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3. Kapitel: Ohne Gefühl

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Am 11.01.2011 um 12:36

schrieb: Jule22

Betreff: ohne Gefühl

Hallo Jutta, da ich grad wieder in einer „mir ist alles egal Stimmung“ bin, weiß ich nicht, ob ich so klare Antworten geben kann (was die Gefühle betrifft). Deshalb schreibe ich auch erst heute, aber es hat sich nichts geändert. Mein Tag läuft halt einfach so ab, ohne groß drüber nachzudenken und ohne Gefühle für mich oder wen anders. Nun zu deinem Text. "Kennst Du schon das Buch von Ben Furmann: Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben?" Nein, kenn ich noch nicht. Hört sich aber sehr interessant an. Allerdings lese ich lieber Bücher mit laufender Geschichte, nicht so dokuhaft geschrieben. Aber im Bücherladen kann man ja mal durchblättern. Ich lese auch keine Romane, bin eher für spannende Psychothriller und Schicksalsberichte.

"Wer der Verzweiflung so nah ist, kann gut andere verzweifelte Menschen verstehen und ihnen helfen. Also, aus dem Leiden etwas Gutes machen, was einem selber ein Wertgefühl gibt." Gut, jetzt habe ich es verstanden. In dem Forum, wo ich schreibe, ist das ja auch schon so. Mal sucht jemand Trost und das nächste Mal kann er jemanden Mut machen. "Du schreibst, dass Du denkst, nicht lieben zu können. Was empfindest Du in schönen Momenten? Bei der Lichtermesse im Dom z.B.?" Da geh ich ja alleine hin, fühl mich dann irgendwie wohl zwischen den Fremden. Ich fühl mich durch das Licht und die ruhige Stimmung einfach geborgen, ich komme zur Ruhe. Ich genieße die Zeit für mich allein, ohne mich verstellen zu müssen. Ich schließe die Augen und knie mich nieder, ohne zu wissen da ist jemand, der mich kennt und sich fragt -Was macht die denn da?

"Oder, wenn Du an Deine Schwester denkst?" Wenn ich an meine Schwester denke, geht mir eine ganze Menge durch den Kopf. Ich denke schon ich habe sie lieb. Sie ist noch der wichtigste Mensch in meinem Leben und ich mach mir im Moment Sorgen um sie. "Wenn Du ein kleines Kätzchen siehst oder ein Baby?" Da fällt mir nur grad ein, dass ich mir vielleicht beides wünsche, aber nie dafür sorgen könnte. War bei meinem letzten Haustier so, ich konnte es einfach nicht mehr anfassen, nicht mehr lieb haben - es war mir egal. Es gab mir keine Wärme mehr. Als es starb, war es sehr entlastend für mich. Kinder nerven mich momentan eher, als dass ich sie mag. Früher war ich gern mit ihnen zusammen und habe mich auch sonst immer besser mit jüngeren verstanden. Heute weiß ich nichts mit ihnen anzufangen. Kann nicht zu ihnen gehen und Kontakt annehmen.

"Wenn Du einen wirklich liebenswerten Partner finden würdest? Meinst Du nicht, dass die Liebe dann da wäre?" Ich hatte schon mal einen Freund, wo ich dachte, das könnt mal klappen. Aber die Nähe tut mir nicht gut, ich fühle mich eingeengt mit einem Partner. Ich kann nicht geben, was jemand anders von mir wünscht, ich wirke dann schnell abweisend und desinteressiert. Jetzt muss ich zum Ende kommen, muss in 10 Minuten los. Aber eins noch "kennst Du `Unsere kleine Stadt`? Da ist so ein schöner Absatz drin, als das Mädchen wieder ins Grab zurück muss. Sie vermisst den Geruch frischer Bettwäsche, duftenden Kaffee, liebende Menschen und einiges mehr." An manchen Tagen freue ich mich auch über die Spatzen, die auf meinem Balkon gelandet sind. Sie sind so frei. Ich weiß nicht ob ich was vermissen würde, jetzt jedenfalls nicht. Ich weiß nur, dass ich durch mein Pflichtgefühl jetzt nicht die Arbeit schwänzen darf, obwohl ich es so gern würde. Der Tag hat auch ein Ende. Alles hat irgendwann ein Ende. Das ist das Einzige, was mir momentan vor Augen steht.

Gruß Jule

Am 11.01.2011 um 19:57

schrieb: Jutta

Betreff: Re: ohne Gefühl

Liebe Jule, ich glaube schon, dass Du lieben kannst. Du brauchst halt die richtigen Bedingungen dafür. Im Moment scheinen Deine Kräfte verbraucht zu sein und es gibt auch nur wenige Chancen, dass von außen etwas zu Dir durchdringt. Wenn man sich so sehr ein Ende des Zustands wünscht, ist man eben auf 'Ende' fixiert und denkt beschränkt. Was soll denn anfangen? Der Zustand, den Du im Dom beschreibst, ist irgendwie mit sich, mit der Welt, mit Gott eins sein. Sich zugehörig und geborgen fühlen. Das passiert durch Liebe. Und wenn Du nur erstmal diese Liebe in Dir leben lässt, wie ein kleines Pflänzchen...

Fünf Grundbedürfnisse des Menschen (nach Pesso) sind

1. Platz 2. Nahrung 3. Schutz 4. Unterstützung 5. Grenzen.

Was meinst Du, hast Du genug gehabt, zuwenig gehabt und was fehlt Dir im Moment? Ich wünsche Dir Frieden bei all Deinen unruhigen Gedanken.

Sie kommen und sie gehen.

Liebe Grüße Jutta

Am 12.01.2011 um 11:45

schrieb: Jule22

Re: Re: ohne Gefühl

Hallo Jutta, du schreibst mir echt immer so schwere Fragen, dass ich eigentlich erstmal gar nicht antworten kann. Mit dem Anfang deiner letzten Mail hast du echt recht. Ich lasse einfach keinen an mich ran, doch auch nur, damit ich ihn nicht verletze oder erschrecke und damit ich meine Ruhe habe. Arbeit lenkt mich zur Zeit eigentlich ganz gut ab und ich kann mich mit ihr abfinden.

Nun zu den Grundbedürfnissen, die mich wirklich nachdenklich machen.

1. Platz: Ich habe schon das Glück eine eigene Wohnung zu haben. Seit ich 19 Jahre bin, konnte ich mich in meine eigenen 4 Wände zurückziehen. Aber ich finde dennoch keinen Platz, wo ich mich richtig wohl fühle. Ich fühle mich immer am falschen Ort. Ich weiß nicht wo ich hingehöre. Ich würde, glaub ich, gern wieder nach Bayern ziehen, weiter weg von meiner Familie, da habe ich mich etwas freier gefühlt. Es ist mittlerweile schon das 3.Mal, wo ich von einem Ort umziehe, weil ich es dort einfach nicht mehr ertragen kann (egal jetzt ob Job oder Umgebung).

2. Nahrung: Na ja, das ist so eine Sache, die ich stark beeinflusse. Seit mein Vater arbeitslos wurde (da war ich so 15 Jahre) und immer ums Geld gejammert hat, dass er uns nicht mehr richtig was bieten könne usw., habe ich angefangen weniger zu essen. Es gibt Tage, da esse ich gar nichts. Aber im Grunde fehlt es mir nicht an Lebensmitteln. Das Nicht-Essen ersetzt derzeit mein Ritzen, aber in dieser Nacht habe ich wieder angefangen mit dem Essen. Ich denke, wenn ich halt auf das Ende warte, brauche ich nicht essen. Das hat jetzt nichts mit Schönheitsideal zu tun oder so, manchmal kann ich einfach nichts essen.

3. Schutz: Ja, was für Schutz? Ich habe ein Dach über dem Kopf, eine Menge Versicherungen, was schützt noch? Und Wovor? Was ist zu schützen? Mit diesem Wort weiß ich jetzt nicht viel anzufangen.

4. Unterstützung: Mhm. Ja, bräuchte ich vielleicht mal etwas mehr. Meine Eltern haben mich schon unterstützt, wenn es um die Umzüge ging oder so. Gedankliche und seelische Unterstützung tausche ich eher mal mit meiner Schwester aus. Was in den letzten Wochen stark zugenommen hat, weil wir beide sehr verzweifelt am Leben sind. Sonst, wie du merkst, fühle ich mich so allein, dass ich Hilfe im Internet suche. Manchmal denke ich, wie tief kann man gefallen sein, um auf so eine Idee zu kommen.

5. Grenzen: Wieder so ein Wort, was ich schlecht in mein Leben fügen kann. Meine Eltern haben mich schon nicht überall hingelassen, oder haben mir auch Dinge verboten - aber im normalen Rahmen. Sonst - was sind schon Grenzen? Mir brauchte man auch nicht enge Grenzen setzen, ich wusste schon zeitig was zu tun ist und was man lassen sollte. Ich war kein schwieriger Teenager, da war meine Schwester schneller einmal bockig oder diskutierte mit meinen Eltern. Ich war immer ruhig und ging Diskussionen aus dem Weg. Ich hasse laute Streitsituationen und ordne mich schnell mal unter.

"Ich wünsche Dir Frieden bei all Deinen unruhigen Gedanken. Sie kommen und sie gehen." Danke Jutta, wenn ich so abgelenkt bin, wie hier beim Schreiben, komme ich jedenfalls nicht auf dumme Gedanken. Ich habe mal nachgesehen, wann die nächste Taizé Andacht ist. Diesen Donnerstag - leider habe ich Spätschicht, das hätte mir echt wieder mal gut getan. Ich danke dir für deine Unterstützung, die du mir über das Internet anbietest.

Gruß Jule

Am 12.01.2011 um 19:43

schrieb: Jutta

Betreff: MitGefühl

Liebe Jule, Du hast mein Mitgefühl! Es muss schlimm sein, wie Du Dich fühlst. Tapfer, dass Du Deine Arbeit immer noch machst. Heute werde ich Dir keine Fragen stellen, ich denke noch über Deine Antworten nach. Bin nur stutzig geworden bei diesem Satz: "Seit mein Vater arbeitslos wurde (da war ich so 15 Jahre) und immer ums Geld gejammert hat, dass er uns nicht mehr richtig was bieten könne usw., habe ich angefangen weniger zu essen." Stell Dir vor, Du hättest einen supertollen Vater, reich und gütig, liebevoll, heiter und persönlich, dessen Liebe Du spüren würdest - würde das irgendwas ändern?

Deine Jutta

Am 12.01.2011 um 23:20

schrieb: Jule22

Betreff: Re: MitGefühl

Hallo Jutta, du hast mich echt zum Heulen gebracht mit diesen Satz "Stell Dir vor, Du hättest einen supertollen Vater, reich und gütig, liebevoll, heiter und persönlich, dessen Liebe Du spüren würdest - würde das irgendwas ändern?" Ich hätte sehr gern so einen Vater. Es gibt Momente, wenn ich mit ihm in den Pilzen war, oder ich immer an seiner Werkbank arbeiten durfte (habe schon als kleines Kind immer gern an Holz geschnitzt oder rumgewerkelt), da habe ich die Nähe zu meinem Vater gespürt. DA war ich noch mit ihm verbunden. Aber jetzt bin ich meinen Eltern so fern. Der Reichtum ist mir nicht wichtig!

Aber ein bisschen mehr Liebe und Einsicht wären sehr wünschenswert. Wer wünscht sich das nicht von seinen Eltern, was du da schreibst? Leider finde ich keines von alle dem bei meinen Eltern - ich glaube sehr wohl, dass dann einiges anders gelaufen wäre und auch ändern würde. Wir wären wieder eine Familie und keine Streitgemeinschaft. Wir könnten über Probleme reden, die es vielleicht bei einer liebevollen Familie erst gar nicht gäbe. Heiterkeit kenne ich bloß, wenn die Verwandtschaft wieder gut betrunken beieinander sitzt. Sonst kommt eher wenig Freude auf. Du hast mich ganz schön gekränkt, mit dem einen Satz. War das wirklich ernst gemeint mit - würde das irgendwas ändern? Ich weiß nur, dass mein Tod was ändern würde, meine Familie wachrütteln könnte, sie vielleicht einander wieder näher kommen. Ich brauche erst gar nicht mit Wunschträumen anzufangen, unsere Familie wird nie persönlich und heiter zueinander sein. Nicht in diesem Leben. Ich mache jetzt besser Schluss. Ich bin ganz schön aufgewühlt und will auch nicht weiter über meine Eltern nachdenken.

Jule

Am 13.01.2011 um 22:00

schrieb: Jutta

Betreff: Re: Re: MitGefühl

Liebe Jule - Du irrst Dich. Deine Selbsttötung würde Deine Eltern noch mehr auseinander bringen, verwirren, belasten, kurz: sie würden nicht aufgerüttelt werden, sondern sich betäuben, fliehen, gegenseitig anklagen und so. Was Ihnen aber helfen würde, wäre, wenn Du und Deine Schwester Euren eigenen Weg geht, Verantwortung für Euer Leben übernehmt und Euch abnabelt. Es tut mir Leid, dass ich Dich so in Turbulenzen gestürzt habe. Eigentlich war meine Absicht, Dir eine Alternative vor Augen zu malen.

Ich bin schon mehrfach in der 'Pesso-Therapie' gewesen. Da geht es immer darum, was hätte Dein 'idealer' Vater, Deine 'ideale' Mutter gesagt, getan? Was hätten sie gebraucht, um 'ideal' sein zu können? Das habe ich in Workshops erlebt und es bewirkt eine Veränderung!!! Letztlich ist Gott so ein 'idealer' Vater für mich. Daraus ziehe ich Kraft. Ich weiß nicht, wie weit weg oder wie nah das für Dich ist. Irgendwann müssen wir den Wunsch aufgeben, dass unsere Eltern anders sein sollen als sie sind. Dann übernehmen wir die Regie und die muss nicht im Abseits enden. Für Dich und Deine Schwester wäre wirklich dran, einen Ort zu suchen, an dem Ihr mehr Freiheit habt. Ich habe am Bett einer jungen Frau gesessen, die wieder aufgewacht ist nach einem Selbstmordversuch und die heute heilfroh ist, dass es damals nicht geklappt hat. Jule, fang an zu leben!

Deine Jutta

Am 14.01.2011 um 18:47

schrieb: Jule22

Betreff: Re: Re: Re: MitGefühl

Hallo Jutta, ich habe mir nun schon ein paar Mal deine letzte Mail durchgelesen und weiß noch nicht so richtig, was ich schreiben kann. Eigentlich möchte ich gern diesen Mailkontakt beenden. Ich glaube ich bin grad etwas weit weg, von Gott als idealem Vater, wie du geschrieben hast. Obwohl ich mir vor Jahren geschworen habe (als es mir das erste Mal so schlecht ging) Gott nicht noch mal aus den Augen zu verlieren. Aber es ist wieder passiert. Ich kann einfach nicht mehr klar denken.

Heute hatte ich wieder ein paar Stunden, wo ich am liebsten alles hingeschmissen hätte. Aber ich hab’s wieder allein geschafft, mich aufzuraffen und doch noch zum Einkaufen zu fahren. Jetzt denke ich nur an Morgen - es wird ein schrecklicher Frühdienst. Vielleicht wäre es besser auf der Autobahn, auf dem Weg zur Arbeit, einfach mal die rechte Spur noch weiter rechts auszufahren... Ich werde niemanden gefährden, da pass ich schon auf. Das hatte ich mir schon öfter vorgenommen, nur dieses besch.... Pflichtgefühl auf Arbeit zu erscheinen und nicht unentschuldigt zu fehlen, hält mich davon ab. Wie bekommt man dieses Pflichtgefühl nur los? Egal, alles geht vorbei - irgendwann.

Tschüß Jule

Am 14.01.2011 um 19:02

schrieb: Jutta

Betreff: Re: Re: Re: Re: MitGefühl

Liebe Jule, es tut mir Leid, falls ich Dir zu nahe getreten bin. Ich weiß nur, dass Du auf andere Gedanken kommen musst, vielleicht ist da Ärger auf mich ganz gut. Was hindert Dich daran, gemeinsam mit Deiner Schwester oder auch allein, zurück in den Süden zu gehen? Dort ging es Dir besser - und Pflegekräfte werden überall gesucht. Du hast die Wahl! Wenn Du Dein Leben wegwirfst, ist es vorbei. Dann kann nichts mehr besser werden.

Ich begreife Deine Verfassung als vorübergehenden Zustand.

Ich habe schon öfter Kontakt mit jungen Menschen gehabt, die psychisch erkrankt sind, viele mit Psychiatrieerfahrung wegen Suizid und Depressionen, Zwängen und so. Es ist Wahnsinn, wie sie sich unter anderen Bedingungen (in einer stationären, sehr persönlichen Therapie) entwickeln, total lebensfroh! Ich weiß, dass Du Therapie ablehnst, ich denke jedoch, dass Du dringend Hilfe brauchst. Eine Pause in Deinem Leben, um Dich zu finden, um heil zu werden. Es würde mich freuen, wenn unser Kontakt nicht abreißt. Ich wünsche Dir morgen im Frühdienst einen Lichtblick, eine schöne Überraschung und ein gutes Gefühl!

Deine Jutta

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