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PROLOG

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Ich hebe die kleine Tonschale an meine Lippen und genieße die Wärme, die meine klammen Fingerspitzen durchströmt. Dies ist einer der besten Chais, die ich seit langem getrunken habe, vielleicht der beste überhaupt. Und ich sitze nicht in einem Teehaus, einer internationalen Kaffeehaus-Kette oder einem edlen Restaurant. Ich sitze auf dem Sperrholz-Fußboden eines umgebauten Güterwaggons hoch oben in den Tian-Shan-Bergen Kirgisiens, mit gekreuzten Beinen und mit allen Kleidungsstücken am Leibe, die ich zur Verfügung habe. Nur eine halbe Stunde vorher hatten meine Frau und ich uns noch Pedalumdrehung für Pedalumdrehung eine endlos lange Steigung hinaufgequält, durch Schlammlöcher, ausgewaschene Rinnen und unzählige Bächlein hindurch. Wir waren gerade zum Stehen gekommen, als uns ein Einheimischer nachdrücklich zuwinkte. Etwas zögernd legten wir die Fahrräder ab und stiefelten durch einen knietiefen Bergbach auf einen Mann mit wettergegerbtem Gesicht zu.

Wie die meisten Menschen, denen wir in dieser Region bisher begegnet waren, sprach er kein Englisch, also verständigten wir uns mit Händen und Füßen und ein paar einzelnen Begriffen auf Russisch oder Kirgisisch. Zeichensprache ist glücklicherweise weltweit verständlich, und so begriffen wir schnell, dass unsere Route nur wenig weiter von hohen Schneemassen blockiert und unpassierbar war.

Wir hatten um diese Möglichkeit gewusst, weil wir zeitig im Frühjahr unterwegs waren, aber das half uns beim Umgang mit der realen Enttäuschung wenig.

Obwohl wir uns mit ihm kaum verständigen konnten, las der Mann in unseren Gesichtern, als wir uns nun zwischen den Möglichkeiten einer Umkehr oder dem riskanten Versuch der Durchquerung eines alpinen Schneefeldes mit knapper Ausrüstung und wenig Verpflegung entscheiden mussten. Das war der Augenblick, in dem er das Wort chai, Tee, fallen ließ. Etwas Warmes zu trinken und ein bisschen Schutz gegen die Elemente war zweifellos die momentan beste aller denkbaren Möglichkeiten.

Während er etwas Brennmaterial für den Ofen zusammenraffte, betraten wir sein Heim, einen jägergrünen Güterwagen, das einzige von Menschenhand gemachte Etwas weit und breit. Trotz ihrer Räder sah diese seltsame Hütte nicht aus, als hätte sie sich in den letzten Jahrzehnten mal vom Fleck bewegt. In gemütlicher Enge war hier alles Notwendige zum Überleben vorhanden: Etwas Fleisch hing von der Decke, ein Eimer voll Wasser – mit einer dünner Eisschicht überzogen – stand in der Ecke, und ein paar Hühner gackerten bald um den Ofen herum, als er seine willkommene Wärme zu verbreiten begann.

Der kleine kniehohe Tisch verwandelte sich schnell in ein Buffet mit allem, was uns der Gastgeber bieten konnte: Tee, Zucker, Butter, Fladenbrot, Kekse und Süßigkeiten. Wir steuerten eigene Kekse bei, dazu ein paar Snacks aus unserem Reiseproviant. Das kleine batteriebetriebene Radio mit der improvisierten Antenne sorgte für ein bisschen Hintergrundmusik in dieser abgelegenen Einsiedelei.


Eine klassische Unterhaltung war nicht möglich, aber Lächeln und freundliche Gesten machten nur allzu deutlich, wie sehr wir das Miteinander über dem einfachen Mahl genossen.

Als der letzte Schluck Tee und die letzten Kekskrümel ihren Weg gefunden hatten, war es Zeit, die Reise fortzusetzen. Wir hatten noch einige Höhenmeter vor uns, bevor wir einen Übernachtungsplatz finden konnten, an dem die Temperaturen erträglich bleiben würden. Am nächsten Tag wollten wir uns um eine alternative Reiseroute kümmern. Was sich anfangs wie eine absolute Enttäuschung angefühlt hatte, war zu einer unvergesslichen Begegnung geworden. Ein wortloses Band verband uns nun mit einem Menschen in einem fernen Land. Wir verabschiedeten uns mit deutlich mehr Wärme voneinander, als sie der Tee mit sich gebracht hatte.

In diesem Teil der Welt sind Radreisende sehr selten, und diese Begegnung sollte nur eines von vielen Abenteuern sein, die uns noch bevorstanden.

Unsere Reise wäre mit einem traditionell ausgestatteten Rad und voll beladenen Packtaschen nicht möglich gewesen. Um die abgelegenen und unzugänglichen Gebiete zu erreichen, in denen wir unterwegs waren, braucht es eine sehr reduzierte Ausrüstung und spezielle Packstrategien. Sie eröffneten uns den Weg zu Menschen und Regionen mit ganz anderen Lebensbedingungen, als wir sie bisher kannten. Sie ermöglichten uns eine unvergessliche Fahrradexpedition. Und wie alle großen Abenteuer steckte diese Expedition voller Herausforderungen.

Mit leichtem Gepäck per Rad unterwegs zu sein, ist immer ein Balanceakt zwischen Vorbereitung und Vertrauen in das, was dir begegnet. Mit weniger Gepäck fährst du weiter und auch schneller. Aber vor allem: Mit nur dem Notwendigsten ausgestattet steht nichts zwischen dir und deiner Umgebung – und das ist genau das, was das Bikepacking so wundervoll macht.

Justin Kline


Bikepacking

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