Читать книгу Armadeira - K. Ingo Schuch - Страница 5
Tavares
ОглавлениеDie mittelgroße, dunkelhaarige Frau schlenderte gemächlich die Straße entlang. Sie trug einen Wischmopp und einen Eimer mit Putzmitteln. Offenbar war sie eine empregada, ein Hausmädchen, das auf dem Weg zu ihrer Arbeit war. Besonders eilig hatte sie es nicht, wie überhaupt die Leute auf der Straße der für die Küstenbewohner typischen Gemächlichkeit ihrem Tagwerk nachgingen.
»No sossego«, sagt der Brasilianer, wenn er zum Ausdruck bringen will, dass das Leben ein ruhiger, langer Fluss ist. Hektik ist etwas für Großstädter und auch wenn schon viele davon kurz vor Weihnachten in dem Städtchen unterwegs waren, hatten die Paulistanos sich dem gemächlichen Tempo angeglichen.
Noch fünfzehn Jahre zuvor war Juquehy eine verträumte Siedlung mit einem Lebensmittelladen und ein paar Wochenendhäusern entlang der Strandlinie. Damals gab es nur eine Erdstraße zur Rio-Santos, die nach den nachmittäglichen sintflutartigen Regenfällen nur mit einem Geländewagen befahrbar war. Natürlich scherten sich die Dorfbewohner nicht wirklich darum. Einen Geländewagen hatte damals hier niemand, man umfuhr mit seinem Fusca oder mit dem Fahrrad so gut es ging die metertiefen Schlaglöcher, die irgendwann mit Schotter wieder aufgefüllt wurden, bis der nächste Regen die Löcher wieder ausspülte. Mit der Zeit hatten die Wochenendbesucher zugenommen. Es wurden weitere Häuser gebaut, die Hauptstraße wurde asphaltiert, ein Shopping kam hinzu und mehrere kleine Pousadas sowie ein Hotel einer amerikanischen Kette buhlten um die Gäste, die aus São Paulo und zunehmend sogar aus dem Ausland anreisten, um die Wochenenden oder Ferien am Strand zu verbringen.
Die Frau bog an der nächsten Ecke rechts ab. Wahrscheinlich hatte sie den Auftrag, in einem der älteren Wochenendhäuser sauber zu machen, die ein paar Querstraßen weiter weg standen von der Uferpromenade und vom Strand mit seinem weißen, feinen Sand. Die meisten standen unter der Woche leer, jetzt dürften einige bereits vermietet sein. Ihr Ziel war das letzte Haus am Ende der Erdstraße. In unregelmäßigen Abständen waren hier Metallständer in die rote Erde versenkt, auf die man die schwarzen Müllsäcke legen sollte, um sie vor Ratten oder streunenden Hunden in Sicherheit zu bringen. Seit einigen Jahren warben verschiedene Bewegungen für Ökotourismus und Naturschutz in den Touristenorten des Litoral und langsam begann sich so etwas wie ein Umweltverständnis auch bei den Bewohnern einzustellen.
Vor dem Haus war ein silberner Chevrolet geparkt. Offenbar war jemand zu Hause. Es war schwül. In der Luft hing der Geruch der Jacas, die überreif von den Bäumen gefallen waren und nun am Wegesrand verfaulten. Die Frau prüfte die hintere Eingangstür und stellte fest, dass sie verschlossen war. Leise ging sie um das Haus herum. Der Rasen war gesäumt von Bougainvillea mit violetten Blättern und blauen Tumbérgia. Von der Hauswand hingen die gelben und roten Blüten der Sapatinho-de-Judia herab. Kleine, blaugrün schimmernde Beija-Flor schwirrten zwischen den Blüten umher. Die Terrassentür stand offen, gedämpfte brasilianische Musik war zu hören. Die glockenhelle Stimme von Elba Ramalho. Die empregada klopfte an den Fensterladen und rief halblaut: »Alô. Ist jemand zu Hause? Senhor? «
Sie bekam keine Antwort. Vorsichtig trat sie ins Haus und blickte sich um. Das Wohnzimmer war mit einer Sitzgruppe mit bunten Auflagen ausgestattet, die Wände waren weiß gestrichen. In einer Ecke stand ein einfacher Holztisch mit ein paar Stühlen, auf einem Sideboard stand die Stereoanlage. Auf einem Sitzmöbel lag ein Mann. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Er schlief. Ein Glastisch beherbergte neben einer leeren Flasche Rotwein und einem Glas die Reste einer einfachen Mahlzeit. Reis und Bohnen. Ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Fußboden. Offenbar hatte der Mann es sich nach dem Essen gemütlich gemacht und war dabei eingeschlafen.
Die Frau stellte den Eimer ab und legte den Mopp vorsichtig daneben. Sie schlüpfte aus ihren chinelos und ging barfüßig zur Küche. Niemand da. Auch die beiden Schlafzimmer und das Bad waren leer. Das Haus hatte nur das eine Stockwerk. Sie ging zurück ins Wohnzimmer und schloss leise die Terrassentür ab. Mit einer geübten Bewegung zog sie die Träger herunter und streifte ihr Kleid ab. Sie trug keine Unterwäsche. Ihre Brüste waren klein und fest. Der flache Bauch und die kräftigen Beine zeugten von sportlicher Betätigung. Ein feiner Schweißfilm überzog ihre nahtlose Bräune. Sie löste ihre langen Haare und schüttelte den Kopf.
Während sie die Sitzgruppe umrundete, warf sie einen Blick auf den Schlafenden. Ungefähr Fünfzig. Schlank. Gepflegte Erscheinung. Er trug Shorts und ein Polohemd von Hering.
Sie drehte den Lautstärkeregler der Musikanlage hoch, dann ging sie mit wackelnden Pobacken hinüber zur Couch und betrachtete beinahe zärtlich den Mann, der wie ein Embryo eingerollt vor ihr lag. Sie bückte sich und holte behutsam noch etwas aus dem Eimer.
Aus den Lautsprechern drang die kraftvolle Stimme Zé Ramalhos:
Não vou me sujar
Fumando apenas um cigarro
Nem vou lhe beijar
GAmberndo assim o meu batom
Quanto ao pano dos confetes
Já passou meu carnaval
E isso explica porque o sexo
É assunto popular...
No mais estou indo embora!
No mais estou indo embora!
No mais estou indo embora!
No mais!
Der Mann schreckte hoch. Seine Haare waren auf einer Seite schweißnass an den Kopf geklebt, auf der Wange hatte er den Abdruck des Sitzkissens. Schlaftrunken starrte er auf die nackte Frau. Er verstand nicht.
»Wer bist du? Wie bist du hier rein gekommen und mach die Musik leiser! «, brüllte er gegen den Refrain an.
Er wollte sich erheben. Die Frau machte einen Satz auf ihn zu und kauerte auf einmal auf seiner Brust. Er konnte seine Arme nicht heben, weil sie sie mit Ihren Schenkeln fest auf das Sitzmöbel drückte. Er versuchte zu strampeln und sie abzuwerfen, aber sie war überraschend kräftig. Als seine Nase ihren Bauchnabel berührte, begann sich in seiner Hose etwas zu regen. Sie griff mit einer Hand nach hinten und nestelte an seinem Gürtel herum. Ihre Lippen waren auf einmal ganz nah an seinem Mund. Züngelnd fuhr ihre Zunge ihm ins Ohr. Sein Körper reagierte. Er wollte es tun. Er versuchte sie mit seinen Lippen zu erreichen, aber die Frau drehte den Kopf zur Seite.
Plötzlich fuhr ihm ein brennender Schmerz in den Nacken. Etwas hatte ihn gestochen! Er spürte Panik aufsteigen. Nochmals versuchte er sich hoch zu stemmen, aber die Frau saß wie ein Alb auf ihm. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren. Sein Herzschlag schien sogar die laute Musik aus den Lautsprechern zu übertönen. Jetzt wurde ihm schlecht. Merkwürdigerweise hatte er nach wie vor einen Ständer.
Die Frau rutsche ans Fußende, zog ihm mit einem Ruck Hose und Unterhose herunter, dann bestieg sie ihn wie ein Reittier. Dabei stieß sie gutturale Töne in einer Sprache aus, die er noch nie gehört hatte. Er lag einfach nur da und ließ es geschehen.
Jetzt kamen die Schmerzen. Er stöhnte und warf den Kopf hin und her. Dann begann er zu schreien. Er hörte nicht mehr auf zu schreien, während die Frau es ihm antat. Während sie das Unaussprechliche tat. Draußen begann es zu regnen.
Ernesto Teixeira saß auf der Terrasse, die zum Garten hin führte, und blätterte im O Estado De São Paulo.
Der Sportteil wurde dominiert durch eine Neuauflage der Diskussion, ob einige der Altstars für die Seleção nominiert werden sollten, nachdem auch die letzte Copa mit einem frühzeitigen Ausscheiden im Viertelfinale geendet hatte. Mittlerweile gab es zu dem Ausverkauf der jungen Talente einen Gegentrend. Die ehemals wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten nach Europa geflüchteten Spieler kehrten zum Ende ihrer Karriere zurück nach Brasilien. Ronaldo und Roberto Carlos spielten bei den Corinthians - und das nicht einmal schlecht - und schon gab es die ersten Gerüchte, auch Rivaldo bemühe sich um einen Wechsel zu einem einheimischen Verein. Derzeit konnte man den Eindruck gewinnen, in dem sportbegeisterten Land sei vollständig der Wahnsinn eingezogen. Über die Seleção wurde immer geredet und geschrieben, aber nachdem Brasilien nicht nur den Zuschlag für die Austragung der Copa 2014 erhalten hatte, würde Rio ja auch noch Gastgeber der Olympischen Spiele sein. Und natürlich witterten die oppositionsnahen Medien bereits wieder Schiebereien im großen Stil. Als wenn die Vergabe von Großereignissen irgendwo anders ohne Zuwendungen erreicht würde! Teixeira legte die Zeitung weg und goss sich noch einen Kaffee nach.
Aus dem Nachbarhaus drang gedämpftes Gitarrenspiel. Es gefiel ihm, wenn Paulo übte, vor allem, wenn er es leise tat. Irgendwas von Alceu Valença. Mit dem Fuß wippte er im Takt. Es würde wieder ein heißer Tag werden, aber hier wehte immer ein sanftes Lüftchen. Er würde Silvana bitten, nach den Feiertagen José Luiz anzurufen, die Hecke müsste mal wieder geschnitten werden. Oben in der Palme zeterten die Sittiche, auf der Straße ließen ein paar Jungs die ersten Raketen steigen. Mittlerweile hatte sich dieser Silvesterbrauch auf die Weihnachtszeit ausgedehnt. Drüben schnappte der Köter über. Der verdammte Pitbull stieß jedes Mal, wenn jemand am Haus vorbeiging, sein heißeres Gebell aus. Das war kein Hund, sondern eine Hyäne. Nachts heulte er den Mond an. Im Gegensatz zu Paulo waren die Nachbarn zur Rechten komplett resistent gegen Lärm, insbesondere gegen den durch sie selbst verursachten. Irgendwann würde Teixeira sich etwas einfallen lassen müssen.
Das Telefon klingelte. Er wartete, dass das Hausmädchen abheben würde. Dann fiel ihm ein, dass heute Heiligabend war und sie frei hatte. Silvana war im Garten und striegelte Ronaldo, ihren Schäferhund. Sie rief gegen das Hundegebell an: »Ernesto, willst du nicht ran gehen? « Nun merkte er, dass es sein cellular war, das drinnen auf dem Tisch hartnäckig läutete.
»Droga. « Fluchend stemmte er sich hoch und ging ins Wohnzimmer. Er erkannte die Nummer des Anrufers im Display. »Fernanda. Es ist noch zu früh, mir Frohe Weihnachten zu wünschen. Was willst du? «
Am anderen Ende der Leitung erkannte er das leichte Lispeln der Sekretärin, die die unfreundliche Begrüßung konterte, indem sie seinen Dienstgrad weg ließ: »Teixeira. Es tut mir ja außerordentlich leid, dass ich dich beim Frühstück stören muss, aber in Juquehy gibt es einen Toten. «
Teixeira fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht und versuchte sich zu erinnern, was er gestern Abend alles getrunken hatte, um sich so schlecht zu fühlen. Er griff nach der Schachtel und steckte sich eine Mentholzigarette an. Das machte es nicht wirklich besser.
»Fernanda, in São Paulo gibt es statistisch jeden Tag fünfzig gewaltsame Todesfälle. Juquehy liegt im Bezirk São Sebastião und dafür dürften die Kollegen von DEINTER 1 zuständig sein. Was ist denn an dem so besonders, dass du mich deswegen anrufen musst? «
»Desculpa. Aus irgendwelchen Gründen will der Geral, dass du selbst hinfährst und den Fall übernimmst. «
Fernanda war so etwas wie die rechte Hand des Responsável pelo Homicídio, des Leiters der Mordkommission. Teixeira wurde hellhörig. »Wer ist es denn? « brummte er ins Telefon. Seine Stimme klang, als habe er mit Reißnägeln gegurgelt. Er drückte angewidert die gerade angerauchte Zigarette in einem Blumenkübel aus. Silvana würde ihn umbringen, wenn sie die Kippe fand.
»Das Opfer heißt José Gabriel Tavares. Er war Direktor in einer Holzfirma. Der Geral muss ihn persönlich gekannt haben, anders kann ich mir nicht erklären, warum ihm das so dringlich ist, dass ich dich an einem Samstag anrufen muss. «
Fernanda erzählte noch irgendwas von einem Wochenendhaus und von einer empregada und einem Wachmann. Teixeira hörte gar nicht genau hin. Er würde die Details früh genug mitbekommen. Wenn der Geral sich selbst in die Ermittlungen einschaltete, bedeutete das Ärger. Besser, er versuchte richtig nüchtern zu werden. Er knurrte ins Telefon: »Ich gehe jetzt duschen und schaue, ob ich in diesem Haus noch was zum Anziehen finde. Ein herrlicher Tag um an den Strand zu fahren. «
Nachdem ich Silvana erklärt habe, dass sie die Vorbereitungen für heute Abend alleine treffen muss.
Der mittelgroße, kräftig gebaute Mann stapfte auf das Haus zu. Sein weißes Hemd mit den Knitterfalten und den handtellergroßen Schweißflecken unter den Achseln verrieten den Städter. Er trug eine braune Anzughose und Slipper. Graumelierte, ehemals schwarze Haare fielen ihm hinten wellig über den Kragen. Das Gesicht mit der Adlernase dominierte eine Brille im Onassis-Stil. Dem Gesamteindruck nach konnte es sich um einen Mathematiklehrer oder Journalisten handeln. Dagegen sprach, dass ein junger Polizist zackig salutierte und für ihn das orangefarbene Absperrband hob, als er den Herankommenden sah. Ein Abzeichen am Ärmel wies den Uniformierten als Mitglied der Polícia Civil aus São Sebastião aus.
Vor dem Haus standen einige Gaffer herum, die aufgeregt die Köpfe zusammen steckten, als sie sahen, dass da offenbar jemand von Bedeutung gekommen war. Die Küchentür war offen. Rund um die Türklinke und am Türrahmen hafteten die Reste von Mangandioxidpulver, das die Kollegen der Spurensicherung aufgebracht hatten, um Fingerabdrücke sichtbar zu machen.
Der Neuankömmling bewegte seinen massigen Körper durch die Küche und betrat den Wohnraum. Hinter der Türschwelle hatte jemand seine letzte Mahlzeit wieder von sich gegeben. Ein säuerlicher Geruch hing in der Luft. Dutzende Fliegen schwirrten umher. Sein Magen protestierte und er machte einen großen Schritt um die Lache. Aus der Brusttasche zog er die Zigaretten-Packung und zündete sich eine an. Er blickte sich in dem Raum um. An den Wänden hingen einige vergrößerte und gerahmte Fotos. Zwei blonde Kinder, mal in Winterkleidung vor einer Bergkulisse, mal mit ihren Eltern abgelichtet, im Hintergrund das Meer und Backsteinhäuser. Wahrscheinlich eine europäische Stadt.
Auf dem Holzfußboden vor der Sitzgruppe war mit Kreide der Umriss eines Menschen eingezeichnet. Kein Blut.
Ein junger Mann in Designerjeans und einem neongrünen T-Shirt mit einem Alienkopf und dem Aufdruck CANTINA BAR MOS EISLEY löste sich aus einer Gruppe von Uniformierten, die rauchend auf der Terrasse und im Garten herum standen und schlurfte auf ihn zu. Seine Frisur entsprach der aktuellen Mode, das heißt sie wirkte, als sei er gerade aus dem Bett gekrochen. Er sah nicht wirklich aus wie ein Kriminalbeamter, eher könnte man ihn sich hinter der Konsole eines Computerspiels vorstellen.
»Chefe. Gut, dass Sie da sind. Die ganze Sache geht mir langsam auf den Zeiger« sprach er mit einem zweifelnden Blick auf den Knitterlook seines Vorgesetzten.
Teixeira grunzte: »Was machen die ganzen Dorfsheriffs hier? Die sollen weiter Verkehrssünder auf der Rio-Santos erschrecken. So, Vanderlei, nun erkläre noch mal in Ruhe, wofür ich mich bei der Affenhitze stundenlang ins Auto gesetzt habe. Ist das ein Scheiß-Verkehr! Ich nehme an, du bist mit deinem Reiskocher wesentlich schneller durchgekommen. Meine Klimaanlage streikt schon wieder. Wer von den Typen da ist der Tote? «
»Sehr lustig. Die Leiche hat man erst mal nach Bertioga in die Krankenstation gebracht. Heute Abend soll sie nach São Paulo in die Gerichtsmedizin überführt werden, aber dafür müssen sie erst einen Kühlwagen auftreiben. Bis dahin musste der Bestand des Supermarkts an Crushed ice herhalten, der nicht sehr groß war. Diese Strandtypen sind ja hier so rückständig« seufzte er.
Vanderlei zog sein Smartphone aus der Tasche und tippte wild auf dem Display herum. Teixeira kannte sich mit dem modernen Zeug nicht aus. i-phone, i-Pad, Blackberry. Wo sollte der Vorteil darin liegen, dass man seine Notizen in so ein Ding eintippte, zumal er mit seinen Wurstfingern wahrscheinlich niemals die richtigen Tasten treffen würde? Wobei die Telefone noch nicht einmal mehr Tasten hatten, sondern so komische bunte Symbole, Icons. Spielzeug. Er hatte sich nach Jahren mit seinem alten Klapphandy arrangiert und im Büro musste er notgedrungen auch mit einem PC arbeiten. Ansonsten versuchte er, unwichtige Informationen schnell zu vergessen und wichtige in seinem Kopf aufzubewahren.
Der junge Ermittler hatte gefunden, wonach er gesucht hatte.
»José Gabriel Tavares, geboren am 28.06.1958 in Mogi Das Cruzes. In der Schale auf dem Schränkchen da drüben lagen seine Papiere zusammen mit den Autoschlüsseln. Ich habe inzwischen etwas recherchiert. Er war der Sohn eines Kommunalpolitikers. Nach seinem Wirtschaftsstudium in São Paulo verschlug es ihn nach Pará. Er heuerte in den Achtzigern bei Indústria Millers an und machte in dem Unternehmen Karriere. Zuletzt war er für das Europageschäft verantwortlich und er war Sprecher der Vereinigung der Holzbetriebe in Pará. Nebenbei war er Mitglied der PT. Ihm werden sehr gute Kontakte zur Parteispitze nachgesagt. «
Partido dos Trabalhadores war die Partei des brasilianischen Präsidenten, dessen zweite Amtszeit in wenigen Tagen auslaufen würde. Seine Wunschnachfolgerin Dilma hatte vor einigen Wochen die Stichwahl gewonnen. Nun war auch klar, warum der Geral sich in die Sache eingeschaltet hatte. Der Leiter der Mordkommission war bekanntermaßen ebenfalls in dem Verein.
Vanderlei fuhr fort: »Das Haus gehört einem gewissen Gerhart Wagner, ein mittlerweile pensionierter, ehemaliger Direktor von Volkswagen. Ich habe vorhin mit seiner Haushälterin telefoniert und ihm ausrichten lassen, dass er mich zurückrufen soll, wenn er nach Hause kommt. Sie sagt, er sei Tennis spielen. Dieser Wagner ist übrigens fast ein Nachbar von Ihnen. Então, was wir bislang wissen, ist dass eine gewisse Flora Maria da Fonseca heute Morgen hier das Strandhaus sauber machen wollte. Sie ist bei einer Reinigungsfirma angestellt, die hier im Ort die ganzen pousadas und einige von den privaten Ferienhäusern in Ordnung hält. Senhora da Fonseca hat einen Schlüssel und ist hinten zur Küchentür rein, wie sie sagt. Wie üblich fängt sie in der Küche an, wäscht die paar Teller und Gläser ab, die Sie draußen neben der Spüle sehen könnten, bringt den Müll raus und so was. Dann schnappt sie sich das Putzzeug und arbeitet sich zum Wohnzimmer vor. Hier muss sie dann den Toten gesehen haben, rennt völlig aufgelöst zwei Männern einer privaten Sicherheitsfirma vors Auto und fällt erst mal in Ohnmacht. Da hinten sitzt sie bei dem Kerl mit der schwarzen Kappe. «
Teixeira warf die Kippe in den Putzeimer, zog ein fleckiges Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß vom Nacken. Es war mittlerweile kurz vor eins und die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel.
»Bom, jetzt weiß ich, dass die Gute den Toten findet, aus dem Haus rennt und umfällt. Hat Fernanda am Telefon nicht irgendwas davon gesagt, dass die Leiche irgendwie ungewöhnlich aussah? Kennen wir inzwischen die Todesursache? «
Vanderlei verzog das Gesicht. »Der Arzt sagt, dass Tavares sehr wahrscheinlich vergiftet wurde, wobei er noch nicht sagen konnte, womit. Seiner Meinung nach lag Tavares hier schon ein paar Tage, dem Grad der Verwesung nach zu urteilen. Das ist aber noch nicht alles. Seinem pinto muss etwas widerfahren sein, was die Reaktion der guten Flora Maria erklärt. «
Vanderlei sprach den Befund aus, als säße er auf dem Zahnarztstuhl und der Bohrer läge schon am Nerv.
Teixeira grunzte: »Kannst du dich vielleicht etwas deutlicher ausdrücken? Vergiftet? Und was ist das für eine Scheiße mit seinem besten Stück? «
Vanderlei drehte sich um und wedelte die ältliche Matrone und einen Mann zu sich, der die Phantasieuniform eines privaten Wachdienstes trug. »Wärt ihr so freundlich, dem delegado hier noch einmal zu erzählen, wie das war, als ihr den Verblichenen gefunden habt? «
Der Mann sah aus, als hätte er seit einigen Nächten nicht geschlafen. Er hatte dunkle Augenränder und eine ungesunde Gesichtsfarbe. Man sah ihm an, dass er lieber zuhause Geschenke einpacken würde, als den ganzen Polizisten hier die Geschichte wieder und wieder zu erzählen. Er trat unruhig von einem Bein aufs andere. Die Frau sah eingeschüchtert von einem zum anderen und schwieg.
»Senhor delegado, mein Kollege Henrique da hinten und ich saßen in unserem Auto draußen an der Straßenecke, unsere Schicht war beinah vorbei, als diese Frau auf uns zu gerannt kam und dabei wie eine Furie gebrüllt hat und sich immer wieder umgeblickt hat als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Direkt vor meinem Fenster hat sie dann die Augen verdreht und ist auf die Straße gefallen. Ich hab’ die Tür nicht aufgekriegt und Henrique musste erst ums Auto ’rum gehen und die Frau weg zerren, ne? Wir ham’ dann über Funk den Krankenwagen gerufen und ich bin dann zu dem Haus hier gegangen, weil ich doch wissen wollte, was die Arme so erschreckt hat, ne? «
Jetzt rief die Matrone dazwischen: »Ai, que coisa. Da spricht dieser Mensch hier als wenn ich nicht dabei gewesen wäre. Natürlich habe ich gerufen. Ich wollte ja schließlich, dass jemand kommt und sich das mit ansieht. Und dass mir dann etwas schwindlig geworden ist, kann man doch auch verstehen, nicht? Man findet ja nicht jeden Tag einen Toten und dann auch noch so nackt und sein ... «
Sie blickte verschämt zu Boden. Teixeira war sich sicher, dass sie noch für Wochen und Monate was zu erzählen hatte.
Der Wachmann fuhr mit seinem Bericht fort: »Die Hintertür war offen. Ich hab’ gerufen, aber es hat sich niemand gemeldet. Es hat ganz komisch gerochen. Letzte Woche lag auf der Straße vor dem Haus, wo ich mit meiner Familie wohne, ein toter Hund. Der hat auch so gestunken. Ich bin dann rein gegangen und da habe ich den armen Kerl dann liegen sehen, ne? « Er deutete über die Schulter auf die Kreideumrisse auf dem Fußboden. »Als ich den da so liegen sah, musste ich erst mal kotzen, ne? Der Typ war ganz schwarz und aufgequollen. Am schlimmsten war aber, dass der unten rum ganz komisch aussah, irgendwie aufgeplatzt. «
Die empregada zerzauste sich die Haare und rief dazwischen: »Ai, o Delegado, wie der aussah! « Sie ließ die Männer im Unklaren, ob DER sich auf den ganzen Toten oder nur auf bestimmte Teile bezog.
Meirelles nickte zustimmend. Es sah aus, als würde ein dürres Huhn nach Körnern picken. »Ich hab’ zugesehen, dass ich nichts anfasse und bin zurück zu Henrique und dann zur Polizeistation gelaufen. Sind ja nur zwei Straßen, ne. Aber das habe ich ja alles schon den Polizisten erzählt und dem jungen Delegado hier. Bitte, kann ich jetzt gehen? Meine Frau wird sich sicher nicht freuen, wenn sie alles alleine vorbereiten muss. «
Teixeira antwortete: »Ich danke Ihnen, dass Sie sich nochmals die Zeit genommen haben, mir das selbst zu berichten. Sie können jetzt gehen und Sie auch, Senhora da Fonseca. Ich wünsche Ihnen Frohe Weihnachten. Halten Sie sich aber bitte beiden den hiesigen Kollegen zur Verfügung, falls sie noch Fragen haben. «
Der Wachmann beeilte sich, aus dem Haus zu kommen, die Matrone schnappte sich ihren Putzeimer und watschelte ebenfalls hinaus. Vor der Tür konnte man sie noch hören: »Senhora hat er mich genannt, der delegado. Der weiß, was sich gehört, Dummkopf. «
Teixeira fuhr sich mit den Fingern durch die Bartstoppeln.
»Vanderlei, Mittag ist durch und mein Magen knurrt. Ich denke, wir sollten eine Kleinigkeit essen gehen und dabei überlegen, was hier eigentlich vor sich geht. «
Sie fuhren in das Restaurant gegenüber vom Shopping, das natürlich kein richtiges Einkaufszentrum war, sondern eine Reihe von Geschäften beherbergte, die Badekleidung, Spielsachen und Kunsthandwerk anboten. Das Ganze war weihnachtlich geschmückt, was hier am Strand besonders befremdlich wirkte. Sie teilten sich einen Pescado a Cambucu, der ganz ausgezeichnet war. Um diese Tageszeit waren sie fast die einzigen Gäste, obwohl der Ort sich bereits immer weiter füllte.
Ernesto Aparecido Teixeira arbeitete seit ungefähr einem Vierteljahrhundert in der Mordkommission bei der D. H. P. P. der Polícia Civil do Estado de São Paulo und war seit nunmehr zehn Jahren Leiter der 1adelegacia. Er nannte Vanderlei zwar immer seinen Assistenten, aber das war genau genommen nicht korrekt. Vanderlei Freitas de Conceição studierte Kriminologie an der Academia Nacional de Policia und war derzeit als Ermittler bei der D. H. P. P. eingesetzt. Der Geral war der Ansicht, der Junge könne bei Teixeira eine Menge lernen, auch oder gerade weil der Kommissar manchmal etwas unorthodoxe Methoden anwendete.
Teixeira stellte noch einmal seine Frage: »Was hat Tavares hier getrieben? Weihnachten am Strand. Ganz alleine? Hat er keine Familie? «
Vanderlei schnalzte verneinend mit der Zunge. »Er ist geschieden und seine greise Mutter wohnt irgendwo im Landesinneren. Die Ehe war kinderlos. Alles, was ich über ihn gefunden habe, steht in Verbindung mit seinem Engagement für die Holzindustrie. Die Kollegen versuchen seit heute Morgen seine Ex aufzutreiben. Irgendwer muss sich schließlich darum kümmern, dass der Mann anständig unter die Erde kommt. «
Der Kommissar versuchte sich zu erinnern, was er über die Holzindustrie wusste. Das war nicht viel. Seit einigen Jahren hatte sich durch den weltweit entstandenen Druck wohl so etwas wie ein Grünes Gewissen entwickelt und man versuchte, der unkontrollierten Abholzung des Regenwaldes Einhalt zu gebieten. In der Folha hatte er mal etwas gelesen von einem Conselho Brasileiro Florestal oder so ähnlich. Vanderlei würde hier nachforschen müssen.
»Pronto. Fahren wir zurück und reden wir mit dem Hausbesitzer. Vielleicht kann er uns erklären, was Tavares alleine hier unten wollte. « Er winkte den Kellner herbei und drücke seine Kippe im Aschenbecher aus.
Sie machten sich auf den Rückweg nach São Paulo. Die Imigrantes war so gut wie leer. Vanderlei auf seiner Yamaha und hinter ihm Teixeira in seinem verbeulten Honda schoben sich an den bunt bemalten LKWs vorbei, die sich mit Früchten und Fisch für die Hauptstadtmärkte schwer beladen die Serra do Mar hoch quälten. Nach mehr als zwei Stunden gelangten sie über Diadema nach Interlagos. Teixeira fluchte. Heiligabend war so gut wie gelaufen. Er rief seine Frau an und sie bat ihn gereizt, wenigstens noch schnell im SP-Market vorbeizufahren und etwas Wein und frisches Obst mitzubringen.
Das Haus von Gerhart Wagner lag unweit des Parque Jacques Cousteau. Vanderlei hatte maßlos übertrieben. Das Häuschen der Teixeiras befand sich zwar auch in Interlagos, unweit der Humboldt-Schule, aber von Nachbarschaft zu sprechen, verbot sich schon angesichts der Ausmaße dieses Palastes. Teixeira meinte sich zu erinnern, dass das ebenso große Anwesen nebenan ein Geschenk eines Formel 1-Fahrers an seinen Eltern gewesen war. Schräg gegenüber an der Straßenecke saß ein alter Mann vor einem provisorischen Wachhäuschen und schaute gelangweilt den Joggern und Hundehaltern zu, die um den See hechelten. Einige Jahre und etliche Kilo früher war Teixeira auch hier entlang gejoggt, zu der Zeit war das hier überwiegend noch Erdstraße gewesen.
Sie hatten ihren Besuch vorher angekündigt. Ihr Klingeln wurde von dem heiseren Gebell zweier Schäferhunde beantwortet. Ein Hausmädchen öffnete ihnen die Haustür, nachdem sie das Tor per Fernsteuerung geöffnet und hinter ihnen wieder geschlossen hatte.
Das Hausmädchen geleitete sie in den ersten Stock ins Arbeitszimmer. Das ganze Haus war ein einziges Museum. An jeder Wand hingen Skulpturen, Schnitzereien, Keulen, Speere, Wandteppiche und Gegenstände aus Metall, wahrscheinlich Messing. Das Arbeitszimmer war geradezu überladen. Vor dem imposanten Schreibtisch stand ein bestimmt anderthalb Meter langer Löwe aus einem wunderschönen, honigfarbenen Holz. Die hintere Wand war übersät von dutzenden Masken unterschiedlichster Form. Senhor Wagner schien viel gereist zu sein und er war eindeutig ein Sammler.
Wagner war ein freundlicher, älterer Herr. Er mochte Mitte Sechzig sein. Seine Kleidung war leger aber teuer. Seine ihm verbliebenen Haare waren schlohweiß. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor, begrüßte sie freundlich und bat sie Platz zu nehmen. Die Sessel waren schwer und aus einem ähnlichen Holz gefertigt wie der Löwe.
Teixeira eröffnete die Unterhaltung: »Senhor Wagner, ich danke Ihnen, dass Sie so kurzfristig Zeit für uns haben. Angesichts des besonderen Tages sind wir auch gleich wieder verschwunden. Wir wissen noch nicht wirklich viel. Klar scheint, dass Sie dem Verstorbenen Ihr Wochenendhaus vermietet haben. Kannten Sie den Mann? «
Wagner sprach ein sehr flüssiges Portugiesisch, der leichte Akzent störte nicht: »Ihr Kollege hier hat am Telefon erwähnt, dass der arme Mensch wahrscheinlich an Gift gestorben ist. Haben Sie inzwischen schon Näheres über die Todesumstände herausgefunden? Die Nachricht hat mich doch etwas mitgenommen, wissen Sie? Auch wenn ich ihn nicht persönlich kannte, so ist für mich der Tod doch nichts Alltägliches, zumal der Mann in unserem Strandhaus verstorben ist. Warum interessiert sich die Polizei dafür? Mordkommission, sagten Sie? «
»Wir wissen nur so viel, dass die Todesursache eine Vergiftung ist. Wir ermitteln zunächst gegen Unbekannt. Das ist die normale Vorgehensweise bei einem Tod mit unklarem Hergang «, log er. »Vielleicht können Sie uns ein wenig helfen, Näheres über den Hintergrund herauszufinden. Wieso haben Sie dem Mann eigentlich Ihr Strandhaus vermietet, machen Sie das öfter? «
Wagner zögerte etwas mit der Antwort. »Der Mann ist, war, offenbar der Bekannte einer guten Freundin, mit der meine Frau und ich gelegentlich Bridge spielen. «
Vanderlei unterbrach ihn. »Ach ja, wo ist eigentlich die Senhora? Ist sie zuhause? «
»Meine Frau macht noch ein paar Erledigungen für das Fest. Sie wird sicher bald zurück sein. Ich denke aber nicht, dass Sie etwas zur Aufklärung Ihres Falles beitragen kann. «
Teixeira hakte nach. »Zurück zu dem Mieter und Ihrer Bekannten, bitte. «
»Das ist ganz einfach. Unsere Freundin fragte mich vor ungefähr drei Wochen, ob wir das Haus für die Feiertage vermieten wollen. Seit unsere Kinder aus dem Haus sind, sind meine Frau und ich immer seltener am Strand. Das Häuschen haben wir uns schon vor vielen Jahren zugelegt und anfangs sind wir fast jedes Wochenende mit den Kindern runter gefahren. Damals war die Verkehrssituation noch nicht so chaotisch. Seit Juquehy sich zu einem Touristenort entwickelt hat, fahren wir eigentlich kaum hin. Manchmal fragt jemand aus dem Bekanntenkreis an, ob er das Häuschen für ein Wochenende oder über die Feiertage anmieten kann. Da wir ja auch ein wenig Instandhaltungskosten haben, nimmt man solche Gelegenheiten schon mal war. Der Schlüssel ist bei einem Hausverwalter hinterlegt und über diesen wickeln wir auch die Bezahlung ab. «
Teixeira und Vanderlei wechselten einen Blick. Senhor Wagner sah eigentlich nicht danach aus, als wenn er auf die Einnahmen aus der Vermietung von Strandhäusern angewiesen wäre. »Würden Sie uns freundlicherweise den Namen und die Adresse Ihrer Bekannten geben? Wir würden gerne mit ihr über ihr Verhältnis zu dem Toten sprechen«.
»Natürlich. Sie heißt Anna do Nascimento. Sie unterhält seit der Trennung von ihrem Mann in Embu eine kleine Galerie. Heute dürfte sie allerdings geschlossen haben. «
»Wir werden über Weihnachten nicht mehr nach Embu fahren. Tavares ist tot, da kommt es auf einen Tag nicht an. «
Wagner fragte: »Tavares? Das ist der Name des Toten? «
Teixeira erhob sich und der junge Ermittler machte es ihm nach. »Senhor Wagner, wir danken Ihnen für Ihre Zeit. Es ist leider nicht ausgeschlossen, dass wir Sie nochmals behelligen müssen, falls sich im Laufe der Ermittlungen weitere Fragen ergeben sollten. Ja, der Tote hieß José Gabriel Tavares. Sie werden davon in der Zeitung lesen. Wenn Sie Glück haben, werden die Schreiberlinge dabei nicht Ihren Namen als Vermieter des Hauses nennen. «
Er machte einen Schritt auf das Fenster zu. Im Garten standen einige meterhohe Dattelpalmen und ein Pool mit olympischen Ausmaßen lud zum Abkühlen ein. Teixeira interessierte sich insbesondere für zwei Blasrohre, ein kurzes und ein längeres, die zusammen mit einigen archaisch anmutenden Keulen oder Holzschwertern über dem Fenster arrangiert waren. »Indios? « fragte er.
»Ach die. Die haben wir vor Jahren einmal von einer Reise nach Zentralbrasilien mitgebracht. Sie sind das Geschenk eines Stammes der Awaeté, die am Rio Xingu leben. Sie haben sich sicher schon gewundert, dass wir unser Haus zum Museum gestaltet haben. Ich liebe all diese Dinge. Jedes einzelne Stück hat seine ganz persönliche Geschichte. Manchmal schaue ich mir eines an und fühle mich in Zeit und Raum an den Ort versetzt, an dem es seinem Ursprung hatte. Meine Herren, ich wünsche Ihnen Frohe Weihnachten und, da wir uns sicher dieses Jahr nicht mehr sehen werden, schon jetzt ein Frohes Neues Jahr. «
»Das wünsche ich Ihnen auch und richten Sie bitte unbekannterweise einen Gruß an die Senhora aus. «
Als sie draußen waren, sah Teixeira auf die Uhr. »Mein lieber Vanderlei, wenn ich jetzt nicht heimfahre, komme ich zu spät zu unserem Abendessen und Silvana reißt mir den Kopf ab. «
Vanderlei blickte interessiert auf die umstehenden Villen: »Tá certo. Für die paar Meter brauchen Sie ja nicht lange. Ich will noch meine Alten besuchen und muss kurz vorher zuhause vorbei, mich in einen braven Sohn verwandeln. «
»Liebe Grüße an deinen Vater. « Teixeira versuchte sich daran zu erinnern, wo Vanderleis Eltern wohnten, aber er kam nicht darauf.
Die Leiche lag auf dem Stahltisch. Der lange Schnitt, der sich in Y-Form von den Schlüsselbeinen bis zum Bauchnabel zog, war mit grobem Zwirn geflickt wie bei einer Weihnachtsgans. Teixeira konnte sich den Vergleich nicht verkneifen. Ihren eigenen Braten hatten Silvana und er gestern Abend mit einigen Freunden genüsslich zerlegt.
Zumindest verstand er jetzt auch, warum die Empregada und der Wachmann auf den Anblick des Toten so reagiert hatten. Die Extremitäten waren noch immer unnatürlich angeschwollen und violett verfärbt. Er konnte allerdings nicht sagen, wie viel davon auf das Gift und was auf die fortgeschrittene Verwesung zurück zu führen war. Er versuchte, hinter dem Mundschutz möglichst flach zu atmen. Die Augen des Toten waren nach innen verdreht, die Lippen durchgebissen. Der Mann musste unter schrecklichen Schmerzen gestorben sein. Zwischen den Beinen hatte der Tote einen unförmigen Klumpen, der an eine Blutwurst erinnerte.
Dr. Sobrinho, der diensthabende Arzt, zeigte auf den Fleischklumpen und referierte: »Was Sie hier sehen, halte ich für eine besonders ungewöhnliche Folge von Priapismus. Normalerweise kommt es bei einer Erektion zum Anschwellen der corpora cavernosa, wodurch der Abfluss in die Venen und damit der Rückfluss des Blutes aus dem Penis verhindert wird. Eine so genannte Dauererektion führt nach Stunden zu einer Blauverfärbung der Vorhaut, der Eichel und später des gesamten Penis. Hier sind die Schwellkörper regelrecht geplatzt. Ich selbst habe so etwas noch nicht gesehen. Der Blutverlust war aber ziemlich sicher nicht letal. Vielmehr ist der Tod mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auf Herz- und Lungenversagen zurück zu führen. «
Er zeigte auf eine Reihe von Röntgenaufnahmen, die vor der Leuchtwand angeklemmt waren.
»Hier. Typische Anzeichen für eine hypertensive Krise und Tachyarrhythmie. Zudem erlitt der Mann mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Apoplexie. «
Teixeira fragte: »Können Sie sagen, was so ein multiples Organversagen hervorrufen kann? War der Mann vorher schon krank? «
Dr. Sobrinho nahm einen Holzspatel und hob die Nackenhaare des Toten an. »Sehen Sie diesen winzigen Punkt mit der Rötung drum herum? Es sieht fast aus wie ein Mückenstich, nicht wahr? Eigentlich müssten es zwei Punkte sein und etwas breiter. «
Teixeira beugte sich über den Toten und grunzte. »Bitte Doktor. Was ist an dem Pickel so besonders? «
Der Gerichtsmediziner zog seine Gummihandschuhe aus und warf sie in einen Müllcontainer. »Hinsichtlich der Verletzungen im Genitalbereich müssen wir von Fremdeinwirkung ausgehen. In seinem Körperfettgewebe konnten wir aber erhebliche Mengen Spinnengift nachweisen, also sieht es momentan so aus, als wäre die Todesursache der Biss einer Giftspinne. «
Teixeira runzelte die Stirn. »Giftspinnen in Juquehy? «
Der Mediziner zuckte die Schultern. »Am besten gehen Sie ins Butantan zu Doktor Yamato. Wenn sich jemand mit Spinnen auskennt, dann er. «
Sie schlängelten sich durch den fließenden Verkehr bis zur Avenida Vital Brasil und fuhren am Eingang vorbei auf den Parkplatz des Instituto Butantan. Die Paulistas schienen alle am Strand zu sein, die Straßen der Hauptstadt waren ungewohnt leer. Diesmal hatten sie einen Dienstwagen genommen. Die Aufschrift Polícia Civil do Estado de São Paulo wies den Blazer als Einsatzfahrzeug aus.
Vanderlei hatte den Feiertag noch bei seinen Eltern auf ihrem Landhaus bei Sorocaba verbracht, deshalb war er am Vortag nicht mit ins Leichenschauhaus gekommen. Er sprach nicht gerne darüber, aber sein Vater war Partner in einer der größten Anwaltskanzleien des Staates, die sich auf die pharmazeutische und petrochemische Industrie spezialisiert hatte. Irgendwann hatte er Teixeira gegenüber erwähnt, dass seine Eltern nicht besonders erfreut über seine Entscheidung waren, zur Polizeiakademie zu gehen. Eher hatten sie erwartet, dass er nach dem Examen eine juristische Laufbahn einschlagen würde, aber der Junge war ja schon immer etwas flatterhaft gewesen.
Doktor Yamato, der leitende Molekularbiologe des Laboratório De Artrópodes, erwartete sie in seinem Büro in dem einstöckigen Gebäude, das jüngeren Ursprungs war. Der Wissenschaftler war Ende Dreißig. Sein feines Asiatengesicht war von einem schwarzen Haarschopf gekrönt Er trug die klassische Mediziner- oder Forscheruniform, einen weißen Kittel mit Namensaufdruck auf der Brusttasche und einem Kugelschreiber darin. Der Mann strahlte Kompetenz aus und sein Händedruck war kraftvoll. Sie setzen sich auf Plastikstühle um einen kleinen Plastiktisch.
»Senhores, am Telefon haben Sie erwähnt, dass es einen Toten gegeben hat, der offenbar von einer Giftspinne gebissen wurde. Was Sie mir nicht mitgeteilt haben ist, dass das unten in Juquehy in einem Strandhaus passiert ist und dass bei dem Toten Verletzungen im Genitalbereich vorliegen. Dr. Sobrinho war so frei, mir diese Details nicht vorzuenthalten. Wir haben übrigens das Grundstudium gemeinsam absolviert. « Er zwinkerte Teixeira zu. Man war schließlich in Südamerika und Beziehungen waren extrem hilfreich, um klarzukommen.
Er fuhr fort. »Die Menge Gift, die man im Zellgewebe des Opfers nachweisen konnte, war in jedem Fall tödlich. Das hier wäre erst der zweite dokumentierte Todesfall in Zusammenhang mit Phoneutria nigriventer in São Paulo. «
Vanderlei kniff die Brauen zusammen. »Doktor, was ist Phoneutria nigridingsbums und warum glauben Sie, dass es genau diese Vieh war? «
Yamato sah ihn eindringlich an. »Delegado, das Vieh, wie Sie es nennen, lebt durchaus unter anderem in der Mata Atlântica. «
Er stand auf, zog ein großes bebildertes Buch aus einem Regal, blätterte kurz, bis er die Seite gefunden hatte und schob es ihnen zu. Die Doppelseite zeigte eine offenbar recht große Spinne. Auf einem Foto richtete sie den vorderen Teil des Körpers auf und streckte die beiden vorderen Beinpaare nach oben. »Dieser Angriffs- oder auch Abwehrhaltung verdankt die Phoneutria den Namen Armadeira, vulgo auch Bananenspinne oder Brasilianische Wanderspinne. «
Yamato drehte das Buch herum und nahm wieder Platz. »Es kommt übrigens nicht gerade selten vor, dass Menschen von einer Armadeira gebissen werden, aber wenn es richtig schlimm ist, werden wir in der Regel sofort informiert. Wir haben für den Staat São Paulo fast achthundert dokumentierte Fälle, aber nur einen mit tödlichem Ausgang. Um Ihnen einen Vergleich zu liefern, ich habe kurz unsere Datenbank gefragt: In Santa Catarina sind es gerade einmal knapp achtzig gemeldete Bisse durch Phoneutria. «
Er zeigte auf die gerahmten Zeitungsausschnitte und Diplome, die die Wände des Raumes säumten.
»Wie Sie sicher wissen, ist das Centro de Biotechnologia des Butantan weltweit eines der führenden Institute im Bereich der Erforschung von Toxinen. Der moderate Eintrittspreis für die Besucher dient im Wesentlichen zur Erhaltung des Areals und der historischen Gebäude. Das Butantan untersteht letztendlich dem Gesundheitsministerium und hat einen Forschungsauftrag, zum anderen trägt sich die Einrichtung auch durch die Herstellung von Impfstoffen. Seit einigen Jahren sind verschiedene Teams des Laboratório De Artrópodes damit befasst, ein wirksameres und verträglicheres Antidot gegen das Gift der Phoneutria nigriventer zu synthetisieren. Sie sollten wissen, dass eine intravenös verabreichte Giftmenge von nur 0,006 Milligramm genügt, um eine zwanzig Gramm schwere Maus zu töten. Diese Toxizität wird von keinem anderen bekannten Organismus erreicht, vielleicht einmal abgesehen von der Seewespe, die zur Gattung der Würfelquallen gehört. «
Teixeira unterbrach ihn: »Was ist ein Antidot? « Vanderlei tippte in seinem elektronischen Spielzeug herum. Wahrscheinlich hatte er die Antwort schon auf seinem Display.
»Natürlich, entschuldigen Sie bitte. Ein Antidot ist vereinfacht gesagt ein Gegengift. Wir forschen hier intensiv mit unterschiedlichen giftigen Gliederfüßern. Weitere Teams befassen sich mit Amphibien. Sie sind zu mir gekommen, um meine Unterstützung für Ihren Fall einzufordern. Ich sehe ein erstes Indiz für einen gewaltsamen Tod in der Verletzung der Geschlechtsteile. Der Biss einer Phoneutria kann in bestimmten Fällen zu Priapismus führen, was ich als Dauererektion bezeichnen würde, allerdings ist diese für den Betroffenen äußerst schmerzhaft. Keinesfalls ist es aber so, dass dabei die Schwellkörper platzen, wie Sie es sich eventuell vorstellen mögen. Die Verletzung bei Ihrem Toten hat nichts mit dem Biss der Spinne zu tun, hier muss jemand Gewalt ausgewirkt haben. «
Die Polizisten sahen sich an. Der japonês bestätigte die Vermutung, die der Gerichtsmediziner ebenfalls geäußert hatte.
Yamato fuhr fort: »Vor ungefähr zwei Jahren haben Mitglieder meines Teams in Zusammenarbeit mit den amerikanischen Kollegen von der John Hopkins Universität und der medizinischen Hochschule Georgia herausgefunden, dass ein bestimmter Bestandteil des Giftes von Phoneutria nigriventer, Tx2-6, die Produktion des Botenstoffs cGMP, dem Cyclischen Guanosinmonophosphat, anregt. Dieser entspannt die Penis-Muskeln, um während der Erektion den Blutzufluss zu erleichtern. Unsere Pharmaindustrie möchte natürlich am besten gleich in die industrielle Produktion von Tx2-6 einsteigen. Wer den weltweiten Siegeszug von Viagra vor Augen hat, kann sich vorstellen, welche Summen mit einer möglicherweise noch wirkungsvolleren Substanz zu verdienen sind. «
Vanderlei unterbrach den Doktor. »Ich muss hier doch einmal nachfragen. Sie sprechen von industrieller Produktion. Wie viele Spinnen werden denn benötigt, um ausreichende Mengen dieser Substanz aus dem Gift zu extrahieren? Ich nehme doch nicht an, dass die Tiere so groß werden wie in den amerikanischen Horrorfilmen. « Er schien sehr deutliche Assoziationen zu haben.
»Delegado, Sie haben den Kern erkannt. «, konstatierte Yamato. »Mittlerweile ist die Mehrzahl der Wirkstoffe, die sich in aktuellen Pharmaka wieder finden, synthetischen oder halb-synthetischen Ursprungs. Im Gegensatz zu Wirkstoffen, die durch chemische Extraktion und Konzentration aus natürlichen Ressourcen hergestellt werden, wie etwas das Kokain aus den Blättern des Kokastrauchs. Tx2-6 lässt sich synthetisch nicht reproduzieren. Ich möchte Sie nicht mit den Einzelheiten langweilen. Lassen Sie es mich so zusammenfassen: Die Forschung dauert an. Es mag sein, dass es in absehbarer Zeit gelingen wird, die Zulassung für ein neues Potenzmittel zu erhalten, aber von einer industriellen Produktion sind wir noch weit entfernt, weil man durch das Melken der Tiere keine ausreichende Mengen gewinnen kann. Zudem können Sie nicht durch das ganze Land fahren und jede Phoneutria einfangen. «
Teixeira war aufgestanden und ans Fenster getreten. Draußen spazierten die Besucher durchs Butantan. Nachmittags waren viele Familien mit ihren Kindern hier, man gruselte sich gemeinsam vor den haarigen, züngelnden oder krabbelnden Lebewesen, deren Anwesenheit in der Großstadt gleichermaßen exotisch wie ungefährlich war, schließlich befanden sich die Viecher in Glaskästen oder hinter unüberwindbaren Mauern.
Er drehte sich um und sah Yamato scharf an. »Doktor, der arme Tavares musste nicht sterben, weil sich zufällig eine Giftspinne zum Strand herunter verirrt hat und ihm das Gift einen Ständer verpasst hat, dass ihm das Blut aus allen Poren kam. Sie sprechen von einem gewaltsamen Tod. Welche Anhaltspunkte haben Sie noch? «
»Tavares? Ist das der Name des Toten? Doktor Sobrinho hat ihn nicht erwähnt. «
Teixeira antwortete: »Der Name des Toten tut auch nichts zur Sache. Er kam nicht von hier sondern war nur zu Besuch in Juquehy. «
Yamato lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück.
»Então. Selbst, wenn eine Phoneutria sich in das Strandhaus verirrt und den bedauernswerten Mann gebissen haben sollte, da gibt es doch gerade in der Ferienzeit sicher ganz viele andere Menschen, nicht? Das Gift ist keinesfalls sofort tödlich. Man hat in aller Regel durchaus Zeit, noch einen Arzt zu rufen. Alle Pronto-Socorro, Hospitäler und niedergelassenen Ärzte sind angewiesen, umgehend das Butantan zu verständigen, wenn der Patient bestimmte Symptome zeigt, die auf den Biss einer sehr giftigen Schlange oder auch einer Spinne hinweisen. Und selbst wenn der Biss im Schlaf erfolgt wäre, wäre er aufgrund der Schmerzen und der einsetzenden Tachyarrhythmie unbedingt aufgewacht. Der Mann hätte höchstwahrscheinlich noch Zeit gehabt, zum Telefon zu greifen oder er wäre auf die Straße gelaufen. Offenbar hat man ihn auf der Couch gefunden. Unbekleidet dazu. «
Yamato sah von einem zum anderen. Mit erhobenem Zeigefinger fällte er sein Urteil: »Ihr Mörder setzt eine Spinne auf den Mann an, verhindert, dass er weglaufen und einen Arzt rufen kann, vielmehr schaut er zu, wie das Opfer unter Qualen verendet, und dann macht er sich offenbar noch an seinem Geschlechtsteil zu Schaffen. Sie sollten mal Ihre Psychologen befragen, wie krank jemand sein muss, um so etwas zu tun. «
Vanderlei drehte sich zu Teixeira mit diesem bestimmten Gesichtsausdruck, der zum Ausdruck bringen sollte, dass er eine grandiose Scheiße witterte.
»Chefe, der unzweifelhaft kompetente Doktor hier spricht von Mord. Damit wären wir ganz offiziell im Geschäft. Doktor, wie sicher sind Sie, dass es sich nicht doch um einen Unglücksfall handelt und es vielleicht durch eine Verkettung unglücklicher Umstände nur so scheint, als läge bei Tavares eine Fremdeinwirkung vor? «
Yamato erwiderte: »So sicher, wie jemand überhaupt sein kann, wenn er nicht persönlich anwesend war. « Er erhob sich. »Haben Sie noch Fragen? Ich müsste seit fünf Minuten in einer Konferenz sitzen. «
Sie bedankten sich und gingen zur Tür. Teixeira wendete sich noch einmal an Dr. Yamato: »Sagen Sie, wo bewahren Sie eigentlich das Gift auf, das Sie für Ihre Forschungen benötigen? «
Der Biologe zeigte aus dem Fenster. »Im Laboratório Piloto de Vacinas dort drüben befindet sich ein absolut sicherer Raum, der nur mittels Zugangscode zu betreten ist. Dort lagern wir alle Proben, die wir entweder selbst gewinnen oder die uns aus allen möglichen Ländern zugesendet werden. Sie werden auf der ganzen Welt wenige Institute finden, die über einen solchermaßen sortierten "Giftschrank" verfügen. «
Auf dem Weg zum Auto hatte Teixeira eine Eingebung. Er zog Vanderlei zum Museo Biológico. Seine Dienstmarke ersetzte die Eintrittskarte und sie durften durch das Drehkreuz gehen. Zügig schritten sie an den Terrarien vorbei, in denen giftige und ungiftige Schlangen unterschiedlicher Größe und Färbung untergebracht waren. Schließlich blieben sie vor einer Gruppe von Vitrinen stehen. Rechts saß eine Tarantel in der Ecke. Durch ihre schiere Größe sah sie eindeutig bedrohlich aus. Daneben musste man schon sehr genau hinsehen, um die einige Zentimeter kleine Gartenspinne auf dem Boden zu entdecken.
Dann kam der Glaskasten, den Teixeira gesucht hatte. An der Scheibe saß eine Spinne in der Größe einer Kinderhand. Auf dem Schild stand, dass es sich um eine Armadeira handelte und das Tier eine Länge von fünfzehn Zentimetern erreichen konnte.
»Vixe Maria! « entfuhr es Vanderlei. Teixeira ging ganz nahe heran und versuchte, so etwas wie Kontakt mit den verwirrend zahlreichen Augen der Spinne herzustellen. »Bist du unser Mörder oder nicht? « flüsterte er.
Das Tier ignorierte ihn.
Vom Butantan aus fuhren sie über die Rod. Régis Bittencourt weiter nach Embu, das wegen seiner vielen Kunsthandwerker auch Embu das Artes genannt wurde. Die Galerie lag der Beschreibung nach gleich neben einer churrascaria in einer schmalen Gasse. Selbstverständlich konnte Teixeira nicht darauf verzichten, seinem Assistenten die Spare Ribs zu empfehlen, die man hier mit einer ganz besonders köstlichen Soße servierte.
Anna do Nascimento musste einmal eine sehr attraktive Frau gewesen sein. Sie mochte Anfang vierzig sein. Ihre blondierten Haare ließen am Scheitel erkennen, dass sie ursprünglich brünett war. Sie hatte geweint. Die Falten um den Mund und die Augen zeugten davon, dass sie auch die Schattenseiten des Lebens kannte. Sie trug Leggings und darüber ein gehäkeltes Kleid, das ihre Figur betonte.
Sie saß in ihrer kleinen Galerie hinter einem einfachen Tisch. An den Wänden waren dutzende Bilder unterschiedlichster Stile ausgestellt. Neben einem Takebayachi hingen die typischen kugelförmigen, naiven Figuren aus Bahia. Dazwischen schwärmerische Darstellungen von Indios bei der Ausübung handwerklicher Tätigkeiten. Auf dem Boden standen einige Schnitzereien und Skulpturen. Teixeira fragte sich, warum Wagner den Laden noch nicht komplett aufgekauft hatte, aber wahrscheinlich war es doch anregender, wenn man als Sammler solche Dinge in irgendwelchen Winkeln des Landes ergatterte.
Sie sprach völlig akzentfrei, ihre Stimme verriet die starke Raucherin.
»Senhores. Bitte entschuldigen Sie, dass Sie stehen müssen. Wie Sie sehen, ist hier nicht viel Platz. Sie kommen wegen José, sagen Sie? Ich kann es noch immer nicht fassen, dass er tot sein soll. Heide, Senhora Wagner, hat mich schon vorgewarnt, dass Sie mich wahrscheinlich aufsuchen würden. Was hat die Polizei damit zu tun? Sie scheinen der Ansicht zu sein, dass es kein Unfall war? Heide hat mir nur gesagt, dass José in ihrem Strandhaus tot aufgefunden wurde und er möglicherweise von einer Spinne gebissen wurde. «
Teixeira räusperte sich. »Senhora do Nascimento, leider müssen wir davon ausgehen, dass Tavares ermordet wurde.«
Dona Annas Lippen zitterten, dann fing sie plötzlich an zu weinen.
»Bitte, hier nennen mich alle Dona Anna «, schluchzte sie »Sie machen mir Angst. Um Himmels willen, ermordet? «
Auch nach Jahren im Dienst war es nie einfach, die Nachricht von einem gewaltsamen Tod zu überbringen. Neben der nackten Tatsache, dass eines Menschen Existenz geendet hatte, war es immer noch schwerer zu akzeptieren, wenn es sich um ein Verbrechen handelte.
Teixeira wunderte sich nur etwas über die Reaktion. Es schien, als seien Tavares und Dona Anna mehr als Bekannte gewesen. Er reichte ihr sein fleckiges Taschentuch. Sie schnäuzte sich und schien sich zu zwingen, die Fassung wieder zu erlangen. Dann griff sie nach der Zigarette, die Teixeira ihr hinhielt und lies sich Feuer geben. Er steckte sich auch eine an. Vanderlei zog missbilligend die Augenbraue hoch. Er rauchte und trank nicht, allenfalls genehmigte er sich ab und an mal ein Bierchen.
»Bitte entschuldigen Sie. José war ein guter Freund. Wir kannten uns seit vielen Jahren. Sagen Sie mir, was Sie wissen. «
»Dona Anna. Bislang wissen wir nichts über die genauen Todesumstände. Offenbar ist er tatsächlich an Spinnengift gestorben, aber gewisse Indizien sprechen dafür, dass hier Fremdeinwirkung im Spiel war. Momentan interessiert uns, was Tavares in Juquehy wollte. Wann hat er Kontakt mit Ihnen aufgenommen und was hat er Ihnen erzählt? «
Sie richtete sich energisch auf, hängte ein Schild mit der Aufschrift FECHADO in die Tür und schloss ab.
»Kommen Sie bitte. « Sie ging durch den angrenzenden Raum, der wohl als Lager, Packstation und Rumpelkammer in Einem diente und stieg vor ihnen eine schmale Treppe hoch.
Vanderlei warf Teixeira einen anerkennenden Blick zu, der sich offensichtlich auf Dona Annas Hinterteil bezog. Teixeira drohte ihm mit der Hand. Das Obergeschoss beherbergte Dona Annas Wohnräume. Im kleinen Esszimmer bot sie den Polizisten Sitzplätze an. Die Wände waren schmucklos weiß getüncht. Aus einer antiken Kommode holte sie einen Karton und stellte ihn vor sich auf den Tisch. Er enthielt Erinnerungen in Form von hunderten Fotos auf Papierabzügen und auf verschiedenen Speichermedien, von CDs bis zu Speicherchips. Etliche Bilder schaute sie kurz an und legte sie zur Seite, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte.
»Das ist José mit meinem Ex-Mann Francisco. Das muss irgendwann in den Neunzigern gewesen sein. «
Teixeira nahm das Foto in die Hand und reichte es dann weiter an Vanderlei. Es zeigte zwei Männer beim Fischen vor einem breiten Fluss. Man konnte nicht erkennen, wo das Bild aufgenommen wurde. Vielleicht der Amazonas oder ein Nebenfluss.
»Ich habe José ungefähr ein Jahr vorher kennen gelernt. Francisco arbeitete damals als Berater für die Holzindustrie und machte irgendeine Analyse bei Millers in Josés Abteilung. Sie haben sich von Beginn an sehr gut verstanden und sind auch mal ein Bierchen trinken gegangen. Irgendwann kamen dann auch wir Ehefrauen mit ins Spiel und bald verbrachten wir manche Abende gemeinsam und sind zusammen auch mal in den Urlaub gefahren. Das lief einige Jahre so, bis dann die saudumme Sache passiert ist, an die ich zu dem Zeitpunkt niemals gedacht hätte. Hier. Das war Silvester Neunundneunzig. Das Datum vergisst man nicht. Den Jahreswechsel verbrachten wir gemeinsam in Johnny’ s Restaurant in Juquehy. Wir wohnten in den Neunzigern in Belém, aber Francisco stammt ursprünglich aus Sorocaba und wir kamen hier her, sobald wir es einrichten konnten. Er hat Familie hier. Später sind wir dann auch nach São Paulo gezogen. «
»Sie waren gemeinsam in Juquehy? «
Vanderlei rückte seinen Stuhl näher heran und zeigte auf das Foto: »Das sind Sie. Wenn mich nicht alles täuscht, ist der Senhor mit der Sonnenbrille im Haar Ihr Ex-Mann und der links davon Tavares. Wer ist die Sambakönigin neben ihm? Juliana Paes? «
Dona Anna musste nicht auf das Bild sehen. »Das ist Fany. Damals waren José und sie noch verheiratet. Meine Ehe mit Francisco war zu dem Zeitpunkt bereits eine Hülle ohne Inhalt. Wir haben uns im Sommer Zweitausend scheiden lassen. José und Fany haben noch ein Jahr länger ausgehalten. Ich bin dann nach Embu gegangen und habe meine kleine Galerie eröffnet«
In Teixeiras Kopf formte sich ein Gedanke. »Spielte Ihre Freundschaft zu den Tavares irgendeine Rolle für das Auseinanderbrechen der beiden Ehen? «
Anna legte ihm die Hand auf den Arm und blickte ihn aus unergründlichen, wässrig-blauen Augen an. »Delegado, Sie sind ein sehr instinktsicherer Mensch. Früher oder später werden Sie und der aufgeweckte junge Mann hier sowieso hinter unser dunkles Geheimnis kommen. «
Sie steckte sich eine neue Zigarette an und blies den Rauch an die Zimmerdecke.
»Francisco und Fany hatten eine Affäre. Als wir den Jahreswechsel Neunundneunzig gemeinsam am Strand verbrachten, kam es irgendwann zum Streit zwischen José und Fany. Ich habe am Anfang gar nichts kapiert. Es wurde immer hässlicher. Irgendwann schüttete José Fany ein Glas Sekt über und beschimpfte sie als Puta. Als Francisco aufsprang und José an die Gurgel ging, wurde mir auf einmal klar, was hier gespielt wurde. Ich war so dumm. Ich hatte zwar bemerkt, wie Chico sich verändert hatte. Die langen Abende im Büro. Die vielen Dienstreisen. Und dann war da mal was mit einer Mitarbeiterin von Millers. Das Übliche eben. Wir hatten uns auseinander gelebt, wie man so schön sagt. Irgendwann wussten wir dann beide, dass es nicht mehr lange gehen würde. Aber Fany? Die nette Fany mit den Glutaugen und den dicken Eutern?
José erzählte mir später, dass er irgendwann herausgefunden hatte, dass Fany sich mit Francisco traf und mir nichts gesagt hatte, um meine Ehe mit Francisco nicht zu gefährden. Er glaubte tatsächlich, mir läge noch etwas an Chico! Offenbar hatten wir unsere Rollen so gut gespielt, dass nicht mal unsere Freunde die Wahrheit sehen konnten. José und ich blieben die letzten Jahre über in Kontakt, zuletzt aufgrund seines dichten Terminkalenders aber hauptsächlich per Mail.
Vor ungefähr einem Monat rief er mich dann überraschend an und fragte, ob ich ihm für die Feiertage ein Häuschen in Juquehy vermitteln könne. Er wollte dem ganzen Rummel entfliehen und sich mit einem guten Buch an den Strand setzen. Und jetzt ist er tot. Es ist einfach schrecklich. War er denn alleine dort? « In ihren Augen schimmerte es wieder verdächtig.
Teixeira bestätigte: »Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Tavares in Begleitung war. Uns kam das auch etwas ungewöhnlich vor, dass ein Mann wie er Weihnachten ganz alleine verbringt. «
Vanderlei hatte aufmerksam zugehört und nebenbei in dem Fotostapel auf dem Tisch herumgestochert. Jetzt hielt er ein Foto hoch. »Senhora do Nascimento, Dona Anna, wer sind die Typen hier auf dem Bild? «
Sie nahm es ihm ab und betrachtete es. »Das da neben Francisco ist José, die anderen kenne ich nicht. Das muss irgendwann Anfang oder Mitte der Neunziger gewesen sein. Francisco war damals viel in Mato Grosso und Pará unterwegs. «
Teixeira nahm das Foto in die Hand. Es zeigte einen noch recht jungen Tavares zusammen mit do Nascimento und einigen weiteren Männern auf einer Lichtung im Wald. Im Hintergrund standen mächtige Bäume inmitten dichter Vegetation. Einer der Männer trug eine Uniform. Die Augen des Mannes waren von einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Die kräftigen Kiefer ließen den Militär brutal, fast animalisch erscheinen. An der Jacke trug er Rangabzeichen und einige Aufnäher. Das Bild war zu grobkörnig. Er konnte keine Details erkennen.
Einer Eingebung folgend fragte er: »Dona Anna. Dürfen wir uns einige Fotos ausleihen? «
»Nehmen Sie nur. Sie bedeuten mir nichts. Ich Närrin kann mich nur nicht aufraffen, den ganzen Kram endlich wegzuwerfen. Ich habe sogar meinen Ehering wie zur Erinnerung an eine alte Wunde aufgehoben. «
»Obrigado. Hatte Tavares Feinde? «
Sie schnaubte verächtlich. »Feinde? Nur einige Millionen so genannter Umweltschützer. In den letzten Jahren hat die Öffentlichkeit zwar ein differenzierteres Bild von der Lage, aber in manchen Medien wird es immer noch so dargestellt, als ob die Brasilianer als einzige nicht begriffen hätten, wie wichtig der Regenwald für das Weltklima ist. Das hat vor Jahren schon die Holz verarbeitende Industrie erkannt und zusammen mit der Regierung viel Geld in die Hand genommen, um Wiederaufforstung zu betreiben und die Fabriken mit geeigneten Filtern auszustatten. Dennoch hat Millers immer wieder Drohbriefe und Mails aus allen möglichen Ländern bekommen. Aber die richteten sich gegen die Firma und nicht gegen José persönlich. Vor einigen Jahren sind mitten im Wald einige schwere Baumaschinen abgefackelt worden und José hat die MST verdächtigt. Natürlich konnte das nie aufgeklärt werden. Aber das ist ein Stochern im Nebel. Ich fürchte, ich kann Ihnen da keine Hinweise liefern. «
Die Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, kurz MST, war die Bewegung der Landlosen in Brasilien. Es gab immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen mit Großgrundbesitzern, leider auch mit dem Militär. Die MST wurde immer wieder auch mit Anschlägen auf die Holzindustrie in Verbindung gebracht.
Teixeira erhob sich. »Noch eine letzte Frage. Für welche Firma war Ihr Ex-Mann eigentlich tätig? «
»Francisco hat Forstwirtschaft studiert. Er arbeitete damals als freier Berater für verschiedene Firmen der Holz verarbeitenden Industrie im so genannten Mahagoni-Gürtel. Irgendwann nach dem Umweltgipfel von Rio zweiundneunzig hat er sich dann der Idee einer nachhaltigen Forstwirtschaft verschrieben und sich der FSC angeschlossen.
Vanderlei stand ebenfalls auf. »Ach ja, eine allerletzte Frage, dann sind Sie uns erst einmal los, Dona Anna. Wissen Sie, wo man Senhora Tavares erreichen kann? « »Wegen der Beisetzung «, fügte er noch hinzu.
»Fany? Die lebt jetzt in Santiago, soweit ich weiß. Sie hat irgendwann einen chilenischen Viehbaron kennen gelernt und ist mit ihm weggegangen. Ich werde mich um das Begräbnis kümmern. José hatte ja niemanden mehr. Seine Mutter ist neunzig und leidet an Alzheimer. Sie würde gar nicht verstehen, was geschehen ist. «
Nachdem sie sich von Dona Anna verabschiedet hatten und auf dem Weg zum Auto waren, sprach Vanderlei aus, was beide dachten: »Die Frau will uns glauben machen, Tavares sei irgendeiner Umweltorganisation auf die Füße gestiegen und deshalb hat man ihn beseitigen lassen? Warum gerade jetzt und warum hier? «
Teixeira kaute auf einer cochina, die er in einer Bäckerei an der Ecke erworben hatte.
»Zu viele vermeintliche Zusammenhänge. Hier Tavares als Vertreter der Holzindustrie, die den Indios und den kleinen Landbesitzern den Lebensraum wegnimmt und irgendwann erkennen muss, dass die ganze Welt sich auf das Thema Regenwald stürzt, dort do Nascimento als geläuterter Mittäter, der nunmehr den Robin Wood gibt. Dazwischen die Großgrundbesitzer, die mit der Holzmafia gemeinsame Sache machen und die Landlosen. Und dann tauschen die beiden noch die Ehefrauen aus. «
Das Büro des Departamento de Homicídios e Proteção à Pessoa, kurz D.H.P.P. befand sich unweit der Praça da República in der Rua Líbero Badaró. In dem mehrstöckigen Gebäude waren etliche Dienststellen der Polícia Civil untergebracht. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Polizisten in Uniform und Zivil schwirrten über die Flure. Telefone klingelten, Männer und Frauen riefen sich Anweisungen, Scherze, Flüche oder die neuesten Gerüchte über das alles beherrschende Thema Fußball zu.
Teixeira stand mit einer Tasse Kaffee am Fenster seines Büros, hörte mit halbem Ohr auf das Stimmengewirr im Flur und schaute dem Gedrängel der Autos weit unten auf den Straßen zu. Zwischen den Fingern hielt er seine unvermeidliche Zigarette. Eigentlich war das Rauchen im Gebäude schon lange untersagt, aber bislang hatte man noch kein Mittel gefunden, ihn davon abzuhalten.
Er drehte sich um. Der Kommissar genoss den Luxus eines Einzelbüros, das allerdings gerade Platz bot für einen alten Schreibtisch, einen noch älteren Aktenschrank und zwei Stühle. Auf einem hockte Vanderlei und strapazierte die Tastatur des Computers. Seine Hälfte des Schreibtisches hatte er mit Zeitschriften, CD-Hüllen und Pappbechern voll gemüllt.
Teixeira ließ sich in den zweiten Bürostuhl fallen. Das Metall ächzte beleidigt. »Vanderlei, was sagen deine elektronischen Freunde? Irgendwas gefunden, was uns in der Sache Tavares weiterbringt? «
Der Fall war leider nicht der Einzige, um den Teixeira sich kümmern musste. Aufgrund der nicht näher erläuterten Bekanntschaft Tavares´ mit einigen hohen Tieren war dieser aber nicht ohne Brisanz.
»Ernesto, bleib hier bitte am Ball. Ich will das so schnell wie möglich geklärt haben« hatte der Chef gesagt.
Teixeiras Einwand, man könne bislang noch nicht mit letzter Sicherheit von einer Straftat ausgehen, hatte der Geral mit einem verächtlichen Schnauben abgetan: »Du glaubst also, dass Tavares es sich für die Weihnachtstage im Strandhaus mit ein paar schmutzigen Videos gemütlich gemacht hat und als er da so nackt auf dem Sofa lag, kam eine Riesenspinne hereinspaziert und hat ihm den Todeskuss verpasst? Ernesto, wir sind beide lange genug im Spiel. Hier ist was ober-faul und ich will, dass du es herausfindest. Zumal ich im Bericht nichts von solchen Videos gelesen habe. «
Vanderlei blickte auf. Neben sich hatte er einen ganzen Stapel Computerausdrucke liegen. Er schnappte sich das oberste Blatt und überflog es.
»Die Kollegen von DIPOL haben die Fotos vergrößert und elektronisch aufbereitet. Das Fotopapier wurde überwiegend in den späteren Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts verwendet. Die Aufnahmen wurden mit einer Kleinbildkamera geschossen, höchstwahrscheinlich Marke Minolta. Fragen Sie mich nicht, wie unsere Experten so etwas herausfinden. Irgendwann werden sie uns sicher auch noch verraten können, wer auf den Auslöser gedrückt hat und was er an dem Tag gefrühstückt hat. Bom. Kommen wir zu den wesentlichen Informationen. Hier. Der Aufnäher an der Uniform mit dem Tukan gehört zum 47° BIS. Es ist das Abzeichen des 47. Bataillons der Dschungel-Infanterie aus Marabá. Die Rangabzeichen sind die eines segundo tenente. Das Batalhão Tucano ist bereits seit den siebziger Jahren in Pará stationiert. Anfang der Achtziger waren sie mehrfach in Auseinandersetzungen mit den Indios verwickelt. Die lokale Polizei war personell völlig mit der Situation überfordert, daher hat die Provinzverwaltung das Militär angefordert. Ich habe das Bild an den Kommandanten gemailt und ihn um Unterstützung gebeten. Vielleicht haben sie noch die alten Akten und können herausfinden, wer der Mann auf dem Foto ist. «
Der Kommissar rückte näher, drückte die Kippe in einer herumliegenden Pappschachtel aus und besah sich den Abzug. Die Vergrößerung war gestochen scharf. Man konnte die Bartstoppeln im Gesicht von do Nascimento zählen.
»Was war denn damals das Problem der Indios? Holzindustrie oder Goldsucher? Welches Volk lebt dort? «
Vanderlei tippte etwas in den Computer, der eigentlich Teixeira gehörte. Man musste sparen, also hatte Vanderlei keinen eigenen PC bekommen. »Hauptsächlich noch Kayapó, Ticuna und ein paar versprengte Zo’é. Vor dreißig Jahren war es vor allem die Holzindustrie, die den Eingeborenen den Lebensraum wegnahm. Es gab einige heftige Scharmützel, bis die Indios mithilfe der Armee schließlich verdrängt wurden. Heute leben die meisten von ihnen in Reservaten. « Er legte den Ausdruck zur Seite. »Übrigens konnten unsere Kollegen in Bertioga noch mal mit dem Hausverwalter sprechen. «
»Mit wem? «
»Dem Hausverwalter aus Juquehy. Er sagt, Tavares sei eindeutig ohne Begleitung bei ihm gewesen, als er die Schlüssel abgeholt hat. «
»Irgendwas ist da mit Tavares und do Nascimento. Strapaziere bitte noch mal deinen Computer. Mich interessiert insbesondere diese Holzfirma, Millers. «
»Puta! Wer hat denn schon wieder die Fernbedienung versteckt? Das kann doch nicht sein. Einmal in der Woche will ich mir die Nachrichten ansehen und dann ist diese scheiß Fernbedienung weg! «
Teixeira stapfte ungehalten durch das Fernsehzimmer und hob auf der Suche nach dem technischen Utensil Kissen, Zeitschriften und Magazine hoch. Der Schäferhund sah Schwanz wedelnd zu und fand das neue Spiel interessant. Silvana steckte kurz den Kopf ins Zimmer und deutete zum Fernsehgerät. »Ernesto. Sie liegt auf dem Fernseher. Wie immer.«
Brummelnd schnappte er nach dem Gerät und zappte sich genervt durch die Programme, bis er endlich GLOBO TV gefunden hatte, das natürlich auf dem ersten Sendeplatz programmiert war.
Der dicke Nachrichtensprecher gab mit seiner Maschinengewehrstimme die Fakten zu den alltäglichen Verbrechen durch. In Morumbi hatten ein paar Typen einen Juwelier überfallen und Schmuck im Wert von einigen Hunderttausend Reals erbeutet, Leider waren sie im Stau stecken geblieben und konnten auf der Marginal hochgenommen werden.
Teixeira stopfte sich Paranüsse in den Mund und spülte sie mit einem eiskalten Brahma hinunter. Hatte der Geral ihm vorhin auf dem Flur bereits zugerufen. Die Typen waren echt zu blöd.
Der Teaser versprach ein weiteres Highlight nach einer kurzen Werbeunterbrechung. Teixeira ging hinüber zum Kühlschrank und nahm sich eine weitere Dose Bier. Nach den üblichen endlosen Spots für Automarken, Biersorten, Fitnessgeräte und Eigentumswohnungen ging es weiter.
Bahia. Ein dreiunddreißig-jähriger Drogenermittler und Koordinator von Spezialeinsätzen war mit seiner Frau in Camaçari im Bundesstaat Bahia im Auto unterwegs, als er einem Journalisten eines Lokalsenders per Handy ein Interview gab. Man sprach unter anderem über die Sicherheit in der Stadt, als plötzlich Schüsse und die verzweifelten Rufe der Ehefrau zu hören waren.
Wie sich später herausstellte, wurde der Polizist in seinem Ford von drei Kugeln getroffen. Die Frau blieb bei dem Attentat unverletzt. Die schockierten Radiomoderatoren baten noch in der laufenden Sendung um Hilfe. Ein Mitschnitt des Interviews war kurze Zeit später bei YouTube abrufbar. Die Polizei nahm kurz nach dem Überfall drei Tatverdächtige fest. Einer von ihnen sollte der Polizei bekannt sein und die Tat bereits gestanden haben, berichtete GLOBO TV.
Fußball. Ganso war zu spät zum Training erschienen und der Vereinspräsident hatte sich gegen eine Strafe ausgesprochen, weil...
Teixeira griff zur Fernbedienung und schaltete das Gerät aus. Nachdenklich kraulte er dem Schäferhund den Kopf. Er wusste nicht, was er mehr verabscheute. Die Schweine, die den armen Bullen hingerichtet hatten oder die Arschlöcher, die die Bluttat postwendend ins Internet gestellt hatten. Neue Zeiten. Jeder war immer und überall dabei. Live-Bericht von der Bluttat. Fehlte nur noch, dass die Täter freundlich in die Kamera winkten.
Er trank das Bier aus und trat hinaus auf die Terrasse. Die Welt war wirklich sehr krank.
Am nächsten Morgen überraschte Vanderlei den Kommissar mit ersten Ergebnissen: »Chefe! Es gab vor zwei Jahren in Manaus einen Toten. Ein gewisser Leandro Aranjo. Und jetzt kommt es. Wissen Sie, wo dieser Aranjo beschäftigt war? Bei Indústria Millers. «
Teixeira blickte seinen Ermittler unter seiner Brille hindurch an, als zweifele er an dessen geistiger Gesundheit. »Olha só! Haben die in ihren Arbeitsverträgen eine Klausel, dass sie unsterblich sein müssen? «
»Chefe. Natürlich ist nicht die Nachricht, dass der Mann gestorben ist, sondern wie. Dieser Aranjo hat in der Sicherheitsabteilung von Millers gearbeitet. Millers und etliche andere Holzfirmen in Pará sind vor zwei Jahren während der Operation Arco de Fogo auf den Kopf gestellt wurden. Die Inspektoren der Umweltbehörde haben keinen Hinweis darauf gefunden, dass Millers irgendetwas mit illegaler Ausfuhr von Tropenholz zu tun hat. Die sind sozusagen Vorreiter der neuen Ökowelle und pflanzen im ganz großen Stil nachwachsende Hölzer an. Ich denke nicht, dass es da was zu holen gibt. Aber über den Zwischenfall mit dem Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung gibt es eine Polizeiakte. «
»Kannst du das für mich zusammenfassen? «
»Então. Arco de Fogo war ja eine gemeinsame Operation der IBAMA mit der örtlichen Polizei und dem Militär. In dem Bericht von einem Kommissar Bonfim steht, dass es bei der Durchsuchung der Verwaltungsgebäude von Millers in Manaus ein Handgemenge mit den Sicherheitsleuten gab und sich dabei ein Schuss gelöst hat. Aranjo war sofort tot. Die Kugel war vom Kaliber .380 ACP, wie es die Streitkräfte verwenden, also richtete sich die Untersuchung zunächst gegen die beteiligten Militärs. «
Er überflog den Text und fuhr fort: »Es wird Sie nicht überraschen, dass nicht zweifelsfrei festgestellt werden konnte, ob der Schuss von einem der an der Aktion beteiligten Militärpolizisten ausgelöst wurde. Der Fall wurde zu den Akten gelegt. «
»Vanderlei, ruf diesen Bonfim in Manaus an. Vielleicht kann er uns was zu Millers sagen. Der Geral will, dass wir schnellstmöglich herausfinden, wer Tavares umgebracht hat und diese ganze Holzmafia da oben stinkt mir sowieso. Jetzt sind sie alle die großen Ökos, weil sie scheinbar keine illegale Abholzung mehr betreiben. Dafür wird jetzt legal gerodet, um Anbaufläche für Biosprit zu schaffen. Wenn du mich fragst, ist das ganze System krank und korrupt. «
Die Überraschung war gelungen. In der Firma hatten sie ihm ein Ständchen gesungen und die ganze Abteilung hatte für ein Paar Fußballschuhe zusammengelegt. Das Geschenk war eine nette Geste und er war sogar ein wenig verlegen gewesen, als die flotte Gabriela aus der Marketingabteilung ihm vor der ganzen Abteilung das Paket überreichte und ihm einen – wie er fand – ziemlich viel versprechenden Kuss auf die Wange gedrückt hatte. Sie hatten es tatsächlich geschafft, früher Schluss zu machen und er war mit seinem Chef rechtzeitig ins Restaurant gekommen. Die picanha war diesmal ausgezeichnet. Sein Chef schwor seit einiger Zeit auf alcatra, aber beim churrasco hatte schließlich jeder seinen eigenen Geschmack.
Sie sprachen über das Geschäft. Matheus machte sich Hoffnungen, zum Leiter der Abteilung für Personenschutz ernannt zu werden. Er war zwar noch fit, aber mit Anfang Fünfzig wurde es langsam Zeit, den aktiven Dienst zu quittieren und sich um die Personaleinsatzplanung zu kümmern. Er wertete die Einladung seines Chefs als gutes Zeichen, wenn dieser auch heute Abend nur vage Andeutungen gemacht hatte.
Der Parkplatzwächter brachte den Schlüssel des Toyota. Über die Bandeirantes fuhren sie nach Jabaquara. Sein Chef wartete vor dem Apartmenthaus, bis er am Pförtner vorbei war, dann fuhr er nach Hause zu seiner glücklichen Familie.
Er schloss die Tür zu seinem Apartment auf, knipste das Licht im Flur an, zog die Schuhe aus und ging auf die Toilette. Es machte ihm nichts aus, an seinem Geburtstag den Abend alleine zu verbringen. Momentan hatte er keine feste Beziehung und nach dem Stress der vergangenen Tage war er ganz froh, dass er die Füße hochlegen konnte. Es hatte ein Country Konzert im Bourbon Street Music Club gegeben und sie hatten den Auftrag gehabt, die Altrocker auf Schritt und Tritt zu bewachen.
Matheus nahm sich aus der Bar eine Flasche Scotch und ein Glas mit Eis und setzte sich in seinen Lieblingssessel. Er zappte die Sender durch und suchte halbherzig nach einer Fußballübertragung. Die Corinthians hatten gegen Fluminense knapp die Meisterschaft verpasst und in europäischen Ligen war Winterpause.
Plötzlich schreckte er hoch. Ihm war, als hätte jemand leise seinen Namen gerufen. Es musste aus dem Schlafzimmer gekommen sein. Trotz seiner zweiundneunzig Kilo Kampfgewicht beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Seine Beretta lag im Waffenschrank in der Firma.
Da war es wieder. Er umfasste die Whiskyflasche wie einen Knüppel und schlich auf Zehenspitzen zum Schlafzimmer. Die Tür war angelehnt. Er atmete tief durch und riss mit einem Ruck die Tür auf. Mit der Linken knipste er das Licht an.
In seinem Bett lag eine Frau. Lange, dunkle Haare und Augen wie Bernsteine. Sie blinzelte ins Licht und gurrte mit rauchiger Stimme: »Nicht so stürmisch, touro. Willst du mich erschlagen? Ich dachte eher ans Aufspießen. «
Seine Kollegen! Irgendwer musste sich gedacht haben, legen wir dem alten Matheus doch was Warmes, Weiches ins Bett, dann hat er an seinem Geburtstag noch ein wenig Spaß.
»Na, das ist ja eine nette Überraschung. Wie heißt du denn, mein Kälbchen? « Er stellte die Flasche auf dem Nachttisch ab und beugte sich zu der puta hinüber. War ja keine schlechte Idee. Die Frau trug ein hauchdünnes Nichts und sie war ganz nach seinem Geschmack.
Die Nutte zog ihn näher an sich heran und hauchte ihm ins Ohr: »Wie willst du mich denn nennen? Mach’ es dir doch bequem. « Schon fing sie an, ihm das Hemd aufzuknöpfen. Matheus nahm sich vor, sich morgen im Büro noch mal ganz besonders zu bedanken.
»Ich denke, wir werden uns verstehen … Gabriela. «
Sie fuhren aus Brotas kommend in Richtung Patrimonio. Silvana steuerte den Wagen, Teixeira hatte es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich gemacht und genoss den Blick über die Viehweiden und Zuckerrohrfelder.
Den Jahreswechsel hatten sie in Rio Claro verbracht. Sein älterer Bruder bewohnte dort das Haupthaus einer ehemaligen fazenda, das er vor Jahren aufwändig renoviert hatte. In Landesinnern waren die Immobilienpreise noch nicht auf dem Niveau der Hauptstadt und Carlos hatte als Tierarzt nicht schlecht verdient und konnte es sich leisten. Mittlerweile war er pensioniert und genoss seine zahlreichen Hobbys. Unter anderem hatte er vor einiger Zeit begonnen zu malen, was Ernesto einigermaßen überrascht hatte. Die Teixeiras waren eher zupackende Menschen und bei sich hatte er zumindest noch keinerlei künstlerische Adern entdeckt.
»Ghizlaine ist eine bemerkenswerte Frau« sagte Silvana gerade. Ernesto brummte zustimmend. Irgendwas würde jetzt noch kommen.
»Mich wundert nur, dass sie immer noch alleine lebt. Sie ist doch wirklich attraktiv, findest du nicht? «
Agora. Das war es also. Auch nach so vielen Jahren Ehe, Ernesto musste kurz nachrechnen, neunzehn Jahre waren es inzwischen, war Silvana eifersüchtig wie am ersten Tag. Er brummte wieder und dachte über die letzten beiden Tage nach.
Zu Silvester hatte Carlos in dem zur churrascera umgebauten ehemaligen Pferdestall ein Grillfest zelebriert. Mittlerweile genoss er es, die Hauptarbeit seinem Ältesten überlassen zu können. Er selbst konzentrierte sich auf die Kommunikation und darauf, dass alle auch genug aßen und tranken. Es gab Rippchen und Würstchen vorab, während die Picanha in der genau richtigen Hitze schmorte. Ernesto war wie immer für die Caipirinha zuständig gewesen und man hatte den alkoholischen Getränken allgemein gut zugesprochen.
Auch Ernestos und Carlos’ Mutter, die nach dem Tod des alten Teixeira nach Rio Claro gezogen war, hatte immer wieder von ihrem geliebten Schnäpschen genippt und war anfangs ungewohnt heiter gewesen. Silvana hatte aber immer noch das Gefühl, dass ihre Schwiegermutter ihr persönlich übel nahm, dass sie ihr keine Enkelkinder geschenkt hatte. Wobei sich das mit dem Verwöhnen bei Carlos’ und Marias Enkeln mittlerweile auch auf Weihnachten und die Geburtstage beschränkte.
Ernestos Neffe Davide war kürzlich mit seiner Frau Regiane und der kleinen Anna nach Pato Branco gezogen, das war eine Strecke von gut neunhundert Kilometern. Demzufolge kam er seine Eltern und Oma nicht mehr so häufig besuchen. Ihre Tochter Paula wohnte noch bei ihnen, aber sie hatte inzwischen das colégio abgeschlossen und würde wohl bald ausziehen. In Pato Branco gab es keine Universität.
Ernesto empfand Familienfeste ziemlich schnell als anstrengend. Natürlich freute man sich, Mutter, Carlos, Maria und die Kinder ab und zu wieder zu sehen, aber man spürte doch eine gewisse Distanz, die nicht nur durch die räumliche Trennung herrührte. Aufgrund ihrer beider Berufstätigkeit hatten sich Kinder einfach nie ergeben und nun waren sie auch darüber hinweg. Silvana hatte sich nach ihrem Studium voll in ihren Job als Landschaftsgärtnerin gestürzt, um nicht das Schicksal vieler Polizisten-Ehen zu riskieren. Seit einigen Jahren war sie mit ihrem Team für die Pflege und Erhaltung des Parque Burle Marx mitten in Morumbi verantwortlich, was sehr viel Arbeit bedeutete, ihr aber auch unglaublich viel Freude bescherte.
Nach einer Weile war das Gespräch unweigerlich auf das Thema Kriminalität gekommen. Ernestos Mutter las sehr viel. Sie hatte einen mehrfach gefalteten Zeitungsartikel hervor gekramt, den sie sich für das Treffen mit ihrem jüngsten Sohn aufbewahrt hatte und mit ihrer aufgrund der eigenen Schwerhörigkeit etwas zu lauten Stimme vorgelesen. Es war eine Statistik, die besagte, dass von den Städten und Gemeinden des Bundesstaates São Paulo vierhundertsiebenundzwanzig eine Mordrate unter zehn Morden pro hunderttausend Einwohner aufwiesen.
»Tinho, was meinst du? Liegt der Rückgang der Morde daran, dass die Menschen vernünftiger geworden sind oder macht ihre eure Arbeit nur besser? «
Ernesto hasste es, wenn sie ihn bei seinem Kosenamen nannte. Und es kotzte ihn an, wenn sie ihn als Generalbevollmächtigten für Mord und Totschlag hinstellte. Aber sie war seine Mutter, deshalb hatte er freundlich geantwortet: »Mãe, selbstverständlich ist der Rückgang auf den verstärkten Personaleinsatz sowohl bei der Policia Civil, in der Stadt auch der ROTA zurückzuführen. Aber ich denke, dass auch die Verbesserung der Lebensumstände einen Beitrag dazu leistet. Man kann über Lula denken, wie man will, aber unbestritten ist, dass etliche während seiner Präsidentschaft auf den Weg gebrachten Maßnahmen greifen. Nimm zum Beispiel den Selo Social. Das Programm bringt Steuerbefreiungen, ermöglicht steuerbegünstigten Verkauf des Biokraftstoffs, den Kleinbauern über den Anbau von Ölpflanzen erzeugen und schafft damit Existenzgrundlagen. Auch das Programm "Strom für alle" hat dazu geführt, dass die Landflucht in Richtung der Metropolen zurückgegangen ist. Die Leute schließen sich einen Fernseher an und haben Strom zum Waschen und Kochen, das reicht manchmal schon aus, dass sie in ihrem Umfeld besser zu Recht kommen. Weniger in ihrer Existenz bedrohte Menschen auf dem Land, weniger Favelas in den Metropolen, Rückgang der Tötungsdelikte. Das ist meine ganz einfache Gleichung, ob die nun von Politikern und Wissenschaftlern bestätigt wird oder nicht. Und hoffen wir, dass Dilma diesen Kurs weiter verfolgen wird. «
Er wusste, dass seine Mutter Anhängerin der Opposition war. Erwartungsgemäß spie sie den Namen aus, als wäre er giftig: »Dilma! Eine Frau als Präsidentin, das gehört sich nicht! Und eine ehemalige Guerillera noch dazu! Wo soll das denn noch hinführen? «
Am Neujahrstag gab es mittags immer noch Carlos’ Spezialität. Er hatte von einem seiner ehemaligen Kunden ein Ferkel bekommen und das musste einige Stunden lang im Holzofen schmoren. Die kleine Anna durfte die Dekoration übernehmen und alle waren ganz entzückt, wie sie diese Aufgabe meisterte. Zur Schlemmerei waren diesmal noch ein paar Freunde von Carlos und Maria eingeladen. Man kannte sich schon von früheren Gelegenheiten und insbesondere mit der Biologin Ghizlaine konnte sich Silvana ausgezeichnet unterhalten. Sie interessierte sich insbesondere für die Tiere, die mitten in São Paulo im Parque Burle Marx lebten.
Ernesto konnte der Versuchung nicht widerstehen, die attraktive Biologin nach einer bestimmten Spinnenart zu befragen: »Sag mal, kennst du dich mit Giftspinnen aus? Es gab jüngst zwei Todesfälle in Zusammenhang mit einer Phoneutria. « Sie unterbrach ihn: «Du sprichst von Tavares in Juquehy. Das ist in der Tat sehr interessant. «
Teixeira konnte seine Verblüffung nicht verbergen. »Woher weißt du von Tavares? Ah, sag’ es nicht. Du hast auch mit Dr. Yamato zusammen studiert, richtig? Ihr steckt doch alle unter eine Decke. «
Sie stieß ihr glockenhelles Lachen aus und drückte ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange.
Nachdem man sich nach dem Frühstück herzlich von der Familie verabschiedet und sich versprochen hatte, dass das nächste Wiedersehen nicht erst zu Ostern stattfinden sollte, hatten sie heute die Rückfahrt ganz ohne Zeitdruck angetreten.
Jetzt saß er neben seiner Frau im Auto und warf ihr einen Blick zu. Die Zeit war auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Ihr schwarzes Haar war von feinen silbernen Fäden durchzogen, um ihre rehbraunen Augen zog sich ein Saum von kleinen Fältchen und die Haut an den Armen war nicht mehr ganz straff. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte sie aber über die Jahre nicht kontinuierlich zugenommen. Er fand sie eigentlich nach wie vor attraktiv. Vielleicht müsste er ihr das einfach mal wieder sagen.
Was er sagte, war: »Ich müsste diesem Yamato eigentlich die Schlitzaugen gerade ziehen, weil er über meinen Fall geplaudert hat, aber andererseits unterliegt er ja nicht der Schweigepflicht. «
»Lieber Ernesto. Japaner haben keine Schlitzaugen. Bestenfalls könnte man von einer Mandelform sprechen. Und wundert es dich, dass sie uns Langnasen nennen? Schau dir doch nur den Rüssel von Carlos an. « Sie mussten lachen.
Kurz hinter Brotas bog Silvana auf den Parkplatz des Recanto das Cachoeiras ab. Sie schimpfte am Eingang halbherzig über den Eintrittspreis von fünfundzwanzig Reals pro Kopf. Die Wasserfälle befanden sich hier alle auf den Grund und Boden privater fazendas und gerade hier hatte man etwas Infrastruktur bereitgestellt. Ein kleiner Pool, Toiletten und ein Restaurant.
Sie schlitterten den schmalen Weg zur ersten cachoeira hinunter. Ernesto musste im neuen Jahr mal wieder versuchen, etwas abzunehmen. Er schnaufte jetzt schon wie ein Walross, wie sollte erst der Rückweg werden. Der Wasserfall entschädigte aber für die Strapazen. Braun und weiß stürzten die Wassermassen herab. Wenn man länger als einige Sekunden unter dem Strahl stehen blieb, wurde der Rücken schnell rot und es fing an, wehzutun.
Im Anschluss fuhren sie quer in Richtung Rod. Castello Branco und versuchten halbherzig noch ein Zimmer in einer Pousada zu bekommen. In Brotas war schon alles ausgebucht und als sie bis zum Einbruch der Dunkelheit noch keine Unterkunft gefunden hatten, beschlossen sie, heimzufahren, zumal es nun richtig heftig anfing zu regnen. In einer der pousadas, sie hieß Recanto Alvorado oder so ähnlich, lief an der Rezeption der Fernseher. Dilma auf allen Kanälen.
In Botucatu fuhren sie noch mal raus, um eine Toilettenpause einzulegen. Eher durch Zufall fanden sie eine nette kleine choperia & petiscaria, die einen wirklich interessanten Namen hatte: Confraria do Saci Im Logo hatten sie einen Saci Pererê Das Essen war überraschend gut und Teixeira gönnte sich das erste Bier des Tages.
Ernesto sprach mit seiner Frau normalerweise nicht über seine Fälle, aber der Spinnenmörder, wie er inzwischen intern genannt wurde, beschäftigte ihn doch sehr. »Was denkst du? Ist das nun ein Zufall, dass Tavares und de Oliveira auf dieselbe Weise ums Leben kamen oder muss ich nach einem Psychopathen suchen? «
Silvana neigte zu einer erfrischenden Offenheit, die sie manchmal schon in unangenehme Situationen geführt hatte, aber er schätzte ihre Art, ganz klar nach links und rechts, weiß und schwarz zu unterscheiden. Sie schaute ihn kurz sehr intensiv an. »Ernesto, das ist sonnenklar. Die Fälle hängen zusammen und es hat irgendetwas mit dieser Holzfirma zu tun. Ich glaube, du wirst eine Dienstreise in den Norden machen, nicht? «
Manchmal war er immer noch erstaunt über ihre Instinkte.
Teixeira saß in seinem Büro an seinem PC und überflog die Meldungen.
In Cidade Tiradentes hatte ein Mann seiner Frau einen von Silvester übrig gebliebenen Feuerwerkskörper in den Mund gesteckt und sie vom Balkon des Apartmenthauses gesprengt.
Bei einer Schießerei in São Miguel Paulista war zwischen zwei rivalisierenden Drogenbanden auch eine unbeteiligte Passantin ums Leben gekommen.
In Sorocaba wurde eine psychisch gestörte Frau nach drei Jahren Gefangenschaft aus ihrem eigenen Küster befreit. Sie hatte sich von Konserven ernährt und, als diese aufgebraucht waren, die Holzregale aufgegessen. Unklar war, wer sie in diese missliche Lage gebracht hatte, da sie alleine lebte. Ansonsten der ganz normale Wahnsinn. Entführungen, Messerstechereien. Raubüberfälle.
Er öffnete den Browser und durchstöberte die Nachrichtenportale. Das alles beherrschende Thema war natürlich die Flutkatastrophe im Norden Rios. Teixeira las den Bericht einer lokalen Nachrichtenagentur:
Die Flutkatastrophe hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mehr als 1.300 Menschenleben gefordert. Nach den jüngsten Zahlen der Behörden wurden mittlerweile 820 Todesopfer bestätigt, über 500 Personen werden auch zwei Wochen nach dem verheerenden Hochwasser und den zahlreichen Erdrutschen weiterhin vermisst. Beobachter befürchten zudem, dass die Zahl der vermissten Personen in den kommenden Tagen eher steigen als fallen dürfte, da viele Meldungen noch nicht in der von der Regierung des Bundesstaates eingerichteten Datenbank integriert wurden.
Die Hoffnung unter den Millionen von Kubikmetern Schlamm und Geröll noch Überlebende zu finden, ist nach zwei Wochen faktisch ausgeschlossen. Längst konzentrieren sich die Helfer auf den Wiederaufbau von Infrastruktur, Schul- und Gesundheitswesen. Feldlazarette wurden eingerichtet, Trinkwasser und Lebensmittel für Notunterkünfte herbeigeschafft, Straßen wurden notdürftig geflickt. Zudem errichteten Einheiten des Militärs erste provisorische Brücken über die Flüsse. Zivilschutz und Feuerwehr sind derweil weiterhin mit dem Abtragen der Erde und der Beseitigung des Schlamms beschäftigt.
Er schüttelte den Kopf. Lernten die denn nie etwas? Er konnte sich noch gut an die Bilder von dem Erdrutsch in Angra und der Ilha Grande vor ziemlich genau einem Jahr erinnern. Auch über fünfzig Tote. Aber die Behörden sahen weg, wenn die Leute ihre Häuser immer weiter die Hänge hinauf trieben. Das nächste Unglück war vorprogrammiert.
Einer Eingebung folgend suchte er nach Indústria Millers. Die Firmenseite leitete ihn auf die Website des Mutterkonzerns weiter. Die Millers Company war ein Konglomerat unterschiedlichster Firmen. Begonnen hatte John Miller, ein aus Deutschland eingewanderter Krämer, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Iowa mit einem Getreidehandel. In den vergangenen hundertfünfzig Jahren hatte das Unternehmen durch Übernahmen hauptsächlich in den Staaten, in Südamerika und in Europa sein Portfolio um Landmaschinen, Holzproduktion und etliche weitere Handlungsfelder erweitert. Millers war unter anderem der zweitgrößte Hersteller von Biosprit weltweit.
Teixeira las interessiert weiter.
Der Konzern, dessen Aktivitäten inzwischen von Ölraffinerien bis zu Papiertaschentüchern reichten, beschäftigte nach eigenen Angaben einhundertsechzigtausend Mitarbeiter und erzielte im vergangenen Jahr einen Umsatz von 130 Milliarden US-Dollar.
Auf einer US-amerikanischen Nachrichtenseite fand Teixeira mehrere Beiträge zu Verstrickungen des aktuellen Verwaltungsratschefs Jonathan Millers III. in eine Parteispendenaffäre sowie über seine Kontakte zur Tea-Party-Bewegung.
Das war ja alles sehr interessant, aber würde ihnen bei der Aufklärung des Tavares-Falles nicht weiterhelfen. Vanderlei konnte später noch weitere Informationen über das Unternehmen heraussuchen. Teixeira loggte sich aus, schnappte sich seine Autoschlüssel und fuhr in die Stadt. Er hatte einen wichtigen Termin.
»Ai! Das soll mir gut tun und mich nicht umbringen! « Die Antwort kannte er bereits, da es wahrscheinlich Niltons Lieblings-Sprichwort war: »A loucura é breve, longo é o arrependimento (Bras. Sprichwort: Kurz ist der Wahnsinn, lang die Reue) «
Teixeira lag mit dem Gesicht nach unten auf der Pritsche und lies sich nach allen Regeln der Kunst durchkneten. Nicht nur ihm, sondern auch Nilton, seinem Masseur, lief der Schweiß aus allen Poren. Sport war nicht sein Ding, aber als Polizist musste er sich zumindest eine minimale Beweglichkeit erhalten, also zwang er sich einmal die Woche her. Wobei sich die Übungen auf einige Kilometer mit dem Laufrad beschränkten. Wenn nicht zu viele Kunden im ginásio waren, legte er sich auch mal auf die Hantelbank, aber die paar Wiederholungen waren eher geeignet, ihm am nächsten Tag einen Muskelkater zu bescheren als den Rücken zu stärken.
Nilton klopfte ihm mit der flachen Hand auf die Schulter. »Pronto. Du hast es überstanden, Delegado. Jetzt kannst du dich wieder hinter deinen Schreibtisch klemmen. « Besser als das Strampeln und Eisenverbiegen bekam ihm die Massage im Anschluss, auch wenn Nilton es nach seinem Empfinden heute zu gut gemeint hatte.
Er wälzte sich von der Pritsche und watschelte zur Dusche, ein Badetuch um die Hüften gewickelt. Er war gerade dabei sich abzurubbeln, als sein Nokia auf der Bank umher hüpfte. Fluchend klappte er das Gerät auf und drückte auf die grüne Taste. Er hörte der Stimme des Diensthabenden zu und grunzte dann ungehalten: »Ich komme hin. «
Gerade wollte er Vanderlei anrufen, als ihm einfiel, dass der Junge ja an der Akademie war. Irgendwelche Theoriestunden.
Teixeira war wieder mit seinem Honda unterwegs. Nach einer guten Stunde kam er an seinem Ziel an. Zum Glück gab es hier Parkplätze. Das Apartmenthaus lag in einer normalen Wohngegend unweit der Metrô.
Im Eingang standen einige Uniformierte herum und salutierten, als er seinen Ausweis hochhielt. Das Apartment lag im 17. Stock. Als er aus dem Aufzug trat, sah er gleich die offene Tür. Er trat ein und blickte sich um. Einfache Möblierung. Die Wohnung eines Junggesellen. Niedriger Bildungsstand. Im Wohnzimmer hingen ein paar gerahmte Poster von Fußballern und von Kinohelden. Ein Wimpel der Corinthians.
Im Schlafzimmer traten sich ein paar Männer in weißen Papieroveralls auf die Füße. Die Leiche lag auf dem Bett. Teixeira erkannte sofort die Ähnlichkeit zu dem Fall Tavares. Nackt. Blauschwarze Extremitäten, die schwarze Zunge lag wie ein Blutegel im halb geöffneten Mund. Die Augen waren unnatürlich weit aufgerissen. Sein Blick wanderte zu dem violetten Fleischklumpen, der obszön zwischen den Beinen des Toten baumelte.
Ein Kollege der Spurensicherung sprach ihn an: »Teixeira. Das ist eine ganz schöne Schweinerei, nicht? Wenn der rot statt blau angelaufen wäre, würde ich auf Cyanid tippen, aber ich habe von dem Fall unten am Strand gehört, deshalb habe ich dich gleich rufen lassen. «
Teixeira brummte: »Ich denke, man wird feststellen, dass der Mann von einer Spinne gebissen wurde. Tarantula hat ihren Weg aus den Estados Unidos in unser nettes Land gefunden. «
Er ließ den verdutzt drein blickenden Mann stehen und ging zurück ins Wohnzimmer. Die Kollegen hatten bereits ganze Arbeit geleistet. Schubladen waren herausgezogen, Papiere und persönliche Gegenstände lagen überall verstreut herum. Teixeira ging in die Hocke und griff nach einem altmodischen Fotoalbum. Über die Schulter rief er in den Flur »Wie heißt der Tote, was hat er bis zu seinem Ableben getrieben und wer hat ihn gefunden? «
Ein Uniformierter antwortete zackig: »Matheus De Oliveira, zweiundfünfzig Jahre alt. Arbeitet bei einer Sicherheitsfirma in der Nähe von Gongonhas. Single. Hatte vorgestern Geburtstag. Sein Chef hat ihn abends zum Essen eingeladen und gegen halb Elf hier abgesetzt. Der porteiro hat das bestätigt. Gefunden wurde er, weil hier einmal die Woche sauber gemacht wird. Die Leute von der Reinigungsfirma haben einen Hauptschlüssel für alle Wohnungen. Wollen Sie mit den Angestellten sprechen? «
Teixeira erinnerte sich an die wenig Ziel führende Unterhaltung mit dem Wachmann in Juquehy und lehnte dankend ab. Er wandte sich an den Polizisten: »Hat sonst irgendeiner was gesehen oder gehört? «
»Das ist hier ein typisches Apartmenthaus. Da kennt kaum einer seinen direkten Nachbarn. Die Wohnung links neben uns steht gerade leer und rechts wohnt eine alte Frau, die fast taub ist und wahrscheinlich nichts gehört hätte, wenn der Täter die Tür aufgesprengt hätte. «
»Ich will trotzdem eine Liste aller Hausbewohner. Heute Mittag in meinem Büro. « Er musste dem jungen Kollegen ja nicht sagen, dass er sich nicht für die Mitbewohner interessierte, aber der Vollständigkeit halber wäre es gut, die Liste in der Akte zu haben.
Mittlerweile hatte Teixeira das Album durchgeblättert. Fußballer auf irgendeinem staubigen Bolzplatz. Churrasco und Bierchen nach dem Spiel, dazwischen mehr oder minder hübsche Frauen. Er legte es zur Seite und nahm sich ein weiteres.
Die Bilder waren älteren Ursprungs. Auf der vorletzten Seite wurde er stutzig. Das hatte er schon mal gesehen. Es zeigte eine Gruppe von Männern vor großen Bäumen. Er schaute genauer hin. Der Dritte von links schien ein deutlich jüngerer de Oliveira zu sein. In der Hand hielt er etwas Längliches, das Teixeira nicht genau erkennen konnte, das in ihm aber irgendwelche Assoziationen weckte.
»Hat einer mal eine Lupe? «
Ein Beamter reichte ihm ein Vergrößerungsglas, mit dem er gerade eine Whiskyflasche auf Fingerabdrücke untersucht hatte.
Der Ex-Mann von Anna do Nascimento war nicht auf dem Foto. Es war aber die gleiche Umgebung, und dieser kleine Dunkelhäutige links war auf dem Abzug von Dona Anna auch zu sehen gewesen, da war Teixeira sich sicher. Das Labor würde die Details herausarbeiten. Er ließ sich einen Plastikbeutel geben und legte das Album hinein.
»Alles einpacken und mitnehmen. « wies er an.
Nach einem letzten Blick auf den Toten verließ er das Apartmenthaus und fuhr zurück zur D. H. P. P.
Teixeira hielt die beiden Fotos in der Hand und verglich immer wieder Gesichter. Für ihn stand eindeutig fest, dass beide Aufnahmen in der gleichen Gegend aufgenommen wurden. Regenwald. Do Nascimento, Tavares, de Oliveira, Holzindustrie. Wo blieb nur dieser verdammte Vanderlei? Er wühlte in einem Regal bis er das richtige Telefonbuch gefunden hatte, blätterte ein wenig vor und zurück und griff zum Hörer.
Bereits nach dem zweiten Klingeln hob sie ab. »Galeria Belas Artes.«
»Dona Anna. Teixeira hier. Der Polizist. Darf ich kurz mit Ihnen reden? «
Sie schien überrascht, von ihm zu hören. »Teixeira, natürlich dürfen Sie. Gibt es schon Hinweise auf die Täter? Haben Sie eine Spur? «
»Dona Anna. Wir stehen noch am Beginn der Ermittlungen. Wir müssen aber inzwischen davon ausgehen, dass Senhor Tavares wahrscheinlich nicht das einzige Opfer ist. Es gibt einen weiteren Todesfall, der eindeutige Ähnlichkeiten aufweist. Ihnen sagt nicht zufällig der Name Matheus de Oliveira etwas? Vielleicht in Zusammenhang mit Ihrem Ex-Mann? «
Anna do Nascimentos Antwort kam schnell: »Sagt mir überhaupt nichts. Noch ein Toter sagen Sie? Was ist denn passiert? Warum kommen Sie darauf, dass es Zusammenhänge gibt? «
»Dona Anna, ich will und darf über die laufenden Ermittlungen keine Details verraten, ich bin aber fest davon überzeugt, dass die Opfer ein gemeinsames Element haben. Es ist nur so ein Gefühl, aber es könnte eine Verbindung zwischen Ihrem Ex-Mann und den beiden Toten geben. Wo lebt Senhor do Nascimento übrigens jetzt? «
Er hörte, wie Dona Anna den Zigarettenrauch ausstieß. »Delegado. Sie machen mir Angst. Glauben Sie wirklich, es gibt einen Zusammenhang zwischen José, Francisco und diesem, was sagten Sie, de Oliveira? Ist Francisco in Gefahr? Bitte, sagen Sie es mir! «
Teixeira wollte sie gerne beruhigen. »Dona Anna, noch wissen wir zu wenig. Ich würde nur gerne mit Ihrem Ex-Mann Kontakt aufnehmen und mich mit ihm über seine Zeit bei Millers unterhalten. «
»Francisco und ich haben uns seit Jahren nichts mehr zu sagen, aber zwölf Jahre Ehe kann man nicht einfach wegwischen wie einen Schmutzfleck auf der Biografie. Bitte sprechen Sie mit ihm. Warnen Sie ihn, wenn Sie der Ansicht sind, dass er in Gefahr ist. Er lebt wahrscheinlich wieder in Pará. Ich habe seine Adresse und Telefonnummer nicht. Sie können ihn aber sicher über die FSC erreichen. Ich will... ich kann nicht mit ihm sprechen. «
Nachdem sie aufgelegt hatten, stand Teixeira auf und ging hinüber zum Vorzimmer des Geral. »Fernanda, kannst du mir eine Nummer besorgen? «
Zwei Minuten später war er wieder an seinem Schreibtisch.
»Bom dia. Mein Name ist Teixeira. Mordkommission São Paulo. Arbeitet bei Ihnen ein Francisco do Nascimento? Ja? Wo ist er? Im Wald? Was macht er denn da? Ja, ich weiß, was die FSC macht. Ach so, ja verstehe. Haben Sie seine Mobilnummer? Hm. Hm. Hm. Ich danke Ihnen. Nein, er hat niemanden umgebracht. Tschau. «
Am nächsten Morgen tauchte Vanderlei wieder auf.
»Bom dia, Chefe. « Sein aktuelles T-Shirt trug die Aufschrift Não complique!
Teixeira brummte: »Ich hoffe, du hast nicht vor, deine frisch erlernten Theorien gleich hier anzubringen. Echte Ermittlungsarbeit ist nämlich nur in der Praxis zu erlernen. Hier. Auch wenn es deinem Spruch da entgegensteht, könntest du dich mal über die neuesten Entwicklungen schlau machen. « Er schob dem Ermittler die Fotos und die schmale Mappe mit der neu angelegten Akte de Oliveira hin. »Die haben etwas miteinander zu tun und du solltest besser herausfinden, was. «
Vanderlei blätterte den Autopsie Bericht durch und besah sich dann die beiden Fotografien. »Noch ein Fall? Hm. Stimmt. Das könnte dieselbe Stelle sein. Man kann die Gesichter nicht gut erkennen, aber der Kleine hier und auf dem Foto von do Nascimento sehen sich verdammt ähnlich. Das sind Holzarbeiter, nicht? De Oliveira wurde auch von einer Spinne gebissen. Hier ist doch nicht auf einmal eine Spinnenplage ausgebrochen? Eingeschleppt von so einem Holztransport aus dem Norden? «
»Que absurdo. Die wurden umgebracht und der Mörder hält es für eine besonders gelungene Masche, es als Begegnung mit einer Giftspinne darzustellen. Solange du die Schulbank gedrückt hast, habe ich ein wenig herum telefoniert. «
Er hielt Vanderlei triumphierend ein Blatt vor die Nase, das mit Telefonnummern und Notizen vollgeschrieben war. »Rate mal, wo de Oliveira gearbeitet hat, bevor er hier bei dieser Sicherheitsfirma angeheuert hat? «
»Sie werden es mir gleich sagen. «
»Matheus De Oliveira arbeitete bis vor drei Jahren bei Indústria Millers. Mach den Mund wieder zu und klemm dich hinter den Computer. Druck das Dienstreiseformular aus. Wir verreisen für ein paar Tage. «
Vanderlei legte seine Umhängetasche ab und setzte sich. »Wo fahren wir denn hin, Chefe? «
»Pack ausreichend Mückenspray ein. Wir gehen auf Spinnenjagd in den Regenwald. Und vergiss die Gummistiefel nicht. Da oben ist es ziemlich feucht. «