobilen nach dem in der Mitte der Singapore-Insel gelegenen Gefangenenlager „Tanglin Barracks“ befördert. Freudig erregte Stimmen schallten uns aus dem Innern der Einfriedigung entgegen, und als wir unser künftiges Gefängnis betraten, begrüßten uns ein kräftiges Hurra und der Gesang: „Deutschland, Deutschland über alles“. Nun folgte ein großes Händeschütteln, Fragen und Erzählen, denn unter den dreihundert Internierten besaß ich viele Bekannte: Großkaufleute, Kapitäne, Schiffsoffiziere, die Besatzung unseres Kohlendampfers „Markomannia“, das Prisenkommando des von uns zuerst gekaperten Griechen — sie und viele andere umdrängten uns und wollten von unseren Erlebnissen hören. Gleich am Abend gab es ein großes Fest, wobei allerdings die gute Stimmung der Teilnehmer die leiblichen Genüsse und was sonst zu einer Festlichkeit zu gehören pflegt, ersetzen mussten. Mit der Verpflegung und mehr noch mit den Wohnverhältnissen war es nämlich übel bestellt. Je hundert Mann schliefen in einer Baracke, Großkaufleute und Schiffsheizer im schönsten Durcheinander. Fieber und Dysenterie waren an der Tagesordnung. Auf alle Beschwerden hatte Lord Kitchener aus London kurz geantwortet, dass die Einrichtungen für die Deutschen genügten. Den Engländern blieb diese Entscheidung natürlich maßgebend.
In vielen Stücken hatten sich unsere Landsleute schon selbst zu helfen gewusst. Aus Bierkisten waren Möbel entstanden, und die Wohlhabenden sorgten dafür, dass die Mittellosen nicht allein auf die britische Gastfreundschaft angewiesen blieben. Turnverein, Gesangverein, Lesezirkel, Billard- und Kegelklub boten Unterhaltung. Auch der zwei Minuten vom Lager entfernte Sportplatz durfte benutzt werden, wobei Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett die Spieler beobachteten.
Der Lagerkommandant stellte mir Vergünstigungen in Aussicht, wenn ich mein Ehrenwort geben wolle, nicht zu fliehen. Meine Antwort, dass ich nach dem Völkerrechtsbruch, der mich zum Gefangenen gemacht habe, keinem Engländer mein Ehrenwort geben wolle, schien ihm nicht zu gefallen. Immerhin besann er sich auf den allgemein anerkannten Grundsatz, dass gefangene Offiziere nur mit ihresgleichen untergebracht werden dürfen, und da ich hier der einzige war, auf den diese Regel Anwendung finden konnte, erhielt ich ein kleines Haus für mich allein angewiesen. Reserveoffiziere, die nicht im Krieg die Uniform getragen hatten, wurden nicht anerkannt und ganz wie andere Zivilgefangene behandelt.
Ich lebte mich schnell ein, aber schon vom ersten Tage an beschäftigte mich der Gedanke, wie ich diesem unerfreulichen Aufenthaltsort heimlich den Rücken kehren könnte. Bald fand ich einige beherzte Männer, die auf das gleiche Ziel hinstrebten. In meinem Hause konnte ich nach Belieben Gäste empfangen, und so hatten wir die schönste Gelegenheit, in stundenlangen Zusammenkünften unauffällig Pläne zu schmieden, über Mangel an Geselligkeit konnte ich mich überhaupt nicht beklagen. Allein bei mir durfte die ganze Nacht Licht brennen. Dass ich zweitausend Dollar besaß, band ich den Engländern natürlich nicht auf die Nase. Bei der flüchtigen Untersuchung waren die gut versteckten Scheine unbemerkt geblieben.
Ein zwei Meter hoher Wellblechzaun, Stacheldrahtverhaue und elektrische Drähte umschlossen das Lager, und draußen stand alle hundert Meter ein Posten auf einer kleinen Tribüne, von der aus er das ganze Lager überblicken konnte. Innerhalb dieser Einfriedigung wurden wir dreihundert Internierten von einigen zwanzig Engländern und achthundertfünfzig Indern bewacht, die ehemals in unsern Baracken gehaust hatten und nun in einer ganz in der Nähe stehenden Kaserne wohnten. Ein Kinderspiel war es also gerade nicht, unbemerkt zu verduften.
Eins war uns bald klar: nur durch einen unterirdischen Gang, der außerhalb der Drahtverhaue mündete, konnte die Flucht gelingen.
Eine geeignete Stelle hatten wir bald gefunden, und ehe zwei Wochen nach meiner Einlieferung verstrichen waren, leitete der erste Spatenstich das verheißungsvolle Werk ein. So pflegt man ja in solchem Falle zu sagen. In Wirklichkeit begannen wir damit, die vom Sonnenbrand verhärtete Oberschicht mit Messern zu lockern. Richtiger Spaten konnten wir uns erst später bedienen.
Aus triftigen Gründen hielten wir unser Tun auch vor unsern Landsleuten ganz geheim. Spione befanden sich im Lager. Gefährlicher als die beiden japanischen Barbiere waren einige Elsässer, die alles, was sie aufschnappten, den Engländern verrieten. Durch aufgefangene Briefe, in denen sie den Wunsch aussprachen, gegen die Boches zu kämpfen, war der Verdacht zur Gewissheit geworden. Bei dem Mangel an Gesprächsstoff hätten sie gar zu leicht durch ein unvorsichtiges Wort Wind von der Sache bekommen können, und dadurch wollten wir unsere Hoffnung, die unser ganzes Sein erfüllte, nicht zuschanden werden lassen.
Es war ein mühseliges Werk, das da allnächtlich im geheimen vor sich ging, und die Schwierigkeit wurde noch größer, als bald die Regenzeit einsetzte und das Erdreich ausweichte. Bierkisten, die glücklicherweise in nicht geringen Mengen zur Verfügung standen, lieferten die Stützen. Nach jeder Schicht wurde die Öffnung mit einem Deckel verschlossen, und wenn dann die sorgfältig ausgehobenen Rasenstücke darüberlagen, hob sich die Stelle kaum von ihrer Umgebung ab.
Um keinen der deutschen Mitverschworenen zu schädigen — Gott weiß, wo sie jetzt stecken mögen — muss ich es mir leider versagen, ihre Namen zu nennen: aber es drängt mich doch, auch an dieser Stelle den Männern zu danken, die freiwillig die Hauptarbeit leisteten, indem sie zwei Monate lang einen großen Teil ihrer Nachtruhe opferten und im Schweiße nicht allein ihres Angesichtes zwei Meter unter der Erde schanzten, und zwar nackend, wie sie Gott geschaffen hatte. Einer lag ganz vorn im Tunnel auf dem Bauch, lockerte die Erde und schob sie hinter sich: der zweite füllte sie in der gleichen unbequemen Stellung in einen Kopfkissenüberzug: der draußenstehende dritte förderte sie mit Hilfe eines starken Bindfadens ins Freie und verteilte sie auf Blumenbeets und andere gärtnerische Anlagen, mit denen sich die Gefangenen in den Morgenstunden beschäftigten. Wenn dann noch der Sicherheit halber in die frisch aufgeworfenen Erdhügel ein paar Blumen gesteckt wurden, konnte niemand auf den Gedanken kommen, welcher geheimen Maulwurfsarbeit sie ihre Entstehung verdankten.
Aber die Posten? wird man fragen. Nun, wir hatten uns natürlich einen möglichst günstigen Platz ausgesucht, keine drei Schritte hinter dem hohen Wellblechzaun, so dass der dahinter auf seiner Erhöhung stehende Inder nichts bemerken konnte und auch kein Strahl der Bogenlampen uns verriet.
Langsam, aber sicher wuchs der Weg in die Freiheit. Von Zeit zu Zeit wurde ein dünner Bambusstock durch die Decke gebohrt, und wenn wir dann am folgenden Tage von der nächsten Baracke aus über den Zaun blickten, stellten wir jedes Mal mit Freuds fest, dass schon vor dem zur Flucht in Aussicht genommenen 23. Februar der Gang über das letzte Hindernis hinaus gediehen sein werde. Diesen Tag hatten wir gewählt, weil dann Neumond war und wir nur in einer dunklen Nacht entwischen konnten. Ein Chinese war für unsern Plan gewonnen worden. Dadurch konnten wir Vorbereitungen treffen, die für das Gelingen unseres Planes unbedingt erforderlich waren: ein Boot und vertrauenswürdige Leute sollten uns in der Nacht des 23. Februar an einem bestimmten Punkt der Küste erwarten und nach der nächsten holländischen Insel befördern.
Eines Tages durfte ich selber für einige Stunden das Lager verlassen, und zwar im Auto. Leider unter sicherer Bewachung und trotz der Hitze im geschlossenen Wagen. Mein Anblick sollte die Menschheit nicht aufregen, wurde mir gesagt. Der Zweck dieses Ausfluges war ein Verhör: ob ich mit „Exford“ auf Grund gewesen sei, da das Schiff stark leckte. Davon hatte ich nie etwas wahrgenommen, aber die Tatsache war mir dennoch leicht erklärlich. Der falsche Kompass hatte halt seine Schuldigkeit getan, der mit der Überführung des Schiffes betraute Offizier hatte aber nicht gemeldet, dass er festgefahren war. Ich hielt es nicht für nötig, die Engländer hierüber aufzuklären, und bedauerte nur, dass der Schaden nicht größer war. übrigens ist „Exford“ dem ihr zugedachten Schicksal doch nicht entgangen. Kürzlich hat eins unserer U-Boote den Kasten auf den Meeresgrund befördert. Hatten die Spione doch herausgefunden, dass bei uns etwas im Werke war? Ohne erkennbaren Anlass wurde plötzlich das ganze Lager durchsucht. Meinem Hause und dessen näherer Umgebung schenkten die Engländer ihre besondere Aufmerksamkeit. Nun lag aber unser Gang gerade in der entgegengesetzten Ecke des Lagers. Dass dort etwas Unerlaubtes vor sich gehen könne, kam ihnen anscheinend überhaupt nicht in den Sinn.
Weihnachten wurde still gefeiert. Die Engländer wollten uns von einem Geistlichen ihrer Nation eine Rede halten lassen, doch darauf wurde dankend verzichtet. Gern nahmen wir dagegen das Angebot des Inspektors Wegener von der Rheinischen Mission an, bei uns zu predigen. Er kam von Sumatra und durfte als Geistlicher ungehindert über Amerika nach Deutschland zurückkehren.
Selbstverständlich ließen wir auch Kaisers Geburtstag nicht ohne Feier vorübergehen. Außer Reden gab es eine kleine Ausführung, bei der die Engländer große Augen machten. Die lebenden Bilder ließen den Kommandanten bedauern, dass er seine Gattin nicht mitgebracht habe, und bei den von unseren Turnern gestellten Pyramiden meinte er bedenklich: „Was nützt dann der Wellblechzaun?“ Mit Stolz bemerkte ich, einen wie guten Eindruck unsere schmucken Leute machten. Allerdings gehörte nicht übermäßig viel dazu, von den traurigen Gestalten der Tommies vorteilhaft abzustechen.
Auch wer sich geistig beschäftigen konnte, war übel genug daran, wieviel schlimmer aber die vielen, die, wie z. B. die Matrosen und Heizer der im Hafen festgehaltenen Schiffe, nur körperlich anstrengenden Dienst gewohnt waren und nun unter den ungünstigen klimatischen Verhältnissen Woche um Woche, Monat um Monat in erzwungener Untätigkeit nutzlos die Zeit verstreichen lassen mussten! Dazu die Sorge um liebe Angehörige, bei manchen die Gewissheit, dass Frau und Kinder von den menschenfreundlichen Kerkermeistern in irgendein ungesundes Fiebernest verschickt worden waren und elend zugrunde gingen. Ich habe arme Teufel gekannt, denen vor allem die seelischen Leiden so zusetzten, dass sie allmählich geradezu in Stumpfsinn verfielen. Manche mochten denken, dass auch ich zu diesen Bedauernswerten gehörte. Wer bei dieser Hitze tagtäglich bis zu vier Stunden stramm marschierte, ungeachtet der Sonnenstrahlen, die nach der allgemeinen Überzeugung Fieber verursachten, der musste mindestens vom Tropenkoller befallen sein. Dass ich so meinen Körper auf die Flucht vorbereitete, band ich natürlich nicht jedermann auf die Nase, verstand daher recht gut, dass meine Antwort nicht die lieben Landsleute befriedigen konnte, die in mehr oder weniger spöttischem Tone nach dem Zweck meiner Übung fragten.
Nun muss ich aber endlich derjenigen gedenken, die aus eigenem Antrieb so wunderbar in unsere Pläne eingreifen sollten. Ich meine unsere braunen Wächter, die Inder. Nach der Art ihres Volkes blickten sie unter den khakigelben Turbanen düster in die Welt, und wenn wir uns auch in keiner Weise über die schweigend, mit gemessenen Bewegungen ihren Dienst tuenden Eingeborenen zu beklagen hatten, wäre doch wohl nie einer von uns auf den Gedanken gekommen, dass sie uns freundlich gesinnt seien. Umso mehr überraschte mich das folgende kleine Erlebnis. Eines Abends stand ich kurz vor Sonnenuntergang auf meiner Veranda und blickte zu dem auf der andern Seite der Einfriedigung aus seinem erhöhten Ausguck stehenden Posten hinüber, dessen Gestalt sich scharf vom Himmel abhob. Da plötzlich — narrten mich meine Augen? Nein, ich erkannte ganz deutlich: das dunkle Gesicht lachte, die Rechte legte sich zum Selam an die Stirn, und da hörte ich ihn auch schon mit unterdrückter Stimme, doch ganz deutlich in gebrochenem Englisch herüberrufen: „Emden-Offizier, Kaiser Wilhelm, Enver-Bei, Islam, Hurräh!“ Das letzte Wort genauso krähend, wie alle Briten ihre Begeisterung auszudrücken pflegen. Und das war noch nicht alles. Mit nicht zu verkennenden Gebärden ließ er mich wissen, wenn ich über den Zaun klettern wolle, werde er nichts sehen. Starr abgewandt blickte er eine Weile noch der entgegengesetzten Richtung, nachdem er einladend über das Hindernis gedeutet hatte.
Meine Vertrauten und ich beschlossen, diese wichtige Entdeckung für uns zu behalten, aber dass die Stimmung der Inder zu unsern Gunsten umschlug, trat bald allgemein zutage. Sie ließen uns merken, dass sie uns wohlgesinnt waren, die Engländer und deren Verbündete dagegen hassten. Auch die Ursache hierfür wurde uns bekannt. Mohammedanische Geistliche hatten verbreitet, dass Deutschland mit der Türkei verbündet sei und für den Islam kämpfe. Dazu kam, dass die Inder keine Post aus ihrer Heimat erhielten und dadurch nichts von ihren Angehörigen erfuhren, ferner, dass bei der Ernährung auf die Vorschriften ihrer Religion nicht genügend Rücksicht genommen wurde.
Ein äußeres Ereignis trug dazu bei, ihre Unzufriedenheit zu verstärken. Eines Tages wurde die Besatzung des französischen Kreuzers „Montcalm“, der zur Reparatur ins Dock gegangen war, neben die Kaserne des indischen Regiments und unsere Baracken einquartiert, zusammen ungefähr fünfhundert Mann. Eine üblere Gesellschaft hat wohl selten ein Schiff bevölkert. So unglaublich betrugen sich die Söhne der grande nation, dass ihre Gastgeber sich nicht anders zu helfen wussten, als immer ungefähr die Hälfte ins Gefängnis zu stecken. „Lieber will ich zehn indische Regimenter beaufsichtigen als diese Schweinebande“, entrang es sich einmal in meiner Gegenwart der Brust des Lagerkommandanten. Ein besonderes Vergnügen machte es ihnen, uns Deutsche mit ihrer „Marseillaise“ anzubrüllen, worauf unsererseits sofort mit „Deutschland, Deutschland über alles“ oder der „Wacht am Rhein“ geantwortet wurde. Weiter hatten sie keine Gelegenheit, uns ihre Abneigung zu zeigen. Die Inder dagegen, mit denen sie näher in Berührung kamen, behandelten sie wie die Hunde. Gleichmütig schauten die Eingeborenen drein, als ob alle Kränkungen an ihnen abglitten. Wie es in Wirklichkeit in ihnen aussah, sollte ich bald erfahren.
Anfangs Februar fiel mir eines Abends auf, dass ein indischer Unteroffizier, der kurz vorher einen in der Nähe arbeitenden Trupp chinesischer Kulis beaufsichtigt hatte, mein Haus umschlich. Sobald er mich erkannte, trat er rasch auf mich zu, legte mit stummer Verbeugung die Hand an die Stirn und fragte in gebrochenem Englisch:
„Emden-Offizier, darf ich mit Ihnen sprechen?“ Ich nahm ihn in den dunklen Küchenraum, wo wir vor Überraschungen sicher waren, und nun legte er los: „Emden'-Offizier, in wenigen Tagen sollen wir eingeschifft werden, um gegen Deutschland zu kämpfen. Das wollen wir nicht. Wir wissen jetzt, was für Menschen die Franzosen sind. Wer in ihrem Lande kämpft, kommt nie zurück, denn wer nicht im Kampf getötet wird, stirbt an der Kälte.“ So redete er noch eine ganze Weile, und dann wollte er von mir Näheres über die Kriegslage hören. Leuchtenden Auges hörte er zu, wie ich ihm von den großen Siegen unseres Heeres erzählte und von unserer „Emden“-Fahrt, die auf die Inder besonders großen Eindruck gemacht zu haben schien. Wie er und seine Kameraden dem ihnen drohenden Schicksal entgehen könnten, vermochte ich ihm leider nicht zu sagen, so gern ich auch unsern Kameraden in den Schützengräben diese achthundertfünfzig tapferen Gegner vom Halse gehalten hätte. Sichtlich ganz erfüllt von dem Gehörten, machte er seinen tiefen Selam und verschwand in der Nacht.
Schon am folgenden Tage fragte er mich, ob ich einen indischen Offizier empfangen wollte. Das schien mir zu gefährlich; dagegen wies ich einen Feldwebel nicht ab. der sich mit der gleichen Bitte an mich wandte. Ein Landsmann, der lange in Bombay gelebt hatte und Hindostanisch sprach, diente als Dolmetscher.
„Emden'-Offizier“, begann der hochgewachsene Mann, „Sie sollen erfahren, zu was wir uns entschlossen haben. Unsere Herren haben bestimmt, dass wir sterben müssen, aber vorher müssen alle Engländer in Singapore das Leben lassen. Wir werden unsere Waffen gegen sie wenden, und Sie, Emden'-Offizier, sollen unser Führer sein.“
Ich dankte dem Mann für sein Vertrauen, ließ jedoch nicht den geringsten Zweifel bestehen, dass ich das Unternehmen für aussichtslos halte und vor allem für meine Person ablehnen müsse, an dem geplanten Aufstand teilzunehmen. Wahrhaftig nicht aus Liebe zu den Briten. Sie hatten den ehemals in den Kolonien gültigen Grundsatz, dass Weiße gegen Farbige immer zusammenhalten müssten, als Ballast über Bord geworfen, sobald er ihnen nicht mehr in das Geschäft passte. Und wie sehnte ich mich danach, ihnen wieder mit der Waffe gegenüberzustehen! Zu deutlich sah ich aber voraus, wohin hier, abgeschlossen von jeder Verbindung mit der Heimat, ein Aufstand führen musste, und es verlockte mich nicht, als Rädelsführer von Meuterern ein unrühmliches Ende zu nehmen. Auf der andern Seite hatte ich aber natürlich keine Veranlassung, den Indern den Spruch zu predigen: „Seid Untertan der Obrigkeit, welche Gewalt über euch hat.“ Hatten sie mit ihren Unterdrückern eine Rechnung zu begleichen, mochten sie es in Allahs Namen tun. Aber eindringlich mahnte ich, Frauen und Kinder zu schonen, was ursprünglich nicht ihre Absicht gewesen war.
Meine Einwände machten den Feldwebel nicht einen Augenblick in seinen Plänen schwankend. „Vielleicht werden wir alle sterben“, sagte er mit ruhiger Entschlossenheit, „aber zuerst die andern.“
Dabei war er jedoch von dem guten Gelingen überzeugt. Zunächst sollten alle Telefon- und Telegrafendrähte zerschnitten und die Funkenstationen zerstört werden, damit keine Hilfe von außerhalb herbeigerufen werden könne; dann wollten sie sich über die hinterindischen Malaienstaaten in Sicherheit bringen.
Hatte doch ein Spion Lunte gerochen? Am folgenden Mittag wurden plötzlich sämtliche Inder abgelöst und durch malaiische Soldaten des den Engländern ergebenen Fürsten von Johore ersetzt.
Nun brachten unsere treuen Freunde ihre Gefühle offen zum Ausdruck. Sie riefen den Gefangenen Abschiedsgrüße zu, und als mein Feldwebel mit dem letzten Posten abrückte, erhob er mit hasserfülltem Gesicht gegen die Engländer die Faust. Zu uns gewandt, hielt er dann vier Finger in die Höhe und machte eine wilde Gebärde, als ob er einen Feind mit dem Bajonett niedersteche.
In kaum noch erträglicher Spannung verbrachten wir die nächsten Tage. Wie Schwüle vor einem großen Gewitter lag die Erwartung aus unserer Brust. Sollte es sich wirklich in vier Tagen entladen, wie wir uns das Zeichen des Feldwebels deuteten? In unseren Köpfen war kaum noch für einen andern Gedanken Platz.
Der unterirdische Gang erstreckte sich nun schon zwölf Meter weit unter den Drahtverhauen hin. Nur noch zwei Meter, dann durften unsere aufopferungsvollen, zusehends abgemagerten Erdarbeiter auf ihren Lorbeeren ausruhen. Bis zum 23. Februar war jedenfalls das Werk vollendet.
Als ich in diesen Tagen wieder einmal mit einigen Besuchern Karten spielte, sagte einer plötzlich: „Lauterbach, Sie haben irgendetwas vor. Lassen Sie uns wissen, was es ist.“
Es waren vertrauenswürdige Herren, und da der große Tag nicht mehr fern war, antwortete ich schmunzelnd: „Ja, ich habe etwas vor. Wenn es so weit ist, werden Sie es erfahren. Würden Sie eine Gelegenheit zur Flucht benutzen?“
Mit Begeisterung stimmten alle zu.
Der letzte der vier Tage brach an, der 13. Februar 1915, ein für mich unvergessliches Datum. Niemand hatte Lust, irgendetwas zu tun. Die Frage, ob die Inder ihre Drohungen zur Tat machten, bewegte alle Gemüter und bildete ziemlich den einzigen Gesprächsgegenstand.
Ohne das kleinste Anzeichen, dass etwas sich vorbereite, schlichen die Vormittagsstunden dahin. Um die innere Unruhe zu bekämpfen, zwang ich mich am Nachmittag mit einigen andern zum Schachspiel. Die nun folgenden Ereignisse stehen mir noch jetzt in allen Einzelheiten vor Augen und werden auch nicht sobald in meiner Erinnerung verblassen. Kaum hatten wir einige Züge getan, da fiel ein Schuss, dem sogleich mehrere folgten. Alles stehen und liegen lassend, eilten wir hinaus. In großer Erregung strömten von allen Seiten die Gefangenen auf höhergelegenen Plätzen zusammen, von denen man über den Wellblechzaun blicken konnte.
Die Inder hatten die Rollen gut verteilt. Im Nu waren die Posten erschossen oder durch das Bajonett niedergemacht. Man sah die Engländer in wilder Flucht davoneilen, doch keiner entrann dem Verderben. Und nun stürzten die Eingeborenen in das Lager hinein. In wilder Erregung schwangen sie die Waffen, und manchem leuchtete ein unheimlicher Blutrausch aus den Augen. Andere jubelten vor Freude über den leicht errungenen Sieg und bedeuteten uns durch abgerissene Worte und Gebärden, dass wir frei seien und mit den draußenliegenden Schiffen davonfahren könnten. Plötzlich fühlte ich mich unter Beifallsgeschrei in die Höhe gehoben. Ein Turban wurde mir um den Kopf gewunden.
So hoffte man mit sanfter Gewalt zu erreichen, was ich entschieden abgelehnt hatte: ich sollte mich an die Spitze der Bewegung stellen und alle Gefangenen zusammen mit den Aufständischen gegen die Stadt führen.
Selbstverständlich ließ ich mir auch jetzt nicht diese Rolle aufdrängen. Um die mich von allen Seiten umstürmenden Inder überhaupt los zu werden, vertröstete ich sie auf später. Um acht Uhr sollten sie zurückkommen und Waffen bringen. Inzwischen wollte ich Vorbereitungen treffen. Mein Zweck wurde dadurch erreicht. Mit lauten Verwünschungen gegen die Engländer eilten die Truppen gegen die Stadt.
Ja, Vorbereitungen wollte ich treffen, nur andere, als die Inder dachten. In wenigen Worten hatte ich mich mit meinen Vertrauten verständigt.
Alle waren einer Meinung: wollten wir fliehen, musste es heute geschehen. Misslang der Aufstand, was nur zu wahrscheinlich war, dann konnten leicht neue Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, die die Ausführung unseres Planes unmöglich machten.
Doch bevor wir an uns selber dachten, galt es, im Lager einigermaßen Ordnung zu schaffen. Manche hatten sich nur mit Mühe davon abhalten lassen, mit den Waffen in der Hand den Eingeborenen zu folgen: andere zitterten um ihr Leben. Wild wogten die Meinungen durcheinander, was zu tun sei. Die einen schäumten über vor Unternehmungslust, die andern beschworen sie, doch nicht alle durch ihren Leichtsinn ins Unglück zu stürzen. Ja, einige Großkaufleute bedrohten ihre Angestellten mit sofortiger Entlassung, wenn sie sich nicht ganz brav und sittsam verhielten, was nicht gerade heldenhaft wirkte.
Ich ließ meine „Emden“-Leute antreten, und dieses militärische Beispiel trug dazu bei, dass auch die andern allmählich wieder eine vernünftige Haltung annahmen.
Nach dem monatelangen Stumpfsinn war die Aufregung für viele stärker gewesen, als sie vertragen konnten; nicht wenige gebärdeten sich tatsächlich wie von Sinnen, und neben all dem Grausigen gab es Auftritte, die wirklich zum Lachen reizten.
Zuerst ließ ich die umherliegenden Toten zusammentragen. Im Wachzimmer fand man den Kommandanten in gebückter Haltung auf dem Stuhl sitzen: im Nebenzimmer den durch einen Bajonettstich niedergestreckten Leutnant. Aber es gab doch noch Engländer im Lager, die dem furchtbaren Strafgericht entgangen waren.
Als die Schüsse fielen, kamen junge Leute, die auf nahen Sportplätzen Golf und Tennis gespielt hatten, zu Pferd und zu Fuß in das Lager geflüchtet. Eine Viertelstunde vorher hätten sie nur einen verächtlichen Blick für uns übriggehabt; jetzt winselten sie um ihr Leben und flehten uns in allen Tönen an, sie vor der Wut der Eingeborenen zu schützen. Da sie in ihrer Kleidung aufgefallen wären, gaben wir ihnen von unsern eigenen Kleidungsstücken und versteckten sie in einer Baracke.
Als sie sich dort von ihrem Schreck erholt hatten, fingen sie an, Patronen zu sammeln, um gegen die Inder vorzugehen. Selbstverständlich zwangen wir sie, sich gleich uns neutral zu verhalten.
Noch einen Engländer retteten wir: den Lagerarzt. Er hatte immer getan, was in seinen Kräften stand, um den Kranken ihre traurige Lage zu erleichtern, und es war nicht seine Schuld, wenn die Gesundheitsverhältnisse trotzdem so viel zu wünschen übrigließen.
Leider kostete der Aufstand auch einem Deutschen das Leben. Ein englischer Posten, der in der Verwirrung annahm, dass die Schüsse aus dem Lager kämen, schoss mitten in uns Gefangene hinein.
Ich rief: „Zu Boden werfen!“ aber es war zu spät. Ein Matrose der „Markomannia“ hatte einen Schuss erhalten, an dem er bald darauf starb. Eine zweite Kugel traf einen anderen, verursachte indessen nur eine ungefährliche Beinwunde.
In all dem unbeschreiblichen Durcheinander, bei dem wir Führer fortwährend eingreifen mussten, verlor ich selbstverständlich keinen Augenblick unseren Fluchtplan aus dem Auge. Sobald es unauffällig geschehen konnte, trat unsere kleine Gruppe zu einer kurzen Besprechung zusammen. Ein Entschluss war schnell gefasst.
Jeder sollte heimlich das Unentbehrlichste in einem kleinen Bündel vereinigen — Geld, Tabak und etwas Kognak als Herzstärkung nicht zu vergessen.
Bei Dunkelheit sollte es losgehen, ganz verstohlen: denn wenn unsere Absicht bemerkt worden wäre, hätten uns die eigenen Landsleute nicht fortgelassen, so hatten sie sich daran gewöhnt, in uns ihre natürlichen Beschützer zu sehen.
Deshalb durften wir auch nicht den jetzt für uns offenstehenden Hauptausgang benutzen.
Da der unterirdische Gang leider noch nicht weit genug gediehen war, blieb uns nichts übrig, als unmittelbar unter dem Wellblechzaun ein neues Loch zu graben und unter dem Stacheldrahtverhau wegzukriechen. Kneifzangen zum Durchknipsen der Drähte hatten wir vorsorglicherweise schon vorher bei Gelegenheit von den im Lager arbeitenden Zimmerleuten „requiriert“.
Was gab es noch alles zu tun, ehe der geeignete Zeitpunkt gekommen war! Meines Versprechens eingedenk, gab ich den Herren, die vor ein paar Tagen scheinbar keinen heißeren Wunsch hatten, als sich uns anzuschließen, einen Wink; aber merkwürdigerweise fand ich sie jetzt auffallend abgekühlt. Zu wenig aussichtsvoll dünkte ihnen unser Vorhaben.
Regelmäßige Zug- und Dampferverbindungen konnte ich ihnen allerdings nicht für die Reise in Aussicht stellen, dafür umso mehr Unbequemlichkeiten und Gefahren. Da wollten sie doch lieber nicht ihre kostbare Haut für eine so unsichere Sache zu Markte tragen.
Endlich war es so weit. Der monatelangen, nun vollkommen unnützen Arbeit ungeachtet, hatten sich unsere Erdarbeiter unverdrossen an die neue Wühlerei gemacht und ein Loch hergestellt, das selbst zu meinem Maß passte. Unbemerkt trafen wir dort zusammen — neun zu allem entschlossene Europäer und der Chinese.
Unternehmungslust und überströmende Freude, dass endlich, endlich der Weg in die Freiheit vor uns offen stand, glänzte aus jedem Blick. Einer nach dem anderen krochen wir durch das Loch und weiter unter den Drahtverhau.
Bei der ungewohnten Gangart auf allen Vieren lief der Schweiß aus allen Poren und Blut aus vielen Wunden. Noch heute erinnern Narben an gewissen Körperstellen daran, wo sich die spitzen Stacheln in mein Fleisch eingehakt haben. Aber wem wäre damals wohl eingefallen, auf solche Kleinigkeiten zu achten!
Zum Schluss noch einige Hopser über elektrische Drähte, und nun ging es wohl allen wie mir: ich hätte laut jubeln mögen in dem unbeschreiblichen Glücksgefühl, wieder frei zu sein, wieder die ganze Welt als Tummelplatz vor mir zu haben und mit eigenen Kräften mein Schicksal lenken zu können — zum Guten oder Bösen, wie es mir bestimmt war.
Und in der Ferne leuchtete meinem verlangenden Blick die Heimat entgegen. Dass ich mich vorläufig noch in Feindesland befand und Tausende von Meilen über Länder und Meere mich von meinem Ziel trennten, war keine Vorstellung, die meine gute Zuversicht auch nur einen Augenblick hätte beeinträchtigen können. Leichten Schrittes marschierten wir der ungewissen Zukunft entgegen.