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4 Mate (1989)

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Anfang November wurden die Tage deutlich kürzer und ein später dalmatinischer Herbst umfing Misto.

Schon Ende September hatten die Strandcafés geschlossen und nach ihnen auch die einzige Pizzeria und zwei der drei Kneipen im Ort. Anfang Oktober fuhren weniger Busse, und das Touristenbüro schloss seine Türen. In der zweiten Oktoberhälfte verdüsterte sich der Himmel und es setzte ergiebiger Regen ein, der tagelang andauerte und alles durchweichte.

Die zermürbende Sintflut ergoss sich über Krizev Rat und die Kapelle Stella Maris, die Prosika-Schlucht und Rokkovs Land, die Macchia und die Kaserne, die Berge und den Kanal. Auch die letzten trockenen Flecken verwandelte der Regen in Schlammlöcher, und in dem porösen, spitzen Gestein entstanden Pfützen und unterirdische Tümpel, die erst im Sommer austrocknen würden. Es regnete und regnete, und Mates Vater sagte eines Tages, als er auf dem Balkon stand und in den Regen schaute: »Selbst wenn es Spuren gab, wird dieser Regen sie jetzt wegspülen.«

Silva blieb spurlos verschwunden. Die Wochen vergingen und die Polizei meldete sich immer seltener. Schain rief alle fünf bis sechs Tage an, doch was er zu sagen hatte, wurde von Mal zu Mal unbestimmter und nichtssagender. Der Polizei schienen die Ideen auszugehen.

Mate fuhr weiterhin jeden Morgen mit dem Bus zur Schule und kam jeden Nachmittag in ein Zuhause zurück, das er immer weniger ertrug. Sein Vater war meistens abwesend. Morgens setzte er sich mit einem Stapel Flugblätter ins Auto und kurvte weiß Gott wo herum und versuchte etwas herauszufinden, das Mate nicht verstand. Manchmal sah Mate ihn weit entfernt von zu Hause, in Split. Er sah, wie sein Vater grimmig die Straße entlanghastete, in Gedanken bei Dingen, die er mit seiner Familie nicht mehr teilte. Mate hatte den Eindruck, dass Jakob nur deshalb durch die Straßen streifte, damit er nicht zu Hause sein musste. Mate konnte das verstehen. Seit ein paar Wochen fühlte auch er sich überall wohler als zu Hause.

Dafür war seine Mutter zu Hause – ununterbrochen. In den ersten Tagen hatte Jakob gesagt, es wäre am besten, wenn immer jemand zu Hause wäre, am Telefon. Das hatte Vesna offensichtlich wörtlich genommen. Sie verließ das Haus überhaupt nicht mehr, außer wenn sie in die Kirche ging. Nach einem Versuch, wieder zur Arbeit zu gehen, hatte sie sich erneut krankschreiben lassen. Sie ging nicht mehr einkaufen und auch nicht ins Dorf. Den ganzen Tag über lag sie auf dem Sofa und starrte apathisch an die Decke, während das Radio lief. Die Nachrichten waren turbulent. Politische Parteien formierten sich, die ersten Wahlen wurden vorbereitet, in Ungarn verkündete die Opposition eine neue Verfassung und in Ostdeutschland reichte Parteisekretär Honecker seinen Rücktritt ein. Die Welt veränderte sich, doch Vesna, genau wie Mate, kümmerte das nicht.

In der Zwischenzeit veränderte sich auch ihr Haus, Vesna kochte nicht mehr, und auch die Wäsche blieb liegen, Staub wurde nicht gewischt. Mate erledigte jeden Tag das Nötigste. Er stellte die Waschmaschine an, holte sich aus der Keksdose Geld und kaufte Lebensmittel, aus denen er einfache Gerichte kochen konnte: Würstchen, Dosentomaten, Bohnen. Er machte Essen und spülte hinterher. Er bemühte sich, zumindest die Küche sauber zu halten. Im restlichen Haus hatte er den Kampf schon verloren. Das Haus ächzte unter Schichten von Staub, im Garten wucherte das Unkraut, und der Berg Bügelwäsche wuchs ins Unermessliche. Das Haus selbst stand stoisch und verschlafen da. Als hätte sich seit jenem Sonntag im September nichts gerührt. Alles verharrte in Erwartung: Silvas ungemachtes Bett, der Fernseher, der nicht mehr angemacht wurde, der Kalender, von dem niemand mehr die Tage abriss. Im Schuppen Jakobs Funkanlage, Elektronikteile, auseinandergenommen und vergessen. Alles lag im Winterschlaf und wartete auf den Kuss, der den Zauber lösen und dem Haus wieder Leben einhauchen würde.

Manchmal, nicht oft, ging Mate heimlich in das Zimmer seiner Schwester, wenn Vesna es nicht mitbekam, und Vesna bekam ohnehin gar nichts mehr mit. Dann öffnete Mate die Tür mit dem Schild KEEP OUT und ging hinein, ohne Licht zu machen. Er setzte sich auf das Bett, lauschte und roch Silvas Parfüm, dessen Duft noch immer in der Luft schwebte. Patschuli. Der dunkle, erdige Duft hing in Kissen, Kleidern, Schlafanzügen und sogar in den Vorhängen.

Mate sitzt im dämmrigen Raum und betrachtet die Sachen seiner Schwester. Wie in jedem Jugendzimmer kann man auch hier in Schichten das Älterwerden der Bewohnerin beobachten. In den hintersten Ecken sieht man noch, womit sich Silva als Kind beschäftigt hat, Bilderbücher, verzierte Hefte, ein Poesiealbum, Sticker von Garfield am Kopfende des Bettes. Weiter an der Oberfläche sieht er Poster und Musikkassetten, die Silva beim Übergang ins Jugendalter interessiert haben. Aber irgendwann sind auch diese Dinge aus Silvas Fokus gerückt. Verblüfft stellt Mate fest, dass es den Moment gegeben hat, als Silva aufhörte Musik zu hören und ganz normale Teenager-Gespräche zu führen. Diesen Moment hat es gegeben, aber er hat ihn verpasst.

So sitzt er im Zimmer und schaut zum wiederholten Mal auf Silvas Märchenbücher, den Schulatlas, alte Wasserfarben, den Spitzer in Form eines Globus und die Kassetten mit ihrer Musik: Sade, UB 40, Knopfler, Grace Jones. Er schaut auf die ganze Musik, die Silva zurückgelassen hat, auf ihre Kleider und all die überflüssigen Dinge, die sie nicht mitgenommen hat.

Er sieht das alles und erinnert sich. Er erinnert sich, wie sie im Sommer an der Kapelle gebadet haben, wie sie zwischen den scharfen Felsen herumgeklettert sind, mit einem Stein Muscheln von den Felsen gelöst und in ein mit Meerwasser gefülltes Gefäß gelegt haben. Er erinnert sich, wie sie vor Agatas Laden Kronkorken gesammelt und zur Belohnung für eine Handvoll Korken eine Cola bekommen haben. Er erinnert sich daran, wie Silva Fußball spielte. Die Jungs spielten immer auf dem Basketballplatz Fußball und als einziges Mädchen spielte Silva mit. Sie spielte nicht schlecht, war beweglich und schnell und der Ball klebte förmlich an ihrem rechten Fuß.

Silva war von Anfang an da. Von der Gebärmutter bis zum Kindergarten, von der Plazenta bis zum Schulbus. Es gibt keine Erinnerung, keinen Zipfel seines Lebens, in dem Silva nicht vorkommt. Er hat gedacht, dass es umgekehrt genauso wäre.

Aber so ist es nicht gewesen. Silva hat ihr eigenes, paralleles Leben geführt – ein Leben ohne ihn. Das empfindet er jetzt als Verrat.

Dann vertreibt er diese sinnlosen Gedanken. Er steht auf, streicht die Bettdecke glatt und verlässt Silvas Zimmer. Er schließt die Tür, auf der KEEP OUT steht, und schaut nach Vesna.

* * *

Adrian Lekaj wurde am 23. Oktober verhaftet, frühmorgens bei Sonnenaufgang.

Mate erinnert sich gut an den Morgen. Seit Silvas Verschwinden schläft er schlecht und wacht morgens früh auf. So ist es auch an diesem Morgen. Er stellt sich ans Fenster und schaut auf den grauen, feuchten Morgen. Ganz Misto schläft noch: die Häuser, der Kirchturm, der Anleger, die Boote im Hafen. Erst in einer halben Stunde würde man die vertrauten Geräusche hören: den Arbeiterbus, den Kombi, der die Zeitungen bringt, die Kirchenglocken, die Sirene aus der Kaserne.

Doch an diesem Morgen hört er andere Geräusche, Motorengeräusche, mehrere Autos, die von der Magistrale in den Ort fahren. Er hört Stimmen auf dem Platz vor der Kirche. Dann das kurze Aufheulen einer Sirene und Stimmen aus Funkgeräten.

Die Polizei, denkt er. Er weckt weder Mutter noch Vater, der gestern spät nach Hause gekommen ist. Mate verlässt das Haus und eilt zum Kirchplatz.

Vor der Bäckerei der Lekajs steht ein Polizeikombi und daneben eine Gruppe Polizisten mit Gewehren. Die Tür der Bäckerei ist geschlossen, doch aus dem Haus dringt Geschrei und etwas geht zu Bruch.

Langsam kommen immer mehr Dorfbewohner dazu. Mate erkennt den Pfarrer Don Drazen, der noch nicht sein Priestergewand trägt, sondern nur ein einfaches Hemd. Er sieht auch einige Arbeiter aus der Fabrik. Brane ist auch da, er steht ein Stück abseits und starrt gebannt auf das Geschehen.

Dann bringen sie ihn raus. Drei Polizisten schleppen Adrian Lekaj aus dem Haus. Dahinter kommt Adrians Vater, der alte Bäcker. Er steht mit einem Ausdruck an der Tür, als wollte er im Boden versinken. Als er in den Kombi geschoben wird, schreit Adrian, sie sollen ihn loslassen, weil er nichts gemacht habe.

Schain steht stumm neben dem Kombi, als wäre er der Regisseur des Ereignisses. Mate geht zu ihm und fragt, was passiert sei, doch Schain ignoriert ihn, so wie man ein Kind ignoriert.

Die Polizisten steigen in ihre Autos und fahren los, während Mate nach Hause geht, um seine Eltern zu wecken. Er berichtet, dass sie Adrian geholt haben.

Der Vater wählt Schains Nummer, doch es meldet sich niemand. Immer wieder ruft er vergeblich an. Schließlich beschließt er, nach Split zu fahren und vor Schains Büro zu warten, bis er erfährt, was los ist. Mate und seine Mutter bleiben in fiebriger Erwartung zu Hause am Küchentisch. Irgendwann fragt Mate, ob er einen Tee machen soll, verwirft die Idee aber, als er Vesnas entsetzten Blick sieht.

Sie warten stundenlang. Jakob kommt erst am frühen Nachmittag zurück. Sobald er ihn sieht, weiß Mate, dass er keine guten Nachrichten mitbringt.

»Sie haben einen anonymen Hinweis bekommen«, sagt Jakob.

Am Abend hat eine unbekannte Person aus einer Telefonzelle die Polizei angerufen. Sie hatte sich wohl einen Lappen vor den Mund gehalten und die Stimme verstellt. Dem Akzent nach ist es jemand aus dem Dorf gewesen.

Die Person behauptete, Adrian Lekaj habe Silva mit einer Holzlatte erschlagen. Die Person hat weiter behauptet, die Polizei könne die Latte im Schuppen der Lekajs finden. Die Person hatte exakt die Stelle beschrieben, wo die Latte lag.

Als Vesna das hört, verzieht sie das Gesicht vor Entsetzen. Mate ist wie vom Donner gerührt. Die Vorstellung, Silva könnte tot sein, ist bis zu diesem Augenblick nur trockene Theorie gewesen, nicht einen Moment hat er das wirklich geglaubt.

»Und?«, fragt Vesna. »Haben sie die Latte gefunden?«

»Das haben sie«, antwortet Jakob. »Genau an der beschriebenen Stelle. Unter einem Fass, hinter alten Besen. Die Latte entspricht der Beschreibung, es ragen einige Nägel heraus, dadurch kann sie zur tödlichen Waffe werden. Es gibt Flecken von weißer Farbe und Tropfen von Bootslack, aber auch Blutspuren. Sie wissen noch nicht, um welche Blutgruppe es sich handelt.«

Während er seinem Vater zuhört, formiert sich in Mates Magen ein bitterer, kalter Klumpen. Er versucht, sich Silvas Gesicht vorzustellen, blutig geschlagen mit der Latte. Er versucht, sich Adrians mörderische Wut vorzustellen. Doch vor sich sieht er einen anderen Adrian, einen Adrian, der im Unterhemd träge ein italienisches Fußballspiel schaut.

»Und was sagt er?«, fragt Mate. »Was sagt Adrian?«

»Nichts Nützliches«, antwortet Jakob. »Er leugnet alles. Er weiß nichts von nichts. Er behauptet, die Latte nie gesehen zu haben, und er wisse auch nicht, wie sie dahin gekommen sei. Er behauptet weiterhin, sich um zwei von Silva getrennt zu haben. Und da habe sie noch gelebt.«

»Und was jetzt?«, fragt Vesna.

»Nichts. Er ist dort, bei der Polizei. Sie verhören ihn.«

»Was hat Schain gesagt?«, will Vesna wissen.

»Ich habe nicht mit Schain gesprochen«, antwortet Jakob. »Sondern mit Tenzer. Er sagt, sie werden ihn knacken. Wenn er etwas getan hat, werden sie ihn knacken. Sie werden ihn nicht gehen lassen, bis er gesteht. Das hat er gesagt.«

Jakob setzt sich hilflos. Aber Mate kann nicht einfach rumsitzen und warten. Er zieht seine Turnschuhe an, verlässt das Haus und geht die Gasse hinunter zum Kirchplatz.

Er bekommt die Bilder nicht aus dem Kopf. Die Latte und auf der Latte Blut – Silvas Blut. Silva, die in irgendeinem Loch oder einer Felsspalte liegt, bedeckt von Zweigen – und während er und seine Eltern langsam verzweifeln, verfault Silva langsam, bis sie irgendwann nur noch ein unkenntlicher Klumpen ist.

Darüber denkt Mate nach, als er sein Ziel erreicht. Lekajs Bäckerei ist geschlossen. Davor steht der Kombi des Bäckers. Alle vier Reifen sind zerschnitten. An eine Seite hat jemand das Wort MÖRDER gesprayt. Über die ganze Seite des Wagens in dunkelblauen Großbuchstaben.

* * *

Adrian wurde drei Tage später entlassen. Er kam ohne Ankündigung nach Hause, genauso wie er verhaftet worden war. Diejenigen, die Zeugen seiner Rückkehr wurden, sagten, er sei einfach aus dem Bus gestiegen, ohne Begleitung und ohne dass jemand ihn empfangen hätte. Er sei humpelnd nach Hause gegangen, habe sich auf das Sofa gelegt und sein T-Shirt ausgezogen, und unter dem T-Shirt – hieß es – habe man die Spuren von Schlägen gesehen.

Unglücklicherweise erfuhr Vesna die Nachricht als eine der Ersten. Noch schlimmer, sie erfuhr es in der Schule von einem ihrer Schüler. An dem Montag hatte sie auf Drängen Jakobs wieder angefangen zu arbeiten. Vollgepumpt mit Tabletten war sie am Morgen fast nicht aus dem Bett gekommen. In der dritten Stunde, als sie den Kindern gerade die Topografie der Kordilleren erklärte, erzählte ihr einer der Siebtklässler, er habe am Morgen Adrian auf der Straße gesehen. Vesna beendete die Stunde und raste nach Hause. Die Entrüstung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben: Was werdet ihr unternehmen?

Seit dem Morgen hatte es geregnet. Die Bäckerei der Lekajs blieb den ganzen Tag zu, und am Haus waren die Fensterläden geschlossen. Adrian hatte sich ins Haus verzogen und kam nicht raus. Der einzige Mensch, der wusste, was mit Silva geschehen war, saß hier – gleich nebenan, eine Straße weiter, hinter geschlossenen Fensterläden. Er war in Reichweite und sie konnten nichts tun.

Mate erinnert sich an diesen unerträglichen Nachmittag. Jakob saß am Küchentisch und stierte hilflos und unentschlossen vor sich hin. Vesna durchbohrte ihn erbost mit Blicken. Sie erwartete etwas – schwer zu sagen, was: Blutrache, den Fehdehandschuh, eine Entführung, ein durch Folter erzwungenes Geständnis. Was auch immer sie erwartete, Jakob tat es nicht, weil er gar nichts tat. Er saß hilflos am Tisch, starrte an die Wand, auf den kolorierten Jesus mit den verträumten Augen. Er wartete darauf, dass Jesus eines seiner biblischen Wunder vollbrachte. Zum ersten Mal im Leben hatte Mate Mitleid mit seinem Vater. Das war nicht mehr der erwachsene, reife, immer beschützende Vater. Mate sah einen neuen Vater, der selbst ein hilfloses Kind war.

* * *

An diesem Abend kommt Gorki Schain. Er ruft nicht an, sondern kommt unangemeldet persönlich vorbei. Er setzt sich an den Tisch und lehnt den angebotenen Kaffee ab. Unumwunden sagte er: »Wir mussten Adrian gehen lassen.«

Sie haben nichts gegen ihn gefunden. Er hat den Lügendetektortest einwandfrei bestanden. Seine Fingerabdrücke waren nicht auf der Holzlatte, nicht einmal im Schuppen.

»Wessen Blut ist auf der Latte?«, fragt Vesna.

»Die Blutgruppe ist Null negativ«, antwortet Schain. »Wie Silvas. Aber das ist die häufigste Blutgruppe, zwei Fünftel der Bevölkerung haben Null negativ.«

»Und der anonyme Anruf? Woher kam der?«, fragt Vesna.

»Aus Misto, so viel wissen wir«, sagt Schain. »Mehr nicht.«

»Jemand weiß es«, sagt Vesna. »Jemand hat es gesehen. Jemand aus Misto. Und jetzt schweigt er.«

»Vielleicht hat der Anrufer es gesehen, vielleicht nicht. Die Menschen begehen am Telefon so manche Bösartigkeit.«

»Und die Latte?«, mischt Mate sich ein, auf einmal erwachsen, reif, abgebrüht. »Die Latte ist nicht übers Telefon da hingekommen.«

»Das stimmt. Die Latte können wir nicht erklären.«

»Und was jetzt?«

»Wir arbeiten weiter daran.«

»Und – er?«, fragt Vesna. »Der Mörder? Der spaziert draußen frei herum?«

»Wenn er der Mörder ist«, antwortet Schain. »Ja, er ist im Moment in Freiheit.«

Schain bricht auf. Im Flur dreht er sich noch einmal um. »Es ist noch nicht vorbei«, sagt er. »Wir machen weiter.« Dann zieht er seine Jacke an und gibt jedem die Hand, auch Mate. Bevor er zur Tür hinausgeht, stellt Vesna die Frage, die ihnen allen auf der Zunge liegt: »Und was denken Sie?«

»Worüber?«

»Sie wissen schon. Glauben Sie, er war es? Lebt sie noch? Oder hat er sie umgebracht?«

»Ich weiß es nicht.«

»Das ist mir klar. Aber was denken Sie? Was sagt Ihnen, wie sagt man noch, Ihr Bauchgefühl?«

Mate erinnert sich an diesen Moment. Der Inspektor steht zögernd an der Tür, als würde er seine Worte abwägen.

»Ich weiß es wirklich nicht«, sagt er schließlich. »Meine Intuition sagt mir nichts.«

»Ich glaube, Sie wissen es«, erwidert Vesna. »Sie wissen es, aber Sie dürfen es mir nicht sagen.«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Doch. Ich weiß, dass Sie es wissen«, beharrt Vesna und schließt ohne Abschied die Tür hinter Schain.

Bald darauf fasst Mate einen Entschluss. Wenn sein Vater nichts unternimmt, dann wird er etwas tun.

Er wartet, bis seine Eltern sich in ihr Schlafzimmer zurückziehen. Gegen ein Uhr schlüpft er in seine Turnschuhe und zieht eine dunkle Trainingsjacke mit Kapuze an. Er stiehlt sich aus dem Haus und läuft zum Haus der Lekajs hinunter.

Auf dem Grünstreifen neben der Straße parkt der alte Genossenschaftslaster. Den hatten die Olivenbauern vor langer Zeit angeschafft, als die Oliven noch zur Mühle in die Stadt transportiert wurden. Inzwischen gibt es die Mühle nicht mehr und auch nicht die Genossenschaft, und der Laster steht vergessen und herrenlos an der Straße. Kinder klettern darauf herum, und alles von Wert – Felgen, Scheibenwischer, Windschutzscheibe – ist geklaut worden.

Seit er aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, traut Adrian sich nicht aus dem Haus. Aber Mate weiß, dass er spätabends, wenn alles sich beruhigt hat, vors Haus geht, um an die frische Luft zu kommen. Adrian geht hinten zum Liefereingang raus, den sein Vater nutzt, um Mehl in die Bäckerei zu schaffen. Das macht Adrian jeden Abend, und Mate weiß, dass er es auch heute tun wird.

Lange hockt er hinter dem Reifen des Lasters. Der Abend ist still und ruhig. Am frühen Abend ist Bora aufgezogen, doch gegen Mitternacht hat sich der Wind wieder gelegt und die Natur beruhigt. Aus der Ferne hört man leise einen Fernseher und von der Magistrale hin und wieder einen Laster. Das Haus der Lekajs ist dunkel.

Über der Hintertür geht das Licht an und Adrian kommt heraus. Er kommt durch die Hintertür der Bäckerei mit einer Jacke über den Schultern und steht an der menschenleeren nächtlichen Straße, genau unter dem elektrischen Licht, wie eine Motte. Lekaj hat abgenommen. Er raucht und scheint es zu genießen.

Mate zögert nur kurz, dann springt er aus seinem Versteck und greift an. Er packt Adrian und wirft ihn zu Boden. Adrian krümmt sich unter Mates Tritten, schützt den Kopf mit den Armen und den Bauch mit den Knien, als wollte er einfach abwarten, dass es aufhört. Er ruft nicht um Hilfe. Er gibt keinen Laut von sich.

Während er Adrian verprügelt, hat Mate das gleiche Bild vor Augen wie seit Tagen. Die Holzlatte, das Blut, Silvas Körper, bedeckt mit Zweigen, wie er in der Feuchtigkeit verwest. Er sieht dieses Bild und schlägt und tritt auf Adrian ein, noch mal und noch mal.

»Sag mir, wo sie ist!«, zischt er. »Sag mir, wo du sie versteckt hast! Sag mir, wo sie ist.«

Aber Adrian antwortet nicht. Er liegt stumm und zusammengekrümmt auf dem Boden und wartet, dass die Schläge aufhören. Er stöhnt nur leise auf bei jedem Schlag.

Um sie herum gehen langsam die Lichter an und Stimmen sind zu hören. Nach ein paar Minuten ruft jemand aus der Gasse. Mate rennt los, und als er weit genug entfernt ist, dreht er sich noch einmal um. Adrian liegt wie ein nasser Lappen mit blutender Stirn und aufgerissenen Lippen am Boden.

Mate irrt eine gute Stunde umher und wartet, dass sich sein Herzschlag beruhigt. Um drei Uhr morgens kommt er nach Hause, legt sich ins Bett und starrt den Rest der Nacht an die Decke. Er weiß nicht, was am nächsten Tag geschehen wird, ob vielleicht die Polizei kommen und ihn holen wird.

Aber nichts geschieht. Adrian hat den Angriff nicht angezeigt und auch niemandem erzählt, was passiert ist.

Doch er geht wieder aus dem Haus. Schon am nächsten Morgen steht er trotzig auf dem Kirchplatz, als wäre alles in Ordnung, als wäre das ein ganz normaler Sonntagmorgen. Seine Lippen sind verschorft, ein Auge ist blau, die Stirn wund. Er humpelt. Adrian zeigt seine Wunden, als wären es Trophäen, als wäre er das Opfer.

Mate läuft an diesem Morgen ins Dorf und sieht Adrian vor der Bäckerei seines Vaters stehen. Ihre Blicke treffen sich. Adrian schaut ihn mit unverhohlenem Hass an und Mate beschleunigt seine Schritte.

Am Hafen hängt der Geruch von etwas Verbranntem in der Luft und man sieht die Spuren eines Feuers. Wie es aussieht, hat eines der Plastikboote in der Nacht gebrannt. Es ist ein kleines überdachtes Boot mit Außenbordmotor. Der weiße Kunststoff ist jetzt angeschmolzen und schwarz.

Mate weiß, wem das Boot gehört. Aber etwas anderes weiß er nicht: Wer von den selbstgerechten Dorfbewohnern das Boot angezündet hat.

Wer immer das getan hat, eins ist sicher: Alle, wirklich jeder, wird denken, dass es Mate gewesen ist.

Blut und Wasser

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