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1 Vesna (1989)

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Zuerst erinnert sich Vesna immer an das Wetter. Altweibersommer, als würde der Himmel sich ins Fäustchen lachen. Den ganzen Nachmittag über wehte vom Meer her ein leichter Mistral und erfrischte den warmen Septembertag. Als es dunkel wurde, kroch angenehme Kühle durch die Gassen, Küchen und Zimmer, ein erster Bote des Herbstes.

Doch Vesna erinnert sich nicht nur an das Wetter. Sie erinnert sich auch an die Umgebung.

Sie erinnert sich an das Haus auf der Anhöhe, in der Gasse hinter der Kirche, das Haus, in dem sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hat. Wenn sie die Augen schließt, sieht Vesna ganz deutlich die Zimmer, Möbel und Einrichtungsgegenstände. Die Eingangstür oben an der Treppe, die verglaste Veranda, das Wohnzimmer, die Terrakottafliesen in der Küche. Im Wohnzimmer stand ein Tisch mit einem abgewetzten Sofa. Im Flur ein Garderobenständer aus Metall, daneben die Tür. Die Tür zu Silvas Zimmer, an der Silva ein Schild angebracht hatte: KEEP OUT.

Vesna erinnert sich, wie das Wohnzimmer an diesem Tag aussah. In einer Ecke stand der Fernseher, auf dem Sessel lag ein Haufen ungebügelter Wäsche. An der Wand hing ein Kalender mit kanadischen Landschaften und über der Küchentür eine Oleografie. Das Bild zeigte Jesus mit feuchten und verträumten Augen, mit gewelltem Barthaar, gesenktem Kopf und erhobenem Zeigefinger, als wollte er sie vor den kommenden Ereignissen warnen.

So sah ihr altes Haus an jenem 23. September 1989 aus.

Es war ein Samstag, und wie jeden Samstag aßen sie gemeinsam zu Abend. Alle vier saßen sie am Tisch. An der Stirnseite Jakob, ihm gegenüber Vesna und an der Längsseite zur Terrasse hin ihre beiden Kinder, die Zwillinge Silva und Mate.

Daran erinnert sich Vesna. Sie sind alle vier zu Hause und sitzen am Tisch. Vor ihnen steht das Essen, das sie gekocht hat. Es gibt gedünstete grüne Bohnen, frittierte Sardinen und dazu Brot. Zu viert sitzen sie am Tisch und essen, ein ganz gewöhnliches Abendessen wie viele zuvor.

Im Fernsehen laufen die Nachrichten. Es sind bewegte Zeiten: Chinesische Studenten demonstrieren auf dem Tiananmen-Platz, die Rumänen rebellieren, die slowenische Kommunistische Partei hat eine Verfassungsänderung durchgeführt und fordert eine Reform der jugoslawischen Föderation. Die Ereignisse erhitzen die Gemüter. Aber Jakob und Vesna interessieren sich nicht für Politik. Sie leben in dem festen Glauben, wenn sie sich nur von Schwierigkeiten fernhalten, werden sich die Schwierigkeiten auch von ihnen fernhalten.

Vesna erinnert sich an alles: Gerüche, Geschmäcker, Bilder. Sie erinnert sich an die weichen Innereien der Sardinen, die im Mund zergingen. An die Bohnen, die sie mit etwas Knoblauch zubereitet hatte. Sie erinnert sich an Jakob, der wie immer langsam und wenig aß. Daran, wie Silva gierig die kleinen Fische verschlang und Gräten aus dem Mund pulte. Natürlich erinnert sie sich auch an Mate. Wie er langsam und vorsichtig die Sardinen zerkaute, die großen Gräten ordentlich am Tellerrand nebeneinander ablegte, wie Leichen. Mate hat schon immer so gegessen. Langsam, methodisch zerlegt er sein Essen in kleine Stücke, als müsste er einen Liliputaner füttern.

Vier Gestalten, über den Tisch gebeugt, saugen an kleinen Fischen und pulen Gräten aus dem Mund. So erinnert sich Vesna an den Abend. Sie erinnert sich bis zum heutigen Tag.

Denn heute weiß sie, was sie damals nicht wusste.

Dies war der letzte Abend ihres normalen Lebens.

* * *

Im September 1989 waren Jakob und Vesna fast achtzehn Jahre verheiratet. An einem Samstag im Herbst 1971, drei Wochen vor Weihnachten, schlossen sie im Standesamt von Misto die Ehe. Die Feier fand im Saal des einzigen Hotels am Ort statt, und die Hochzeitsnacht verbrachten sie in einem feuchten und kalten Hotelzimmer.

Einen Tag nach der Hochzeit zogen sie zu Vesnas Tante Zlata in das Haus hinter der Kirche. Einen Monat später musste sich Vesna eines Morgens übergeben. Die Woche darauf sagte ihr Hausarzt, dass sie schwanger sei. Drei Tage später hatte ihr Gynäkologe in Split eine weitere frohe Botschaft: Sie erwartete Zwillinge.

Mate und Silva waren zweieiige Zwillinge. Wenn man sie genauer betrachtete, konnte man die Ähnlichkeit aber erkennen, die gleichen Augenbrauen, die gleiche Nase.

Tante Zlata lebte still und unsichtbar bei ihnen, bis sie 1978 eines Nachmittags reglos auf dem Küchenboden lag. Schlaganfall. Sie beerdigten Zlata, wie es sich gehörte, warteten eine Woche, räumten dann ihr Zimmer aus und Silva zog ein.

An jenem Nachmittag 1989 wohnte Silva noch immer in diesem Zimmer. Hier verwahrte sie ihre Kleidung, ihren Modeschmuck und ihre jugendlichen Geheimnisse.

Auch wenn Mate und Silva sich äußerlich ähnlich sahen, waren sie in ihrem Wesen ganz unterschiedlich. Mate war ein ruhiger, verantwortungsbewusster Junge, auf den man sich verlassen konnte und von dem Vesna sicher war, dass sie im Alter auf ihn würde zählen können. Silva jedoch war anders. Silva, hatte Tante Zlata immer gesagt, war eine Rebellin. Silva wird es weit bringen, sagte Jakob einmal. Weil sie es versteht, ihren Willen durchzusetzen.

Im September 1989 waren Silva und Mate fast volljährig. Mate sollte im Sommer darauf sein Fachabitur machen und sich dann an der Uni für Schiffsbau einschreiben. Silva besuchte eine Wirtschaftsschule. Doch auf die Frage nach ihren weiteren Plänen, wand sie sich und wechselte schnell das Thema. Beide gingen seit der neunten Klasse in Split zur Schule. Da Mate seit der neunten Klasse einen Job hatte, den er nicht verlieren wollte, blieb er in Misto wohnen. Er stand jeden Morgen um sechs Uhr auf und fuhr mit dem Überlandbus eine halbe Stunde lang die Küstenstraße entlang zur Schule. Silva hingegen wohnte im Schülerinnenwohnheim in der Kyrill-und-Method-Straße in Split. Nach Misto kam sie jeden Samstag. So war es auch an diesem Samstag, am letzten Sommerwochenende.

In diesem September 1989 war Jakob zweiundvierzig Jahre alt. Er bekam Geheimratsecken, war aber noch immer schlank, sein Bauch flach, und darauf war er besonders stolz.

In diesem September 1989 hatte er noch eine Stelle als Buchhalter in einer Kunststofffabrik. Die Fabrik befand sich in einer Halle aus Glas und Metall oberhalb der Küstenstraße, heute steht dort nur noch eine Ruine. Die Fabrik stellte alles Mögliche aus Kunststoff her – Bälle, Bootswände, aufblasbare Gummiboote. Jakob arbeitete in der Lohnbuchhaltung. Er erledigte seine Arbeit gewissenhaft, gründlich, aber ohne Ehrgeiz. Wenn er nach Hause kam und gegessen hatte, legte er sich auf das Sofa und las Zeitung. Dann ging er in den Schuppen und widmete sich der Tätigkeit, der seine ganze Leidenschaft galt: Amateurfunk. In jeder freien Minute lötete und schraubte Jakob, er baute Geräte, die Vesna geheimnisvoll und magisch erschienen. Und dann, wenn es dunkel wurde, arbeitete sich Jakob durch die Frequenzen und unterhielt sich stundenlang auf Englisch mit Menschen, die er nie treffen würde. Vesna hörte manchmal zu, wenn ihr Mann mit fremden Menschen auf der anderen Seite des Globus sprach. Den Sinn dahinter hat sie nie verstanden. Aber das hatte sie Jakob nie gesagt, denn Männer brauchen schließlich eine Spinnerei.

1989 war Vesna achtunddreißig Jahre alt. Seit vierzehn Jahren unterrichtete sie Erdkunde in der Grundschule. Von Montag bis Freitag brachte Vesna den Kindern im Ort bei, was der Golfstrom ist, welche Länder Erdöl exportieren und welche Flüsse durch Jugoslawien fließen. Da der Ort klein war, traf sie ihre Schüler auf der Straße und im Supermarkt und die Eltern nickten ihr sonntags in der Kirche zu. Als sie angefangen hatte zu unterrichten, war sie überzeugt gewesen, die Schule und Kinder zu lieben. Mit der Zeit war sie sich da nicht mehr so sicher. Immer öfter ging sie mit unterdrückter Ungeduld in den Unterricht und die Ungezogenheiten der Kinder machten sie schrecklich wütend. Nach vierzehn Jahren hatte Vesna immer öfter den Eindruck, dass Kinder in ihrem Wesen nicht gut sind.

Im Jahr darauf würde Vesna vierzig werden. Manchmal dachte sie an diese hässliche Ziffer vier, mit der in Zukunft ihr Alter beginnen würde. Sie dachte daran, dass sie in den letzten Jahren zugenommen hatte, wie sie sich in ihrer Arbeit und in ihrer ruhigen, aber auch langweiligen Ehe eingerichtet hatte. Damals dachte Vesna, wenn auch nur selten, dass sie noch Vieles aus ihrem Leben machen könnte. Sie konnte den Job wechseln oder den Wohnort. Sie konnte abnehmen, Chinesisch lernen oder die Frisur ändern. Doch diese Gedanken beschäftigten sie nicht lange. Vesna wollte eigentlich keine Veränderungen, und das galt auch für Jakob. Sie führten ein gutes Leben. Von Montag bis Freitag arbeiteten sie in ihren langweiligen, aber sicheren Jobs. Nachmittags saßen sie auf dem Sofa, wenn es nicht zu kalt war, auf der Veranda, sie mit einem Buch, er mit der Zeitung, und im Sommer gingen sie an den Strand. Samstags kauften sie unten am Hafen frischen Fisch. Sonntags machten sie Feuer und grillten Fisch, Bratwürste oder Koteletts. Jakob hantierte gerne am Feuer. Wenn er es entzündete, wurde seine Stirn bald ganz rot und über den Augenbrauen sammelten sich dicke Schweißtropfen. Er grillte das Fleisch zu lange und verdarb den Fisch, aber Vesna ließ ihn machen, solange es ihm Freude machte.

Wenn der Tag zu Ende ging, setzten sie sich zusammen auf das Sofa und öffneten eine Flasche Wein. Gegen zehn fielen Vesna die Augen zu. Jakob machte den Fernseher aus und brachte sie ins Bett. Damals, im September 1989, schliefen sie noch miteinander. Nicht oft, aber bedächtig, routiniert, als wäre der Körper des anderen ein vertrautes, oft verwendetes Instrument.

In diesem Moment, an diesem Tag im September 1989, war Vesna noch immer eine glückliche Frau.

An all das erinnert sich Vesna. Sie erinnert sich an die vier Menschen am Küchentisch unter dem verträumten Jesus und dem Kalender mit kanadischen Landschaften. Die Dämmerung legt sich auf Misto und vom Hafen hört man den Soundcheck für das Fischerfest. Sie erinnert sich an vier Schatten, die essen, schlürfen, Wein einschenken, sich unterhalten. Gleich wird Jakob aufstehen, die Teller in die Küche tragen und den Wein in den Schrank stellen. Silva wird aufstehen, sich wohlig strecken und in ihr Zimmer verdrücken.

Was dann folgt, spult sich immer und immer wieder wie ein Film in Vesnas Kopf ab. Sie erinnert sich, wie sie selbst in der Küche Teller spült. An Mate, der die Tischdecke ausschüttelt und Krümel vom Boden aufhebt. An Jakob, der sich über ein Kreuzworträtsel in der Slobodna Dalmacija beugt. Währenddessen kommt Silva in Ausgehgarderobe aus ihrem Zimmer zurück. Vesna sieht noch genau, was sie trägt: ein viel zu kurzes geblümtes Kleid, halbhohe Converse, eine sackartige Tasche und unter dem Arm einen roten Anorak. Es ist zwar Altweibersommer, doch abends kann es am Meer frisch werden.

Das ist der Moment. Silva steht an der Wohnzimmertür, in einem geblümten Kleid und Turnschuhen, als erwartete sie Beifall. Und dann sagt sie: Ich gehe jetzt.

»Mit wem triffst du dich?«, fragt Jakob. »Mit Brane?«

»Heute nicht«, antwortet Silva. »Er ist in Rijeka, um sich an der Uni einzuschreiben. Er kommt erst morgen zurück.«

»Und wohin gehst du dann?«, fragt ihr Vater.

»Ich gehe runter zum Fest«, antwortet sie. »Wartet nicht auf mich. Es wird bestimmt spät.«

»Pass auf dich auf«, sagt Jakob.

Vesna fragt sich bis heute, warum er das gesagt hat.

Silva richtet ihren Träger, nimmt ihre Tasche und sagt: »Tschüss dann!« Schnell und lautlos wie ein Windhauch schlüpft sie zur Tür hinaus.

Jakob achtet nicht mehr auf seine Tochter. Als sie das Haus verlässt, sitzt er am Tisch und ist wieder mit seinem Kreuzworträtsel beschäftigt. Er hebt nicht einmal den Kopf. Als ihre Tochter das Haus verlässt, trocknet Vesna Teller ab. Bis heute weiß sie nicht, ob sie Silva überhaupt angeschaut hat. Sie ist sich aber sicher, dass sie nichts auf das Tschüss ihrer Tochter geantwortet hat.

Denn damals konnte sie es nicht wissen. Aber heute weiß sie es. Dieser Moment, als Silva sagte: Tschüss dann! und mit wehendem Kleid zur Haustür ging, das war das letzte Mal, dass sie Silva sahen.

Blut und Wasser

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