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3 Jakob (1989)

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Es ist ein drückender Tag, an dem Jakob zur Befragung aufs Revier fährt. Den Himmel bedecken bleigraue Wolken und Wind aus Südosten bringt warme, schwüle Luft nach Split. In der Schalterhalle im Erdgeschoss des Polizeipräsidiums warten viele auf Reisepässe und Führerscheine. Der Wind macht sie nervös. An allen klebt der Schweiß, sie sind schnippisch, aufbrausend, sie hassen einander und sich selbst.

Bis zu jenem 23. September dachte Jakob, ihr Leben wäre normal, sie wären eine normale Familie mit zu vernachlässigenden Problemen. Die ganzen Jahre über hatte er geglaubt, eine dickköpfige, außergewöhnliche und rebellische Tochter zu haben. Manches Mal hatte er sich gewünscht, dass Silva gehorsamer, weniger rebellisch, zahmer wäre. Aber er hatte das als Symptom des Erwachsenwerdens gewertet. Jetzt wusste er, dass er falsch lag.

Denn Silva hatte größere Probleme. Wenn er das bis jetzt auch nicht begriffen hatte, an diesem Morgen wird es ihm klar.

Er verbringt drei Stunden bei der Polizei. Zwei Polizisten – Schain und Tenzer – befragen ihn über jedes Detail in Silvas Leben: ihre Freunde und Bekannten, Telefongespräche, nächtliche Unternehmungen. Sie fragen nicht nach Misto und auch nicht nach jenem Abend. Sie wollen mehr über Silvas Leben in Split erfahren und mit wem sie hier Kontakt hatte. Sie fragen nach dem Päckchen, das sie in der Regenrinne gefunden haben, nach dem Päckchen, das weiß Gott wie lange vor ihrer Nase gelegen hat und von dem er die ganze Zeit nichts gewusst hat.

»Hatte sie Besuch aus Split?«, will Schain wissen. »Hatte sie Kontakt zu jemandem? Haben Sie bemerkt, dass sie mehr Geld als sonst hatte? Hat sich irgendeine andere Person an der Regenrinne zu schaffen gemacht?«

Die Fragen prasseln auf ihn nieder und Jakob hat auf keine eine Antwort.

Irgendwann verzieht Tenzer mürrisch das Gesicht. »Sie müssen verstehen, dass das hier kein Spaß ist«, sagt er. »Wissen Sie eigentlich, wie viele Drogen in Ihrer Regenrinne lagen? Das Paket«, sagt er, »hat den Wert Ihres Jahresgehalts. Das ist harter Stoff, nicht etwas, das einem Teenie zufällig in die Hände fällt.«

Nein, so etwas kann einen den Kopf kosten, denkt Jakob. Aber er sagt keinen Ton.

Dann fällt irgendwann dieser Name. Cvitkovic. Cvitko. Sie fragen, ob Jakob ihn kenne oder von ihm gehört habe. Ob Silva das Café besuchte, in dem dieser Cvitko verkehrt. Das Café heißt Butterfly und liegt im Viertel Manus. Jakob weiß gerade mal so ungefähr, wo Manus liegt. Von einem Café Butterfly hat er noch nie gehört.

Schließlich zeigen sie ihm ein Foto. Cvitko hat kurz geschnittene Haare und trägt einen Ohrring im Ohr. Auf dem Bild sieht er aus wie ein sympathisches Schlitzohr. Jakob zuckt nur die Achseln und der Polizist nimmt frustriert das Bild wieder an sich. Jakob hat den Mann nie gesehen, weder in Misto noch in Split.

Zermürbt verlässt er das Präsidium. Auf dem Weg zum Parkplatz wird ihm klar, dass er jetzt einfach noch nicht nach Hause kann. Er schlägt den Weg ins Zentrum ein und taucht in das Gassengewirr mit Studentenkneipen hinter dem Theater ein. Er kommt am Franziskanerkloster vorbei und am Kaufhaus. Schließlich steht er vor dem Schülerinnenwohnheim. Er hat das nicht geplant, der Gedanke ist ihm spontan gekommen.

Jakob ist nur ein Mal hier gewesen: vor drei Jahren, als Silva eingezogen ist. Wenn sie Silva in Split besuchten, haben sie sich nie hier getroffen, sondern in der Schulaula oder in einer Kneipe, was Jakob im Nachhinein seltsam und verdächtig erscheint.

Er zögert und geht dann hinein. Auf einmal hat er den überwältigenden Wunsch, ihr Zimmer zu sehen und ihre Sachen zu berühren, sie unter seinen Fingern zu spüren.

Im zweiten Stock bleibt er vor einer weiß gestrichenen Tür stehen. Von innen hört man leise Popmusik. Da drinnen herrscht offensichtlich keine Trauer.

Er klopft und öffnet die Tür. In dem Zimmer stehen vier Betten. Eines ist leer und nicht bezogen. Auf zweien lümmeln zwei Teenagerinnen herum. Eine ist blond und hat Sommersprossen, die andere ist dunkelhaarig und trägt eine Zahnspange. Aus Silvas Erzählungen weiß er, dass sie Mirna und Nina heißen, aber er kommt nicht darauf, welche Mirna und welche Nina ist.

Das vierte ist Silvas Bett. Es steht in einer Ecke am Fenster. Es ist zerwühlt und überall liegen noch ihre Sachen herum.

»Sind Sie Reporter?«, fragt die Blonde mit unverhohlener Feindseligkeit.

Jakob zögert und sagt dann: »Ja, ich bin Reporter.« Er erschrickt vor seiner eigenen Lüge, als wäre er in eiskaltes Wasser gesprungen.

»Ihre Kollegen waren schon hier«, sagt die Blonde.

»Sie werden hier nichts finden«, ergänzt die Dunkelhaarige. »Die Polizei hat alles mitgenommen. Alles, was verdächtig war.«

»Verdächtig?«

Die Mädchen kichern hysterisch und verstummen dann, weil sie wohl erkennen, wie unpassend das ist.

»Die haben ihre Sachen mitgenommen. Alles, was sie für die Ermittlungen brauchen. Das wollten wir damit sagen.«

Jakob tritt an das Bett seiner Tochter. Es sind wirklich nicht mehr viele von Silvas Sachen hier. Der Pyjama, etwas Unterwäsche, ein orangefarbener Wecker. Doch auch diese wenigen Dinge wecken in ihm einen unerwarteten, heftigen Schmerz. Er schaut auf Silvas Klamotten, Filzstifte, einen Kamm und wird sich erneut ihrer Abwesenheit bewusst. Er bemerkt, dass nirgendwo Familienbilder stehen. Wenn die Polizei sie nicht mitgenommen hat, dann hat Silva keine aufgestellt, das erklärt, warum die Mädchen ihn nicht erkannt haben.

Aber sie sind misstrauisch.

Das war keine gute Idee, denkt er. Ich hätte nicht herkommen sollen.

Er geht hinaus auf den Flur, wo er sich an die kalte Wand lehnt und tief durchatmet, um eine kurze Schwäche zu überbrücken. Das dunkelhaarige Mädchen kommt aus dem Zimmer und stellt sich neben ihn. Jetzt fällt es ihm ein – Mirna. Silva hat erzählt, dass Mirna eine Zahnspange trägt.

Leise und verschwörerisch sagt sie: »Ich wollte vorhin nichts sagen, aber das hat so kommen müssen.«

»Was hat kommen müssen?«

»Das, was mit ihr passiert ist. Das hat so kommen müssen. Niemand hier will es zugeben. Aber die Wahrheit ist, dass sie es verdient hat.«

»Verdient? Was denn?«, fragt Jakob verwirrt.

»Das. Alles. Was auch immer passiert ist, sie hat es verdient. Das Miststück. Die Hälfte aller Mädchen im Wohnheim hat sie an die Nadel gebracht. Wahrscheinlich haben ihre Dealer sie gekillt.«

»Ihre Dealer?«

»Dieser Cvitko. Der kam immer zu ihr, hierher. Was für ein Typ.«

Jakob steht auf dem Gang und hört zu, wie das Mädchen mit der Zahnspange seine Tochter mit Schmutz bewirft. Am liebsten würde er sie zu Boden stoßen und auf sie einschlagen, mit Händen und Füßen, bis er ihre Knochen unter seinen Händen spürt. Aber dann wird das Mädchen mit der Zahnspange wieder ernst und ruhig.

»Aber bitte«, sagt sie, »schreiben Sie das nicht. Oder dass Sie es von mir haben, haben Sie gehört?«

Er nickt und das Mädchen verabschiedet sich erleichtert. Er erwidert ihren Gruß und sieht ihr nach, als sie mit einem kurzen Winken in ihrem Zimmer verschwindet.

Er verlässt das Gebäude. Der Wind hat aufgefrischt. Eine Welle stickiger, feuchter Luft umfängt ihn und er wäre fast zusammengebrochen.

Am nächsten Tag beschließt Jakob, diesen Cvitko zu finden. Wieder fährt er nach Split, auf der Fahrt entlang der Küstenstraße zittern seine Hände. Er wird sich eines neuen, unbekannten Gefühls bewusst. Er hat Angst.

Er erreicht Split, als die meisten Angestellten Kaffeepause machen. Das Auto stellt er in einer Seitenstraße ab und schlendert durch das Viertel Manus auf der Suche nach dem Butterfly. Er findet es schnell, an einem kleinen Platz unweit seines Parkplatzes. Es besteht aus einem kleinen schummrigen Innenraum und einer überdachten Terrasse. Das Lokal sieht so gewöhnlich aus wie zig andere.

Er setzt sich auf eine Bank gegenüber dem Butterfly, schlägt eine Zeitung auf, um zu tun, als würde er lesen. Er ist darauf eingestellt, zur Not auch stundenlang zu warten. Doch das ist gar nicht nötig. Der Mann, den er sucht, sitzt bereits vor dem Café.

Jakob erkennt ihn sofort. Cvitkovic sitzt an einem Tisch gleich neben der Tür, er trägt einen grünen Adidas-Trainingsanzug und sieht aus wie ein typischer Macker des Viertels, ein unrasierter Rüpel mit Bauchansatz. Er scheint entspannt und zufrieden mit sich, wie ein Mann, der keine ernsthaften Probleme im Leben hat. Er trinkt Bier aus der Flasche und liest aufmerksam eine Sportzeitung. Er trinkt einen Schluck Bier und spricht dann mit dem Kellner. Jakob kann sie nicht verstehen, aber es geht bestimmt um Fußball, wahrscheinlich um das Spiel vom Wochenende zwischen Hajduk Split und Spartak Moskau in Subotica, das Hajduk gewonnen hat.

Jakob sitzt noch keine halbe Stunde auf seinem Beobachtungsposten, als Cvitkovic sein Bier austrinkt, einen Geldschein auf den Tisch legt und aufsteht. Erst jetzt sieht Jakob, wie groß der Mann ist. Trotz seiner Tendenz zur Fülle hat Silvas Dealer einen sportlichen Körper.

Cvitko setzt eine Sonnenbrille auf, klemmt die zusammengerollte Zeitung unter den Arm und läuft Richtung Zentrum. Jakob folgt ihm.

Nach einiger Zeit biegt Cvitko in eine Seitenstraße und in ein Gassenlabyrinth ein und geht in Richtung Veli Varos. Sie laufen an verlassenen Einfamilienhäuschen vorbei, bis Cvitko schließlich in einem Hof verschwindet. Jakob bleibt stehen und linst um die Ecke. Der Hof besteht im Grunde aus den Außenwänden eines verfallenen Hauses. Auf dem Boden liegen Bauschutt und verkohlte Stützbalken. An einer der Wände kleben noch Kacheln. Jakob fragt sich, was Cvitko hier will. Dann begreift er. Der Mann im grünen Trainingsanzug hat Zeitung und Sonnenbrille auf den Boden gelegt. Er steht vor einer Wand, zieht seine Hose halb herunter und pisst. Er pisst lang und mit offensichtlichem Behagen. Als er fertig ist, verlässt er den Hof.

E schlängelt sich durch die Gassen und Gässchen von Varos in Richtung Süden und dann in Richtung Westen. Jakob folgt ihm. Dann bleibt Cvitko vor dem Schaufenster eines Brillenladens stehen. Jakob will nicht von ihm bemerkt werden und biegt um eine Ecke, wo er wartet, bis Cvitko weitergeht.

Nach ein paar Metern biegt Cvitko in die Senjska ulica und läuft nun in Richtung Osten, dann nimmt er eine Gasse, die zur Heiligkreuzkirche führt.

Als er den Kirchhof überquert hat, geht es wieder in Richtung Westen, bis er an der alten Gasabfüllung erneut eine südliche Richtung einschlägt. Jakob fragt sich, was der Unsinn soll. Silvas Dealer läuft im Kreis, ohne Plan und ohne Ziel. Er kreist innerhalb eines Radius von wenigen hundert Metern wie auf einer Acht, und Jakob kreist mit ihm.

Schließlich erreichen sie wieder den Hof. Für einen Moment hat Jakob geglaubt, den Mann verloren zu haben. Doch er steht an derselben Stelle, an der er vorhin gepisst hat und schaut auf die Uhr.

Eine magere junge Frau mit langen Haaren betritt den Hof. Sie hat einen Rucksack dabei und trägt eine für die Jahreszeit viel zu warme Jacke. Sie und Cvitko nicken einander zu.

Wie eine Art Gegengewicht zu der warmen Jacke trägt das junge Mädchen Leinenturnschuhe ohne Socken. Sie wirkt vernachlässigt und ist ungefähr in Silvas Alter. Ihr Gesicht jedoch zeigt eine Reife, die nicht zu ihrem Alter passt.

Cvitko schaut sich um und verschwindet mit dem Mädchen in einem der nahe gelegenen Hauseingänge. Sie bleiben nur kurz weg. Dann entfernt sich das Mädchen mit schnellen Schritten.

Jakob wartet, bis auch Cvitko geht. Nach kurzem Zögern folgt Jakob dem Mädchen. Er muss sich beeilen und holt sie an der Heiligkreuzkirche ein. Sie läuft Richtung Zentrum, überquert den Platz der Republik, schaut am Kino kurz in den Vorschaukasten und läuft dann auf die Fischhalle zu, die zu dieser Tageszeit bereits leer ist. Sie taucht in den Diokletianpalast ein und geht Richtung Osten, so umgeht sie die belebtesten Gassen. An der Volkshochschule biegt sie ab und erreicht einen kleinen Platz. Jakob erinnert sich an diesen Platz. Hier finden im Sommer manchmal Theatervorstellungen statt.

Das Mädchen lehnt sich an eine Mauer und zündet sich eine Zigarette an. Jakob drückt sich in einen Hauseingang. Sie bleibt lange so stehen, ohne irgendetwas zu tun. Jakob glaubt schon, es wäre ein Fehler gewesen, ihr zu folgen.

Doch dann tritt ein junger Mann auf die Frau zu, nur etwas älter als sie. Er trägt eine Bomberjacke mit den Emblemen eines Fußballclubs und hat einen Ohrring im Ohr. Er sagt etwas und die Frau nickt. Er gibt ihr Geld und sie ihm ein Tütchen. Jakob weiß nicht viel über Drogen, aber genug, um zu wissen, was er gerade beobachtet.

Die junge Frau hat dem Mann gerade Heroin verkauft. Sie dealt ganz offensichtlich für Cvitko.

Jakob bleibt stehen, wo er ist, und beobachtet entsetzt, was weiter geschieht. Die junge Frau steht am helllichten Tag auf einem Platz mitten in der Stadt und versorgt in aller Seelenruhe ihre Kunden. In der folgenden Stunde wiederholt sich das drei, vier Mal. Die Kunden geben ihr Geld und sie gibt ihnen die Ware.

Gegen vier will Jakob seinen Beobachtungsposten aufgeben und nach Hause fahren. Doch dann kommt ein weiterer Kunde. Es ist ein Junge mit wuscheligen Haaren und hängenden Schultern. Er spricht das Mädchen schüchtern an, als würde er es nicht kennen oder ihm nicht trauen. Er sagt etwas und sie nickt.

Er reicht ihr Geld und sie ihm ein Heftchen. Und dann fragt er etwas. Er fragt so laut, dass Jakob ihn hören kann. »Wo ist denn Silva?«

Das Mädchen antwortet leise, sodass Jakob die Antwort nicht versteht. Aber natürlich begreift er. Der Kunde kennt Silva. Er wollte seinen Stoff eigentlich bei Silva kaufen.

Jakob wartet, bis der Junge gegangen ist, dann verlässt er den Hauseingang. Er läuft am Museum der Revolution und der Hauptpost vorbei, erreicht den Platz beim Theater, wo er plötzlich spürt, wie sein Herz Sprünge macht und er keine Luft mehr bekommt.

Er lehnt sich an eine Hauswand und schluckt, trocken ohne Wasser, eine Beruhigungstablette. Eine Zeit lang läuft er ziellos durch die Stadt, bis die Tablette zu wirken beginnt. Dann setzt er sich eine halbe Stunde ins Auto, bis sein Blutdruck sich beruhigt hat. Erst dann fährt er nach Misto.

* * *

Als er ankommt, geht er nicht gleich ins Haus. Er parkt das Auto und läuft hinunter ans Wasser. Er läuft bis zu den letzten Häusern am Ufer entlang und dann bergauf.

Nach zehn Minuten ist er auf Krizev Rat, an der Stelle, wo seine Tochter das letzte Mal gesehen wurde.

Das Kreuz steht auf einem Hügel oberhalb des Dorfes. Mönche des Ordens des heiligen Spyridon hatten es aufgestellt, als die Reblaus wütete. Es war eine Gabe an den Gott, der ihnen die Plage geschickt und in seiner weisen Mildtätigkeit alle Weinberge vernichtet hatte. Das Kreuz war ein göttlicher Schwur der Ärmsten, und so sieht es auch aus: vier schmucklose Kalksteinbalken auf einem treppenartigen Podest. Auf diesen Stufen sitzen im Sommer die etwas unternehmungslustigeren Touristen und betrachten die Landschaft. Von hier sieht man Misto und die Bucht, die erste Inselkette und die scharfkantigen Felsen des Gebirges.

Jakob setzt sich auf eine Stufe und schaut hinunter auf Misto. Im Westen geht die Sonne unter. Die leuchtende Scheibe versteckt sich hinter einer Felsenkette und rötet den Himmel. Es ist absolut windstill, die Meeresoberfläche ist glatt wie ein Spiegel, die Häuser und den Hafen erkennt man kaum im nachmittäglichen Dunst. Zu Jakobs Füßen erstreckt sich die alte Zisternenanlage. Früher hatte man die Hänge zementiert, um für den Sommer Regenwasser in Zisternen zu sammeln. In den Sechzigern wurde Misto dann an die Wasserversorgung angeschlossen und die Zisternen wurden nicht mehr gebraucht. Auf dem betonierten Abhang wachsen Moos und Flechten und aus den Rissen wuchern Grasbüschel und Sträucher.

Als junger Mann war Jakob mit der gleichen Absicht wie Silva in jener Nacht hier heraufgekommen. Paare kamen hierher, um fernab von neugierigen Blicken zu knutschen und zu fummeln. Das letzte Mal war Jakob mit Vesna am Kreuz gewesen, ein paar Monate vor ihrer Hochzeit. Sie hatten Jakobs Jacke auf den Boden gelegt, Sex gehabt und dann aneinandergeschmiegt auf den Sonnenaufgang gewartet. Es war kalt gewesen.

Zwanzig Jahre später steht er wieder an dieser Stelle. Doch er denkt nicht an jenen frühen Morgen und wie er, nur im T-Shirt, gezittert hatte, trotz Vesnas Arm um seine Schultern. Er denkt an Silva, die am 23. September genau hier gewesen ist. Die Adrian zum Rumfummeln hierhergeführt hat, oder er sie. Und dann war etwas passiert. Hier oder woanders.

Er steht auf und schaut sich um. Er untersucht das Gebüsch um das Kreuz herum und entdeckt eine leere Kondomverpackung. Ein Schauer überläuft ihn. Dann entdeckt er eine weitere weggeworfene Packung und noch eine. Außerdem findet er benutzte Kondome, erst eins, dann noch eins. Jakob kann nicht sagen, wie lange sie da schon liegen. Aber es sind unzählige. Das Gebüsch unter dem Kreuz archiviert seit Jahrzehnten geduldig die Spuren von Sex.

Er schaut sich um und versucht sich vorzustellen, wo genau Silva und Adrian gelegen haben. Er sucht einen Flecken festgetrampelter Erde ohne Steinchen und Gestrüpp. Er entdeckt eine Stelle, die ihm als die geeignetste erscheint. Er beugt sich hinunter und befühlt sie, als hätten Gras und Erde womöglich Silvas Körperwärme gespeichert. Mit einem Stock teilt er die Büsche ringsum. Dann erregt etwas seine Aufmerksamkeit.

Unter einem Busch liegt ein länglicher Gegenstand aus milchig weißem Kunststoff. Jakob hebt ihn auf. Es ist eine Einwegspritze.

Er untersucht sie genauer und versucht festzustellen, wie alt sie ist. Schmutzig und zerkratzt muss sie hier schon länger liegen. Er wünscht sich, dass es so wäre. Aber er kann nicht sicher sein.

In der Zwischenzeit geht am Horizont die Sonne unter. In der Dämmerung verlassen Boote den kleinen Hafen, die ortsansässigen Fischer fahren hinaus. Die Boote gleiten durch das stille, tiefschwarze Wasser, ein leises beständiges Knattern von Dieselmotoren liegt über der Bucht. Um halb acht läutet Sankt Spyridon zur Abendmesse. Und wie zum Trotz erklingt aus der Kaserne die Trompete zum Einholen der Fahne. Militär und Kirche führen einen Zweikampf um die Seelen der Ortsbewohner, wie jeden Abend. Misto beschließt einen weiteren Tag, einen gewöhnlichen Tag, so gewöhnlich, dass es Jakob einen Stich versetzt.

In der Hand hält er immer noch die hässliche, gebrauchte Spritze. Er weiß nicht, was er damit machen soll, und steckt sie in die Tasche.

Er läuft den steilen Eselspfad hinunter und dann den etwas breiteren Feldweg entlang des Wassergrabens. Schon bald erreicht er die ersten Häuser.

Wenn Adrian die Wahrheit sagt, wurde Silva genau hier zum letzten Mal gesehen. Sie ist den gleichen Weg gegangen, ist auf die gleichen Steine und Erdklumpen getreten. Dann ist sie um eine Ecke gebogen und verschwunden, wie eine Dunstwolke, wie Schaumnebel.

Er erreicht die erste Kreuzung. Hier steht ein Abfallcontainer.

Er sieht sich um. Niemand ist zu sehen.

Er wickelt die Spritze in ein Taschentuch und wirft sie in den Container.

Inzwischen ist es dunkel. Hinter den Fenstern flimmern Fernseher und man hört die Stimme des Nachrichtensprechers. Die Bergleute im Kosovo streiken noch immer. Der Nachrichtensprecher verkündet eine weitere düstere Nachricht.

Zu Hause zieht Jakob im Flur leise Jacke und Schuhe aus. Er öffnet die Tür einen Spalt und sieht Mate über seine Hausaufgaben gebeugt. Mate schaut fragend auf.

Jakob geht ins Schlafzimmer und Vesna folgt ihm. Es ist ihr anzusehen, dass sie ihn fieberhaft erwartet hat. »Hast du ihn gefunden?«, fragt sie. »Hast du mit ihm gesprochen?«

Jakob zögert, unsicher, was er sagen soll.

»Ich habe ihn gefunden.«

»Und? Was hast du erfahren?«

Wie soll er es am besten formulieren? Er entscheidet sich für die schmerzloseste Variante.

»Nichts habe ich erfahren«, sagt er. »Der Mann hat noch nie von Silva gehört. Er hat sie auch auf dem Foto nicht erkannt.«

»Ich habe es gewusst«, sagt Vesna. »Ich kenne doch meine Silva. Das hat ihr einer untergeschoben.«

Sie drückt die Schlafzimmertür ganz zu und wiederholt, aber leiser, damit niemand sie durch die Tür oder die Fenster hören kann: »Das hat ihr jemand untergeschoben. Und dieser Jemand ist hier, hier in Misto.«

Blut und Wasser

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