Читать книгу Henkersmahlzeit - K. D. Beyer - Страница 9
Golf
ОглавлениеGolf, die traditionelle Ballsportart, erfreut sich wachsender Beliebtheit und auch Johannes war passives Mitglied diverser Golfclubs. Letztes Jahr hatte er mit seine Tochter am Golf von Mexiko geübt, Bälle abzuschlagen. Das Training verlief schnell im Sande, da Johannes sich äußerst ungeschickt anstellte und sich dabei selbst und andere mit seinem Schläger verletzte. Er zog es daher vor, sich mit anderen sportlichen Lebewesen zu beschäftigen, wie zum Beispiel seinen Lieblingstieren, den Meeresschildkröten.
Am Golf von Mexiko liegen zahlreiche Legeplätze für Meeresschildkröten. Die Sonne brütet die Eier aus, wobei die Temperatur über das Geschlecht der Jungtiere entscheidet: bei höheren Temperaturen entwickeln sie sich zu Weibchen, bei niedrigeren Temperaturen entwickeln sich Männchen.
Johannes war schon immer fasziniert von den Geheimnissen dieser Erde. Bereits im Kindergarten interessierte er sich mehr für Bücher als für die anderen Kinder. Auf keinen Fall wollte er diese dämlichen Spiele im Stuhlkreis spielen. Es war ein Kompromiss, wenn er sich still dazu setzte und dabei über die Pyramiden in Mexiko nachdachte.
Als Kind wurde es ihm zum ersten Mal so richtig bewusst, dass er Forscher werden wollte, als er in einem Film über Meeresschildkröten, von diesem spannenden Phänomen erfuhr. War das bei den Menschen auch so? Wieso war er ein Junge, obwohl es doch immer so heiß war, wenn er Geburtstag feierte? Und wieso hatte seine Mutter, eindeutig weiblich, an Weihnachten Geburtstag? Vielleicht war es ja einfach nur anders herum. Aber dann hätte sein Vater ja auch im Sommer Geburtstag und nicht am Nikolaustag. Mit solchen und noch viel komplizierteren Fragen verbrachte er seine Tage und Nächte. So lange er denken konnte, spürte er einen unbändigen Wissensdrang in sich und bald hatte er auch herausgefunden, dass bei den Menschen nicht die Sonne für das Geschlecht zuständig war, sondern ganz andere Faktoren, die er nicht ganz auf Anhieb verstehen konnte. Was unterschied Menschen von Tieren? Nur die Sprache, die Lüge und die erbarmungslose, grausame Gewalt? Auch in der Tier- und Pflanzenwelt gab es Lügner und Verführer, jedoch kein einziges heimtückisches, perfides Gehirn.
Johannes machte schnell Karriere als Neurowissenschaftler. Er arbeitete an den unterschiedlichsten Projekten, die meist streng geheim waren. Seine Arbeiten zur Erforschung von Massenmördern waren in Fachkreisen international anerkannt. Es gab für ihn keine höheren Auszeichnungen mehr.
Doch bald würde es einsam für ihn werden. Er musste handeln.
Nachdenklich beobachtete die Tiere, die gemächlich noch immer vor ihm hin und her paddelten, gründelten und sich in aller Ruhe auf die Nacht vorbereiteten. Sie hatten sehr schöne, lange, schlanke Hälse.
Johannes musste unwillkürlich an den Fall eines Serienmörders denken, der sich auch an diesen harmlosen Geschöpfen vergriffen und ihr Blut getrunken hatte.
Psychopathen sind hervorragende Schauspieler und es gehörte sehr viel Erfahrung dazu, diese Monster im Alltag zu entlarven. Gute Indikatoren dafür sind zum Beispiel Augen, in denen sich kein Mitgefühl widerspiegelt. Und genau das ist die Krux: den sogenannten normal empathischen Menschen mangelt es einfach an der Vorstellungskraft dieser perfiden Gedankenstrukturen, die diese Täter von anderen so gravierend unterscheiden. Die Erforschung dieser Gehirne war Johannes Leidenschaft und er stand ganz kurz vor einem bedeutenden Quantensprung seiner Forschung.
Heute hatte Johannes nach seiner Arbeit der kleinen Bücherei im Studentenviertel einen Besuch abgestattet.
Charmant wandte er sich an die Buchhändlerin: „Verkaufen Sie auch zu jedem Buch die dafür notwendige Lesezeit?“
„Schön, wär’s. Doch ich kann ihnen helfen, das Buch zu finden, dass sie gerne lesen möchten. Dann bleibt ihnen mehr Zeit zum Lesen.“
„Das klingt vielversprechend …!“
„Was suchen Sie denn?“
Die Buchhändlerin schaute ihn freundlich an.
„Wo finde ich Geschichten heimischer Autoren, der, sagen wir mal, letzten 100 Jahre?“
Die Buchhändlerin führte ihn zu einer Bücher-Wand direkt neben dem Schaufenster. Johannes bedankte sich und vertiefte sich in die Bücher aus den kleinen Verlagen der Region.
Vielleicht fand er einen wertvollen Hinweis.
Er arbeitete gerade an einem äußerst interessanten und seinem bisher schwierigsten Fall. Innerhalb kürzester Zeit waren Frauenleichen aufgetaucht, die auf einen besonders gewalttätigen und gefährlichen Serienmörder hinwiesen. Noch war nicht einmal klar, ob es sich um den gleichen Täter handelte. Johannes hatte bereits früher extreme Fälle von Kannibalismus bearbeitet. Der aktuelle Fall jedoch überstieg sogar seine Vorstellungskraft.
Er sollte ein Profil des Täters erstellen. Mit jeder neuen Leiche musste Johannes seine gewonnenen Ergebnisse wieder verwerfen und überarbeiten.
Der Täter ging äußerst klug und gerissen vor. Details durften niemals an die Öffentlichkeit gelangen. Denn wieder einmal hatte die Justiz unverzeihliche Fehler gemacht. Wichtige Spuren und Details waren verschwunden oder wurden schlicht und einfach übersehen.
Seine Recherchen hatten ihn wieder auf den Kannibalen aufmerksam gemacht, der in den 60er Jahren genau hier vergewaltigte, tötete, Leichenteile kochte und sie auch verzehrte.
Zufällig wurde seine Tat entdeckt, als er die Eingeweide des vierjährigen Mädchens die Toilette runterspülte und damit die Rohre verstopfte. Er behauptete, dass es nur Gedärme eines Tieres seien. Als die Polizeibeamten aber seine Küche genauer inspizierte, entdeckten sie auf dem Herd einen Suppentopf, in dem sie anstelle einer Suppe, gekochte Teile des Kindes fand. Nun konnte er seine Taten nicht länger leugnen oder vertuschen und er wurde verurteilt. Doch er zeigte niemals Mitgefühl oder Reue. Ganz im Gegenteil: er ging davon aus, dass man ihn schnell wieder frei lassen würde.
Die Taten dieses einfachen Mannes waren harmlos im Gegensatzt zu dem großen Unbekannten. Auf den ersten Blick wirkte dieses willkürliche Abschlachten sinnlos.
Doch Johannes würde bald einen Zusammenhang finden.
Er war sich so sicher, dass er den Täter bald überführen würde.
Heute wollte Johannes sich mit leichter Lektüre ein bisschen ablenken. Insgeheim hoffte er, mit dieser einfachen List, sein überlastetes Gehirn zu stimulieren, ganz neue Gedanken zu entwickeln.
Vielleicht fand er dadurch endliche den goldenen Schlüssel zum Täter.
Johannes hatte bereits zahlreiche Täter während ihrer Haftstrafen kennen gelernt. Er hatte stunden-, oft auch tagelange Gespräche mit ihnen geführt und so einzigartige Erkenntnisse über deren Motive und Denkstrukturen erlangt.
Es war die Reaktion des Opfers, die süchtig machte. Es war der Ausdruck des Opfers in dem Moment, in dem ihm klar wird, dass es sterben wird, was die meisten Serienkiller Grenzen überschreiten ließ.
Der Anspruch auf Macht über Leben und Tod, wilde Entschlossenheit und äußerste Brutalität waren bei ihnen besonders ausgeprägt. Sie planten alles, bis auf die Tat selbst und das Opfer.
Johannes war fasziniert davon, mit welcher Leichtigkeit und Gleichgültigkeit seine Klienten über ihre Missetaten sprachen. Ganz so, als ginge es um einen kleinen Abend-Spaziergang und nicht um die Qualen eines anderen Menschen.
Die Personen, die er analysiert hatte, sahen aus wie ganz normale Menschen. Keiner sah ihnen das Perfide an der Nasenspitze an. Seine Klienten setzten auch bei ihm ihre große Gabe ein, Menschen zu manipulieren und für sich zu gewinnen. Diese Tricks wirkten auch bei ihm, doch zum Glück durchschaute er sie schnell.
Jeder einzelne seiner Klienten hatte etwas anderes, das ihn antrieb. Doch diese Kälte, diese eiskalte Gefühlskälte, fand er in allen wieder. Besonders faszinierte Johannes sich für die sexuellen Sadisten, die sich ihre Befriedigung aus den Qualen anderer holen und dafür den Widerstand als Mittel zum Zweck brauchen. Oft lag vor der ersten Tötung ein langer Prozess mit zahlreichen Vergewaltigungen.
Viele Mörder wurden zufällig überführt.
Johannes hoffte, durch die intensive Beschäftigung mit Mister X, Zeit zu gewinnen, im Kampf gegen seine Krankheit. Für ihn war der Fall ein Kopf an Kopf Rennen gegen das Vergessen.
Wie erwartet, fand Johannes beim Stöbern in den alten Büchern nichts Brauchbares. Doch er nahm sich vor, bald mal wieder dieser gemütlichen kleinen Buchhandlung einen Besuch abzustatten.
Falls er es nicht vergessen würde.
Er verspürte Hunger und beschloss, nach Hause zu fahren. Er setze sich in sein Auto und fuhr mit Hilfe seines intelligenten Navigationsgerätes den kurzen Weg zu seiner neuen Wohnung in dem kleinen Dorf, in dem auch Sophie und Vera wohnten.
Er wanderte die Dorfstraße entlang und hielt in den Kneipen und Restaurants Ausschau nach einem freien Platz.
Beim Italiener hatte er Glück.
Der kleine Tisch am Eingang war heute noch nicht besetzt. Dieser „Notsitz“ war sogar besonders beliebt, weil seine strategisch günstige Lage direkt bei der Garderobe, sich als ausgesprochen kommunikativ erwiesen hatte. Johannes war das zunächst gar nicht recht, doch dann nahm er die Entschuldigungen an, wich geschickt den langen Mänteln aus, duckte sich weg und begrüßte oder verabschiedete beinahe jeden Kunden einzeln. Außerdem konnte Johannes von dort aus bestens das emsige Treiben in der Küche und die Gäste an den anderen Tischen beobachten.
Am großen Tisch, ganz hinten, tagte ein lebhafter Elternstammtisch. Er war zum Glück weit genug entfernt, dass der Lärm, den die heitere Runde verursachte, Johannes nicht störte.
Zwei junge Frauen und ein junger Mann liefen eifrig hin und her, nahmen Bestellungen auf, servierten die ansprechenden Speisen und kassierten ab. Johannes konnte sehen, wie die jungen Frauen um ihren Kollegen buhlten. Er konnte sehen wie die weiblichen Gäste sehr gern von diesem Kellner umsorgt wurden. Der Großteil der anwesenden Damen war offensichtlich sehr angetan von diesem unwiderstehlichen, durchtrainierten Helden.
Johannes senkte seinen Kopf und vertiefte sich in die Speisekarte.
„Bona sera, darf ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen?“ Die tiefe Stimme des Kellners hatte einen charmanten italienischen Akzent. Johannes ließ sich einen Wein empfehlen, passend zu seinem Fisch.
Während er auf seinen Rosé wartete, beobachtete er weiter die Anwesenden.
An den kleinen Tischen saßen Pärchen, dies sich offensichtlich für ein erstes Kennenlernen verabredet hatten.
Johannes machte sich ein Spaß daraus, aus den Gesprächsfetzen, die herüberflogen, Prognosen für deren Zukunft zu stellen.
Heute gaben die Kandidaten mal wieder sehr schlechte äußerst klägliche Vorstellungen. Immer einer der beiden quasselte zu viel und merkte nicht, wie sein Gegenüber sich langweilte.
Johannes nippte an seinem Wein und beobachtete, wie in der Küche sein Essen zubereitet wurde: Steinbutt mit Pilzen und Kartoffelgratin.
Beim Essen schielte er immer wieder zu der Frau im roten Kleid. Sie hatte ihm sogar ein Mal zugenickt, fast so, als ob sie sich kennen würden. Doch er konnte sich nicht erinnern. Auf alle Fälle wirkte sie sehr gelangweilt von ihrem Bewerber. Dieser schien dies jedoch zu ignorieren und redete permanent auf sie ein. Am anderen Tisch saß ein Mann, der hätte viel besser zu ihr gepasst. Doch dieser wurde von seiner Partnerin in Beschlag genommen. Sie bemerkte gar nicht, wie er immer wieder auf die Uhr über der Eingangstüre schielte.
Da saßen nun also zwei Menschen, Rücken an Rücken, die vielleicht eine Chance auf eine gute gemeinsame Zeit gehabt hätten.
„Nicht mein Problem“, Johannes lies den Steinbutt auf seiner Zunge schmelzen.
Die Frau mit dem roten Kleid hätte gerne das Treffen beendet. Für Johannes war dies offensichtlich. Doch sie schien zu höflich, um einfach aufzustehen, dem Schwätzer noch einen schönen Abend zu wünschen und nach Hause zu gehen.
Doch da hatte Johannes sich getäuscht. Mit einem lauten „Dafür ist mir meine Zeit zu schade!“ stand sie auf, knallte einen Geldschein auf den Tisch und stürmte auf Johannes zu. Ärgerlich wollte sie einen roten Trenchcoat von der Garderobe reißen, dabei fiel eine schwere, schwarze Lederjacke herab und landete direkt auf Johannes.
„Tschuldigung, wie peinlich! Sind sie verletzt?“ stammelte die Verursacherin.
Grinsend schaute Johannes unter der Jacke hervor. So etwas Verrücktes war ihm schon lange nicht mehr passiert.
Sie lächelte erleichtert zurück.
Der Mann, den sie soeben verlassen hatte, schaute verdattert herüber. Die Frau untersuchte die Jacke nach eventuellen Beschädigungen oder Flecken und blickte sich suchend um. Der Mann vom Nebentisch erhob sich und nahm die Jacke in Empfang, um sie wieder aufzuhängen.
„Bitte melden Sie sich, wenn sie doch noch Flecken oder Beschädigungen an der Jacke finden sollten. Ich gebe Ihnen meine Visitenkarte unter der Sie mich erreichen können!“ Erfreut nahm der Lederjacken-Mann die Visitenkarte entgegen und steckte sie in seine Jeanstasche. Die Verlassene am Tisch schäumte vor Wut.
„Junge, in deiner Haut möchte ich nicht stecken!“ dachte Johannes mitfühlend.
„Bekomme ich auch Ihre Karte, falls ich morgen mit einem Schädel-Hirn-Trauma aufwachen sollte – und die Kopfschmerzen nachweislich nicht von diesem köstlichen Wein hier stammen?“ Johannes war in Höchstform. Vielleicht wurde die alte Ziege dort drüben dann auch wieder entspannter.
„Natürlich – tut mir echt leid!“ Sie suchte nach einer weiteren Visitenkarte und reichte sie Johannes.
Sie gab ihm die Hand und verabschiedete sich auch von den Nachbartischen mit einem kurzen Nicken.
Johannes schaute auf die schlichte Visitenkarte.
Sie hieß Vera.