Читать книгу Lysann - K. J. Wintin - Страница 7
Kapitel 1
Оглавление»Wenn ich in ihre Augen sehe, sehe ich, wie missraten sie ist. Sie ist nicht wie ihre Schwestern, ganz und gar nicht. Beim vierhörnigen Babu, womit habe ich eine solche Schande verdient!«
König Fido von Astoria
Livi hob den Deckel einer schweren Holztruhe. Mit ihren Fingern fuhr sie sanft über den Stoff eines Kleides, das aufwendig bestickt war. Kleine goldfunkelnde Steine verzierten den Saum der Ärmel. »Dieses hier... das werde ich tragen.«
Ihre Zofe nickte zustimmend, nahm das Kleid an sich und trug es in das Ankleidezimmer.
»Ich möchte noch einen Moment alleine sein, Aster.«
Die Elfin sah sie mit warmen Augen an, als wollte sie ihr noch etwas sagen. »Natürlich Prinzessin.« Mit einem Knicks verabschiedete sie sich.
Die Tür fiel ins Schloss und Livi seufzte. Sie tauchte in die Lagen aus Stoff ein und das Gewicht des opulenten Rockes zerrte an ihrer zierlichen Figur. Mit Blick in den bodentiefen Spiegel vor ihr versuchte sie die Schnürung am Rücken zuzuziehen. Die Bänder rutschten aus ihren Fingern.
»Nicht, dass dir die Arme schwach werden, Blümchen.«
Livi zuckte zusammen, im Türrahmen lehnte eine große, schmale Elfin.
»Sordis! Wieso bist du nicht schon im Saal bei den anderen?«, mahnte Livi sie.
»Du scheinst dich auch nicht zu beeilen.« Sordis stand hinter ihr und zurrte an den Bändern ihres Kleides.
»Das reicht!«, japste Livi.
»Goldene Seide… wie passend.« Ihre Schwester grinste schief.
Livi schlug nach Sordis Hand, die ihre weizenblonde Mähne verstrubbelte. Argwöhnisch musterte ihre Schwester das Kleid.
»Terra hat es getragen«, entgegnete Livi.
»Wenn das dein einziges Argument ist, wirst du dich warm anziehen müssen, Blümchen.«
Livis Blick ruhte nachdenklich auf Sordis, bis ihre Augen anfingen zu brennen. »Deine Haare werden das feuchte Wetter in Hillesan sicher nicht gutheißen. Vielleicht sollte ich sie dir gleich abschneiden.« Auf Sordis Lippen lag ein durchtriebenes Grinsen. Um ihr Argument zu bestärken, zog sie ein kleines Messer hervor. Beide lachten. Sordis machte sich an Livis Haaren zu schaffen und zauberte ihr eine ansehnliche Hochsteckfrisur. Livi betrachtete ihr Spiegelbild. Das Kleid war wunderschön und es fühlte sich gut auf ihrer Haut an. Ihre smaragdgrünen Augen wurden für einen Moment glasig, ehe sie blinzelnd aufsah.
»Sordis« Livi lief an ihr vorbei ins Schlafzimmer. Aus ihrer Kommode zog sie einen Brief hervor. »Lese ihn heute Abend.« Livi überreichte ihrer Schwester einen kleinen grünen Umschlag und sah ihr in die fragenden Augen.
»Das gefällt mir nicht.« Sordis Stirn lag in Falten, zögernd nahm sie den Brief und musterte Livis Gesicht gründlich.
»Öffne ihn erst, wenn das Fest zu Ende ist, ja?« Livis Miene rührte sich nicht.
Sordis nickte langsam.
»Und jetzt los mit dir, du musst brav im Ballsaal sitzen, wenn ich komme.« Sie schubste ihre Schwester in Richtung Tür.
Sordis zog sie fest an sich, Livis Beine baumelten in der Luft.
»Na gut, Blümchen. Lass uns, bevor du aufbrichst, ein kräftiges, dunkles Babubier trinken. Wen soll ich unter den Tisch trinken, wenn du fort bist?«, feixte Sordis. Die Luft um sie herum wirbelte auf und der Boden erzitterte.
»Vorsichtig Sordis!«, warnte Livi und ihre Schwester setzte sie wieder ab. Die Luft beruhigte sich, aber das Zittern des Bodens war noch deutlich zu spüren.
In Sordis Augen glänzte eine Träne. Livi strich ihr über die Wange.
»Ein Babubier klingt gut.« Sie stellte sich auf Zehenspitzen und tätschelte Sordis Kopf.
»Stolper nicht über deine linken Füße, Blümchen. Außer, du willst mir eine Freude machen.« Sordis zwinkerte und verschwand durch die Tür. Der Boden hörte augenblicklich auf, sich zu rühren. Livi starrte noch einige Augenblicke hinterher, biss fest die Zähne zusammen und schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. Aus ihrem Schmuckkästchen nahm sie ein funkelndes Smaragd-Amulett, das auf der Rückseite ihren Namen und das Wappen ihres Landes eingraviert hatte. Zärtlich strich Livi mit dem Daumen über das Wappen von Astoria, auf dem Wurzeln eine volle Ähre umschlangen. Sie legte das Zeichen ihrer Herkunft an und ließ den Smaragd im Ausschnitt ihres Kleides verschwinden.
Es klopfte an der Tür. Sie spannte sich an, ignorierte ihr pochendes Herz und verließ ihre Gemächer. Soldaten der Königsgarde ihres Vaters standen ausdruckslos hinter ihrer Zofe. Aster zupfte Livis Kleid zurecht und begutachtete ihr Haar.
»Ihr seid wunderschön, Prinzessin« In den Augen ihrer Zofe sah sie trotz des freundlichen Lächelns auf ihrem Gesicht Trauer funkeln. Livi schwieg. Sie bemühte sich, die Haltung zu wahren und nicht dem Impuls nachzugeben, schluchzend in Asters Arme zu sinken. Anmutig hob Livi ihr Kinn. Der Korridor war prachtvoll geschmückt und man konnte die Harmonie von Geigen und Harfe hören, die das Schloss erfüllte. Die Fröhlichkeit der Musik legte sich wie ein Band um ihr Herz und ließ es bleischwer werden. Bei der Melodie schweiften ihre Gedanken zu den jährlichen Erntefesten ab. Ausgelassene, glückliche Momente mit ihren Schwestern. Livi hielt an den Bildern in ihrem Kopf fest und zwang sich, mit den Wachen hinter ihr im Gleichtakt zu laufen. Sie bogen in den letzten Gang ein, der sie von ihrem zukünftigen Schicksal trennte. Da stand er und lächelte, während ihr Vater ihm auf die Schulter klopfte. Livis Herz schlug heftig gegen ihre Rippen. Plötzlich schien ihr Kleid viel zu eng, die Haare zu fest zurückgebunden und die Schuhe gaben ihr nur schwachen Halt.
»Eure Tochter ist schöner noch als eine Perle.« säuselte der Prinz der Wasserelfen.
Das hallende Lachen ihres Vaters ließ Livis Nackenhaare aufstellen. »Sie gehört ganz dir, Junge. - Komm schon, Kind, ist dir dein Anstand verloren gegangen?« raunte ihr Vater.
Livi knickste kurz und hielt ihren Blick gesenkt.
»Prinz Sian.«
»Prinzessin Liviana.« Ihr Name klang aus seinem Mund wie ein Seufzen. Der Prinz drückte ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Fingerknöchel. Zarte weiße Narben zeichneten sich auf ihrem Handrücken ab. Er griff nach ihrem Kinn und hob es an, damit sie aufsah.
»Halten wir unsere Gäste nicht länger hin. Ich kann es kaum
abwarten, das hier hinter mir zu haben.«
Ein Schauer fuhr über Livis Rücken. Unter Sians karamellfarbener Haut zeichnete sich ein leichter Blauschimmer ab. Er ließ ihr Kinn los und sie senkte den Blick. Auf seinem türkisfarbenen Gewand prangte eine silberne Libelle, das Wappen der Wasserelfen. Sian trug sein königliches Amulett in Form eines aus Saphir geschliffenen Wassertropfens um den Hals. Jeder Träger eines Landessteines galt zugleich als der Erbe des Throns.
Die mächtige Holztür zum Saal wurde von den Königsgardisten geöffnet. »Prinz Sian von Hillesan und Prinzessin Liviana von Astoria«, verkündete man.
Livi zwang sich, ihre Mundwinkel zu heben.
»Was ist das für ein Kleid?«, zischte Sian ihr lächelnd ins Ohr.
Livi zuckte kaum merklich zusammen. »Ein goldenes«, antwortete sie ihm ruhig. Mit den Augen überflog sie den Saal. Die Gäste verbeugten sich ehrfürchtig vor ihnen. Mit festem Griff zog der Prinz sie hinter sich her, um den mit weißen Rosen geschmückten Ballsaal zu durchqueren. Höflich nickte sie den Anwesenden zu, die meisten Gesichter waren Livi fremd. Kalter Schweiß rann Livi den Nacken hinunter. Die Luft erfüllte schwerer Rosenduft. Ein weißer Haarschopf blitze in der Menge hervor. Mit einem Tablett in der Hand stand ihr Freund Vito neben einer Traube von Gästen. Als er ihren Blick bemerkte, zwinkerte er ihr kurz zu. Livi tat es im gleich und sie bekam wieder besser Luft. An Sians Seite begrüßten sie Mitglieder mächtiger Familien aus dem gesamten Elfenreich. Livi vergaß die Namen, sobald sie ihr gesagt wurden. Ilipanda, Prinz von Rosalis, zusammen mit ihrer ältesten Schwester Terra, waren die nächsten.
Terra hauchte Livi einen Kuss auf jede Wange und ihre rechte Hand.
»Hallo Terra« Livi blickte in grüne Augen, die ihren eigenen unglaublich ähnlich waren.
»Hallo, kleine Schwester, wir würden uns freuen, euch bald bei uns in Mytra als Gäste begrüßen zu dürfen.« Teras weiche Stimme beruhigte Livi ein wenig.
»Das wäre schön.«, antwortete Livi leise und griff nach Terras Arm. Ehe sie noch ein Wort herausbrachte, zog Sian sie weiter zu den Tischen. Ihr Vater, der König von Astoria, erhob sich und es kehrte augenblicklich Ruhe im Saal ein.
»300 Jahre wachsen unsere Elflinge heran, um sich den Stand eines ehrenvollen und erwachsenen Elfen zu verdienen. Liviana gibt das Erbe des Throns an ihre jüngere Schwester ab, so wie es die Tradition unseres Landes seit jeher war, bis ein männlicher Erbe das Licht unserer wertvollen Heimat erblickt. Stärke, Macht und Frieden zeichnen das Bündnis zu unserem geschätzten Nachbarland Hillesan aus. Und wie könnten wir das besser feiern als mit einem Blutsband unserer Länder.« Er hob seinen mit Wurzeln umrankten Kelch in die Höhe und die Gäste jubelten und klatschten lautstark. Livis Vater streifte ihren Blick, dann leerte er den Kelch.
»Esst und trinkt! Die Blutzeremonie wird danach von unserem Freund König Yuval von Hillesan und Magister Mitov vorgenommen. Lang währe der Frieden!«, rief Livis Vater, König Fido in die Menge.
»Auf Astoria! Auf Hillesan!«, riefen die Gäste.
Sian setzte sich neben Livi auf einen der massiven Holzstühle, die inmitten der feierlichen Tafel platziert waren. Sordis lächelte ihr über den Teller gebeugt zu und schnitt eine Grimasse, Livi lachte in sich hinein. Ein Kopf fuhr zu ihr herum und sie spürte den Blick ihrer Mutter Awilla wie Nadeln auf ihrer Haut. Auf ihrem Gesicht war nicht zu erkennen, ob es sie bewegte, dass heute ein weiteres ihrer Kinder das Schloss für immer verlassen würde. Die Diener servierten mit Zimt marinierte Zitronenscheiben, Beerenmouse, seltsam riechende Suppen aus Hillesan und Speisen der anderen Elfenreiche. Sian stieß sie an der Schulter an. Livis Kreuz versteifte sich. Er schöpfte ihr etwas von der Suppe auf ihren Teller. »Danke, Prinz Sian«, sagte sie höflich und tauchte mit dem Löffel in die zähe Flüssigkeit. Ihr Magen verknotete sich und sie starrte unglücklich auf die strahlend gelben Zitronenscheiben auf dem Tisch. Im Augenwinkel tauchte schneeweißes Haar auf und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Livi suchte nach Vitos Blick, der dabei war, dem König der Wasserelfen Blaubeerwein einzuschenken. Jetzt machte er eine ungeschickte Bewegung und blieb mit dem Fuß an Prinz Sians Stuhlbein hängen. Der Wein ergoss sich über Livis goldenes Kleid und färbte es dunkelviolett.
»Elender Eiself! Eure Rasse ist wohl zu gar nichts nutze. Verschwinde!«, Sians Gesichtsfarbe färbte sich zornrot.
Livi erhob sich von ihrem Platz und stemmte ihre Hände in die Hüfte. Die Gäste verfolgten entsetzt das Schauspiel und Getuschel wurde laut. Vito verbeugte sich ehrfurchtsvoll und murmelte eine Entschuldigung, während Sian weiter tobte.
»Bitte entschuldigt mich. Ich möchte mich gerne umkleiden.«, sprach Livi zu Sian und den Gästen gerichtet.
»Damit sind wir immerhin dieses abstoßende Kleid los. Geh mir aus den Augen und beeile dich«, zischte er ihr zu und beäugte abschätzig ihr ruiniertes Kleid. Die Musik nahm ihr Spiel wieder auf. Livi verließ erhobenen Hauptes den Ballsaal durch eine der Seitentüren. Sie hastete die Treppen hinauf durch die Gänge in ihr Zimmer. Niemand folgte ihr. Kaum schloss sich die Tür hinter ihr, zerrte sie hektisch an ihrem Kleid. Der Stoff dehnte sich kein bisschen. Rasch holte sie eine kleine Schere aus ihrer Frisierkommode und versuchte, die Bänder am Rücken durchzuschneiden. Erleichtert nahm sie wahr, wie der Druck von ihren Rippen nachließ. Sie warf das Kleid zu Boden und wühlte in einer Holztruhe nach einem Stoffbeutel, der unter alten Decken begraben war. Den Inhalt schüttete sie in einem Haufen vor ihren Füßen aus. Die Stoffhose fühlte sich ungewohnt an und in dem Leinenhemd schien sie zu ertrinken. Viermal klopfte es an der Zimmertür. Livi schlich hinüber, lauschte und öffnete sie.
»Na, nass geworden?« Leuchtend blaue Augen strahlten Livi an. Vito, der »ungeschickte« Eiself, huschte an ihr vorbei ins Zimmer.
»Es hat geklappt!« Livi fiel ihm um den Hals. »Ich hoffe, du wirst nicht bestraft.«
»Sorgen werden überbewertet, Prinzessin. Beim wilden Eismeer, ich könnte schwören, dass aus Sians Ohren Wasserdampf kam.« Vito lächelte.
»Ich werde dir dafür mein Leben lang dankbar sein.« flüsterte Livi.
»Erst einmal müssen wir es lebend hier herausschaffen. Zieh den Mantel an, dann siehst du etwas weniger winzig aus als in diesem Hemd.« Er schmunzelte, als er an ihr herabschaute.
Livi schlüpfte in den schweren Mantel. »Und was nun?« Sie strich mit den Händen über den groben Stoff.
»Mit dem Efeuextrakt im Blaubeerwein würde selbst das fetteste Babu in Astoria trunken werden. Wir haben etwas Zeit. Bleib hinter mir und versuche, deine Tollpatschigkeit zu zügeln.«
Vito trat an die Tür, öffnete sie einen Spalt weit, lugte hindurch und winkte Livi, hinter ihm herzuschleichen. Sie ließen ein paar schmale, leere Gänge hinter sich, die von Dienern und Gardisten genutzt wurden. Vom Klang der Musik war jetzt nicht mehr zu hören. Vor einer Wendeltreppe machte Vito Halt. »Warte hier.«
Nahezu lautlos lief er die schmalen Stufen hinab und schon war nichts mehr von ihm zu sehen. Gelächter hallte durch den Gang. Livi gefror das Blut in den Adern. Ohne darüber nachzudenken, machte sie einen Schritt rückwärts ins Dunkel, den Gang vor sich im Blick. Ihr nächster Schritt landete im Leeren und sie verlor den Halt. Ein kurzer Aufschrei entglitt ihrer Kehle, während sie reflexartig Boden unter den Füßen suchte. Eine Hand legte sich auf ihren Mund und gleichzeitig stemmte jemand sein Gewicht gegen ihren Körper, um ihren Fall zu bremsen und ihr wieder Halt zu geben.
»Leise! Prinzessin, ich habe dich. Ist alles in Ordnung?« Vitos vertraute Stimme drang an ihr Ohr. Erleichterung durchströmte sie.
Livi nickte und flüsterte: »Aber wir bekommen Besuch.«
»Oh heiliger Eisbär...« Vito zog sie ein Stück die Treppe hinunter.
»Der Blaubeerwein zeigt seine Wirkung- auch bei den Wachen. Der Weg unten ist frei. Wir müssen es nur zur Eingangstür der Küche schaffen«, flüsterte Vito.
Sie verharrten so lange auf den unteren Treppenstufen, bis das Gelächter der Wachen an ihnen vorbeizogen war.
»Los!« Vito griff nach ihrer Hand und rannte. Livi hörte ihr pochendes Herz. Die ungewohnte Stille in diesem Teil des Schlosses beunruhigte Livi. Sie warteten kurz vor ihrem Ziel. Niemand war zu sehen. Vor ihnen lag eine unscheinbare Tür. Vito drückte die Türklinge hinunter. Sie öffnete sich einen Spalt, stockte aber sofort. Er presste sein Gewicht dagegen, Livi half ihm.
»Mist! Die Tür wurde von außen zugestellt.« Hektisch wanderte sein Blick durch die Gänge.
Livi zitterte am ganzen Körper und ließ die Schultern hängen: »Wir müssten durch das halbe Schloss laufen, um zum nächsten Boteneingang zu kommen. Ich kann noch zurück.«
»Nein!«, entgegnete Vito mit fester Stimme und fuhr sich durch sein schneeweißes Haar.
»Nein?«
»Vertrau mir Prinzessin.« Seine Hände umfingen ihr Gesicht, mit dem Daumen strich er über ihre Wange.
»Ok.« Livi biss sich auf die Lippe.
»Setz deine Kapuze auf.« Vito nahm sie bei der Hand und steuerte auf die Eingangshalle zu. Panisch krallte sie ihre Finger in seinen Oberarm, um ihn aufzuhalten.
»Das Haupttor? Vito, das ist völlig verrückt!«, wisperte Livi verzweifelt.
»Es ist der schnellste Weg.« Ein leichtes Grinsen umspielte seine Lippen. Er zog sie mit sich den Gang entlang in Richtung der Eingangshalle. Vito drückte die Prinzessin eng an sich und lugte hinter dem Türrahmen hervor, der zur Küche führte. Livi spürte seinen kräftigen Herzschlag deutlich, verräterisch schnell wie ihr eigener. Sie huschten zu einer der breiten, kunstvoll verzierten Holz-Säulen, die das Innere der Halle schmückten. Kälte kroch an Livi hinauf und sie sah zu ihren Füßen.
»Sie werden wissen, dass du…«
Vito legte ihr eine Hand auf die Wange und lächelte. Eine hauchdünne Eisschicht breitete sich aus und ließ den Boden glitzern.
Im nächsten Moment hingen Livis Beine in der Luft. Vito hatte sie fest in seinen Armen und rannte mitten durch die Eingangshalle über das Eis. Sie hörte Wachen rufen und ein lautes Klirren. Eiszapfen fielen von der Decke und zerschellten auf dem gefrorenen Boden. Um sie herum bildete sich ein schaurig kalter Nebel. Vitos Füße rutschten über das Eis und sie kamen schlitternd vor dem Haupttor zum Stehen. Er zog mit aller Kraft das massive Haupttor einen Spalt weit auf und sie schlüpften hindurch. Livi zog die Kapuze ihres Mantels tiefer ins Gesicht.
Bevor die Wachen vor dem Tor einen Ton von sich geben konnten, ließ Vito einen Schauer an Eispfeilen auf sie regnen. Dadurch galt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Abwehren der Pfeile. Livis Atem stockte.
»Renn!« Er nahm ihre Hand fest in seine und zog sie mit sich an den Wachen vorbei. Hinter ihnen wurde die Luft dicht und nebelig.
Halbhohe Mauern umgaben den äußeren Schlosshof. Auf dem Boden zeichnete sich Frost ab. Ihr Atem stieg wie weißer Rauch in die Höhe. Nach Luft japsend brach Livi auf einem Heuballen zusammen.
»Wir haben es bis hier hingeschafft. Unglaublich!«, keuchte Vito und öffnete die Tür zu einem kleinen Stall.
»Du hast die Wachen doch nicht umgebracht, oder?«, fragte Livi noch immer nach Luft ringend.
»Keine Angst, ich habe ihnen nicht unnötig geschadet.«
»Sordis hätte alles für dieses Spektakel gegeben«, lachte Livi und ließ sich von Vitos Hand auf die Beine ziehen. Er holte ein kleines gesatteltes Pony aus dem Stall. »Schon gut mein Lieber. Wir haben es nicht schneller geschafft.« Vito wuschelte durch die weiße Mähne und hielt dem Pony eine Rübe hin. »Frost ist ein Equonix-Pony, ein sehr treues Wesen.« Er zog ein Messer aus seinem Gürtel und ließ es in einer der Satteltaschen verschwinden. »Nur für den Fall…«
»Warte… Vito. Du, du kommst nicht mit?« Livi erstarrte.
Vito führte das Pony auf den erdigen Weg vor der Stallung und sah sich wachsam in alle Richtungen um.
»Mein Freund Jasim kann dir Unterschlupf gewähren. Ich habe heute Morgen einen Vogel zu ihm gesendet. Frost führt dich nach Pardis. Ein Equonix findet immer zurück nach Hause. Jasim erwartet dich am Tag des Sternenfests.« Vito streichelte über Frosts weißes Fell und hielt den Blick gesenkt.
»Komm mit mir, bitte«, flüsterte sie verzweifelt.
»Das war nie Teil des Plans. Ich werde verhindern, dass dir jemand folgt.« Sein Blick ruhte auf ihr. »Und solange du in Sicherheit bist, wird mir keine Strafe etwas anhaben.«
Vom Turm des Schlosses ertönte das astorianische Kriegshorn. Sie fuhren zusammen. Vito hob Livi auf den Rücken des Equonix.
»Lass dich nicht von meinem Vater finden. Versprich es mir«, flehte Livi verzweifelt.
Vito beugte sich zu Livi hin und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Ihre Sicht verschwamm, sie blinzelte die Tränen weg. Zitternd lagen ihre Hände in seinen.
»Bis die Sterne uns wieder vereinen, Prinzessin.« Er küsste sanft ihre Hand und ließ sie los.
Frost setzte sich augenblicklich in Bewegung und Livi hielt sich zitternd an den Zügeln fest. Als sie über ihre Schulter blickte, war Vito verschwunden. Frost ritt schneller als die Babus, die sich auf dem großen Feld vor dem Schloss gegenseitig jagten. Der raue Wind nahm ihre Tränen mit sich.