Читать книгу Henkersmahlzeit - K. D. Beyer - Страница 11
India
ОглавлениеIndia – Made in India.
Sophie starrte von ihrem Bett aus den weißen Baumwollzipfel an ihrem Yogakissen mit dem Aufdruck „Made in India“ an. Mit tiefen Atemzügen verscheuchte Sophie die wirren Träume der Nacht mit Kopfschmerzen.
Sophie seufzte. Dann kroch sie aus dem Bett, nahm etwas gegen die bohrenden Schmerzen und krabbelte wieder zurück ins Bett.
Sie erwachte nach geraumer Zeit erneut und lauschte dem Regen, der an das Fenster prasselte.
Sie hatte beschlossen, für die restliche Woche das Angebot ihres Chefs anzunehmen. Dies hatte sie ihr gestern in einer knappen Antwort mitgeteilt. Sophie war stolz auf sich gewesen, dass es ihr gelungen war, ihre Antwort freundlich zu formulieren. Allerdings hatte sie für diesen Satz beinahe eine halbe Stunde benötigt. Eigentlich kamen die beiden freien Tage gar nicht so ungelegen. Am Samstag war Tag der offenen Tür im Kulturbunker. Nun konnte sie sich in Ruhe darum kümmern. Doch heute, am Donnerstag, wollte sie sich erst mal von den ganzen Strapazen der letzten Wochen erholen.
Vielleicht hatte sie die Szene am Fluss mit den Anglern nur geträumt? Aber für einen Traum saß das Entsetzen, das Sophie gepackt hatte, viel zu tief.
Als der Regen nachließ, schlüpfte Sophie in ihre Jeans, zog ihre Regenjacke an und die Kapuze tief ins Gesicht und stolperte mit ihren schmutzigen Gummistiefeln nach draußen.
„Unterbodenwäsche …“ dachte sie, als sie schwungvoll in die erste Pfütze hüpfte. Prüfend hatte sie sich dabei nach vorne gebeugt. Das Loch war tiefer als erwartet und ihr Gesicht tropfnass.
„Was für eine saublöde Aktion“, brummte sie und musste kichern. Verstohlen sah sie sich um. Hoffentlich hatte keiner ihre Tolpatschigkeit gesehen. Auf der kleinen Straße war niemand. Aber wer konnte schon wissen, wieviele neugierige Augen hinter den Fenstern lauerten?
Sophie ging mit großen Schritten weiter. Dabei vermied sie, den Weg von gestern Abend zu nehmen. Sie wollte weder zu der Fundstelle noch zu ihrem Beobachtungspunkt von gestern gehen. Sie wollte das Erlebte so schnell wie möglich vergessen und nicht weiter darüber nachdenken. Plötzlich war er wieder da, der Zweifel. Hätte sie da bleiben müssen? Als Zeugin, als Helfer? Aber nein – was hätte sie denn helfen können? So in Gedanken versunken, dauerte es eine gewisse Zeit, bis sie den unangenehmen Schmerz an der linken Ferse spürte. Der Schmerz kündigte eine banale Blasenbildung an.
Der Regen hatte inzwischen aufgehört.
Sie sollte sich trennen von diese albernen Gummistiefeln. Jedesmal scheuerte sie sich darin die Hacken wund.
Sophie bleib stehen – sie musste die Schuhe ausziehen. Suchend sah sie sich nach einer Sitzbank um. „Seltsam“, dachte Sophie suchend, „normalerweise ärgert man sich hier ständig über vollgeschmierte Bänke neben überquellenden Mülleimern. Aber wenn man eine braucht, ist keine da.“
Kurzentschlossen begann sie, im Stehen, erst den Stiefel vorsichtig vom linken Fuß zu rütteln und den anderen Stiefel anschließend von rechten Fuß zu streifen.
Da stand sie nun auf dem regennassen Weg in dicken schwarzen Socken, die bunten Gummistiefel in den Händen.
Es war nicht schade um die Socken. Sie waren schwarz und hatten an der rechten großen Zehe ein großes Loch. Sie gehörten mal Max. Sophie hatte sie aufbewahrt und irgendwann beschlossen, sie zu tragen. Sie starrte auf das Loch und dachte schon wieder an Max.
Sie stellte sich vor, wie seine zarten Finger sanft ihren Körper berührten. Diese angenehme Erinnerung ließ sie kurz die Augen schließen. Danach beäugte sie wieder kritisch das Loch im Socken durch das der pink lackierte Nagel ihres großen Zehs schimmerte.
Dies wäre also der letzte Gang für sie in diesem Sockenpaar. Sophie wanderte weiter, befreit von Schmerzen und Schuhwerk.
Als sie um die Ecke beim Wasserkraftwerk bog, prallte sie beinahe mit einer dunkel gekleideten Gestalt zusammen.
„Oups – sorry!“ Krampfhaft hielt Sophie die Stiefel fest, damit sie ihr nicht aus den Händen rutschten.
Der Mann grinste und tänzelte mit federnden Schritten um sie herum. Sie drehte sich dazu langsam im Kreis, damit sie ihn nicht aus den Augen verlor.
„Ach du bist’s“, rief sie erleichtert, als sie ihren Nachbarn Alex erkannte.
„Na, mit wem hast du denn gerechnet?“
Sie lachte „Na ja, vielleicht mit „Jack the Ripper“!“
Alex hüpfte auf der Stelle direkt vor ihr auf und ab und boxte mit geballten Fäusten in die Luft. Sie ging in Deckung.
„Der ist doch längst tot, liebe Sophie. Außerdem bist du zu alt. Seine Opfer waren jünger!“ Bevor sie ihm ihre Gummistiefel an den Kopf werfen konnte, war er auch schon um die Ecke verschwunden.
Was für einen uncharmanten Nachbarn sie doch hatte! Mit seinen frechen Provokationen weckte er blitzartig ihre Mordlust und wandelte ihren Ärger am Ende doch immer wieder in ein herzhaftes Lachen.
Das würde sie ihm heimzahlen. Auf dem Heimweg überlegte sie, wann sich dazu wohl eine Gelegenheit bieten würde.
Sie hätte ihn auch nach den neuesten Meldungen fragen können. Vielleicht hatte er schon etwas über einen grausigen Fund gelesen. Alex war immer sehr gut über alles informiert. Aber das hatte sie in diesem Moment total vergessen.
Die nassen Socken zog sie noch vor der Türe aus und warf sie dann schnell in den Mülleimer, bevor sie es sich anders überlegte und die Dinger doch noch einmal wie durch Zauberhand in den Wäschesack gewandert wären. „Waren sowieso zu groß“, rechtfertigte Sophie ihre endgültige Entscheidung.
Was sollte sie nun tun mit diesem freien Tag? „Erst mal duschen und den ganzen Dreck abschrubben!“ dachte sie. Und tatsächlich, nach 10 Minuten zeigte der Strahl der Wellness-Brause seine Wirkung. Sie trällerte „Hallelujah“. Erst leise – dann immer lauter. Zum Abschluss drehte sie die Temperatur auf eiskalt und schwenkte über zu „Wuthering Hights“. Erstaunlich, wie hoch sie unter dem eiskalten Wasserstrahl singen konnte.
Als sie aus der Dusche trat und nach dem blauen Badetuch griff, hörte sie, wie Alex den Schlüssel zu seiner Wohnung ins Schlüsselloch steckte und ihn zwei Mal umdrehte. Er wohnte auf der gleichen Etage wie sie. Ihre Wohnungstüren waren 8 Meter voneinander entfernt.
Sie starrte in den großen Spiegel im Flur. Ihre langen Haare tropften und klebten an ihrem nackten Körper. Die Wassertropfen schimmerten im Sonnenlicht, das durch das Küchenfenster auf den Spiegel fiel.
Das Telefon schrillte direkt neben ihr. Erschrocken starrte sie auf das Display. „Der General“ kündigte den Anruf ihres Vorgesetzten an. „Nein - jetzt nicht!“ murmelte sie entschlossen und straffte ihre Schultern.
Sie hatte heute frei!
Sophie ließ das Handtuch fallen und ging zu ihrer kleinen Abstellkammer. Sie öffnete die Türe. Der Duft von süßlichen Gewürzen und kräftigem Kaffee wehte ihr entgegen. Links und rechts waren Regale angebracht. Auf der rechten Seite lagerten ihre Lebensmittelvorräte. Links hatte sie ihre Schuhe untergebracht. Bis auf ihre Turnschuhe packte sie ihre Schuhe nach jedem Tragen immer wieder in ihre Schuhkartons zurück. Im Frühjahr und Sommer packte sie die Sandalen in Griffhöhe und im Herbst und Winter die warmen Schuhe. Darüber hatte sie ihre Akten mit Versicherungspolicen, Gehaltsabrechnungen, Steuererklärungen und anderen Papierkram übersichtlich sortiert. Sophie hätte auf eine Leiter steigen müssen, um die Ordner zu erreichen. Doch seit 3 Jahren hatte sie nichts mehr abgeheftet und die Dokumente einfach nur achtlos in einen großen Wäschekorb auf Augenhöhe geworfen. Der Wäschekorb hatte sich als ideal erwiesen, schnell für Ordnung zu sorgen. Sie hatte ihn mit einem Totenkopf gekennzeichnet. Ob als Abschreckung für sie oder als Warnung für irgendwelche Einbrecher war ihr selbst nicht klar.
Damit der kleine Raum größer wirkte, hatte sie gegenüber der Türe einen großen Spiegel angebracht. In den ersten Wochen hatte sie sich oft erschrocken, wenn sie die Tür geöffnet hatte und sie sich selbst gegenüberstand. Auch heute noch konnte es ihr passieren, dass sie kurz beim Anblick ihres Spiegelbildes zusammenzuckte, wenn sie gedankenlos die Türe geöffnet hatte, um nach Schokolade oder hinterhältigen Schuhen zu suchen.
Heute war sie auf die Frau in der Abstellkammer vorbereitet und blickte erregt in große dunkle Augen.
Sie bückte sich und zog eine verbeulte große rechteckige Blechkiste unter dem rechten Regal hervor. Vor vielen Jahren hatte eine Freundin ihr diese Dose mit selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen geschenkt. Sophie räumte zwei Schuhkartons zur Seite, damit sie die Blechkiste abstellen konnte. Dann klappte sie vorsichtig den Deckel dieser Kiste auf. Sie war randvoll gefüllt mit Keksen.
Mit zitternden Fingern schob sie die Kekse zur Seite und zog ein schwarzes flaches Kästchen aus Ebenholz hervor.
Sie hielt es mit beiden Händen fest. Es war sorgfältig verarbeitet. Auf dem Deckel waren winzige, zarte Blumenranken geschnitzt. Das winzig kleine Schlüsselloch an der Vorderseite war kaum zu erkennen. Sophie stellte das Kästchen vorsichtig ab. Dann tastete sie nach ihrem Vorrat an Streichholzschachteln. Sie bewahrte sie in einer alten Blechdose auf. Ein grinsender Junge war darauf abgebildet. Die Augen dieses Jungen schienen leidenschaftlich nach Zwieback zu verlangen. Prüfend schüttelte sie die Dose. Kein Zwieback, sondern kleinen Pappschachteln. Sophie griff sich nacheinander eine Streichholzschachtel und lauschte andächtig, um herauszufinden, in welchem sich der winzige Schlüssel befinden könnte. Bei der 9. Schachtel klapperte es. Gewicht und Ton deuteten auf einen anderen Inhalt als Zündhölzer hin.
Mit dem rechten Zeigefinger schob sie die Lade aus der Hülle und nahm vorsichtig den kleinen schwarzen Schlüssel mit Daumen und Zeigefinger heraus.
Mit zitternden Händen schloss sie das Kästchen auf und hob sanft den Deckel. Es war komplett mit edlem, schwarzem Samt ausgeschlagen.
Sie hielt ihren Schatz in der linken Hand und strich sanft mit den Fingerspitzen ihrer rechten Zeige-, Mittel- und Ringfinger darüber.
Liebevoll betrachtete sie die weißen, zarten Knochen einer menschlichen Hand.