Читать книгу Geliebt wird anders - Kadhira del Torro - Страница 4
2. Kapitel
ОглавлениеAufstehen, Duschen, Joggen. So sahen die ersten zwei Stunden eines jeden Tages in Nicoles Leben aus. Bislang gab es kein Ereignis, das dieses Ritual gestört hätte. Sie lief immer die gleiche Strecke, im gleichen Tempo, traf die gleichen Leute und grüßte freundlich. Sogar die Männer. Normalerweise hatte sie beim Joggen ausgesprochen gute Laune und genoss die brodelnde Ruhe, wie sie nur eine Großstadt hervorbringen konnte, die kühle, frische Luft und die Tatsache, dass sie gute Musik hörte und kein Telefon ihre ausschweifenden Gedanken störte. Diese Stunde gehörte allein ihr. Sie teilte sie mit niemandem, gab sie nicht auf, auch wenn es ihr manchmal schwer fiel aus dem Bett zu steigen, morgens um halb sechs.
Nicole sog die Luft tief in ihre Lungen, lief langsam, immer wieder unterbrochen durch Dehnübungen, mit denen sie bereits im Badezimmer angefangen hatte, um die Muskeln aufzuwärmen. Im Park hatte sie ihre Betriebstemperatur erreicht und steigerte das Tempo. An der Straßenecke stand, wie immer, ein Streifenwagen. Der Officer lehnte an der Motorhaube, hob grüßend die Hand und trank seinen Kaffee. Er ignorierte die Tatsache, dass Rico frei herumlief, was in New York ja schon grundsätzlich verboten war. Aber wen interessierte das?
Obwohl Nicole entspannt war und die Kopfhörer sie vom Rest der Welt abschnitten, ihr Blick stur auf den Boden gerichtet war und sich nur selten anhob, registrierte sie jede Veränderung. Und heute Morgen war etwas anders. Irgendetwas störte Nicole. Sie lief langsamer, schob den Kopfhörer von den Ohren und stemmte die Hände in die Hüften. Sie suchte die Umgebung sorgfältig ab, sah einen Jogger, der gut ein paar hundert Meter entfernt war und sich durch seine dunkle Kleidung kaum vom Hintergrund der Bäume abhob. Nur seine Bewegungen ließen ihn sichtbar werden. Rico stand mitten auf der Wiese, schnupperte nicht wie sonst, sondern sah in die Richtung, in die Nicole laufen wollte. Er stand stocksteif, die Ohren aufgestellt, den kleinen Stummel hoch erhoben und das Maul geschlossen. Er lauschte, produzierte so keine Atemgeräusche, die interessante Geräusche überdecken könnten. Und dann knurrte er. Tief aus seiner Brust schien das Grollen zu kommen und war für Nicole selbst auf diese Entfernung zu hören. Er ging einen Schritt vor, noch einen, das Grollen wurde lauter und klang jetzt richtig bedrohlich. Nicoles Blick wanderte in die Richtung, in die Rico sah und tastete die dichten Büsche, Bänke und Wiesen ab, konnte aber nichts entdecken. Aber irgendetwas musste da sein, sonst würde Rico sich nicht so benehmen. Sie ging vor, ganz langsam, stellte den CD-Player an ihrer Hüfte aus und lauschte jetzt ebenfalls. Hier fehlte eindeutig was. Wieder sah sie sich um und versuchte sich daran zu erinnern, wie es sonst war. Samstags liefen nicht alle, aber einer schon. Der Mann mit der roten Mütze, die aussah wie die Badekappe seiner Mutter. Dazu trug er gewöhnlich schwarze Hosen, die viel zu kurz waren und seine behaarten Beine entblößten. Er war schon älter, hatte Markenklamotten an und eine goldene Uhr am Handgelenk. Vielleicht ein Manager. Ein bekanntes Gesicht, auch wenn sie nicht wusste, wo sie es schon mal gesehen hatte. Vielleicht kannte sie es auch nur vom Laufen. Wer weiß? Sie hätten sich vor ein paar Minuten treffen müssen. Hatten sie aber nicht.
Nicole schnippte mit dem Finger und ging langsam vorwärts. Rico kam zu ihr, lief aber sofort wieder ein Stück vor. Untypisch. Er verweigerte das Kommando bei Fuß. Und nicht nur das. Plötzlich brach das Knurren ab und wurde zu einem wütenden, tiefen Bellen, laut und deutlich. Dann sprang er förmlich vor, lief in der ihm eigenen Art vorwärts und direkt hinein in die Büsche, brach sich seinen Weg mit Gewalt durch die starken, biegsamen Äste.
Nicole rief nach ihm, tastete nach dem Handy in ihrer Jacke und bekam in ihrer plötzlichen Angst kaum den Reißverschluss auf. Sie ging weiter vor, zog das Telefon raus und wählte den Notruf. Jemand schrie laut und schmerzerfüllt auf. Ricos Bellen endete, war jetzt ein tiefes Knurren, gemischt mit dem Keuchen eines Mannes. Nicole hörte ein Klatschen, rief wieder nach dem Dobermann und wieder kam er nicht. Dann brachen Zweige. Jemand bahnte sich seinen Weg durch das Grün. Nicole bekam noch mehr Angst. Sie lief zur Seite und versteckte sich hinter einer Bank. Sie flüsterte ins Telefon, beschrieb hektisch, was gerade passierte, und gab auch eine Beschreibung des Mannes durch, der aus den Büschen gestürmt kam, mehr stolperte als lief und ein paar Meter weiter zu Boden fiel. Er war jung, sah gehetzt aus, der Schrecken stand ihm im Gesicht – und die Angst. Wieder ein Schrei aus den Büschen, Sirenen waren zu hören, der Mann rappelte sich auf, war nur ein paar Meter entfernt und würde sie sehen, wenn er den Kopf ein wenig drehte. Aber das tat er nicht. Er sah nur kurz zurück, lief weiter, quer über den Rasen. Er hatte etwas verloren. Es lag auf dem Weg im Dreck, neben einer Pfütze und glitzerte in der noch schwachen Sonne. Es war die goldene Uhr des Joggers, den sie vermisst hatte. Im Gebüsch wurde es still. Dann raschelte es wieder, Ricos heiseres Bellen war zu hören. Er flog über den letzten kleinen Busch direkt auf den Weg, fing sich und lief vorwärts. Seine schlanke Schnauze war klebrig und glitzerte feucht. Er lief weiter, beachtete sie gar nicht, rannte quer über den Rasen auf den Mann zu, der den Hund hinter sich entdeckte. Seine rechte Hand verschwand in der Jacke und zerrte etwas hervor. Nicole sah genauer hin, kniff die Augen zusammen und erkannte, was er in der Hand hielt. Sie sprang auf, schrie immer wieder den Namen ihres Hundes und fühlte die Angst in sich, die Panik. Rico, down, immer und immer wieder. Die Tränen kämpften sich nach oben und liefen an ihren Wangen wieder herunter.
Rico erreichte den Mann. Er stoppte nicht, sondern sprang an die Brust des Mannes und warf ihn nach hinten. Er biss zu, hielt den Unterarm des Mannes fest in seinem Fang und zog ihn nach unten, kämpfte und knurrte, ohne Rücksicht auf die Tritte, die ihn schmerzhaft trafen. Für einen Moment waren die beiden ein Knäuel und Nicole konnte nicht erkennen, was passierte. Sie ging vorwärts, schüttelte den Kopf und rief nicht mehr, weil ihr die Angst die Kehle zuschnürte.
Der Schuss hallte als mehrfaches Echo von den Wänden aus Bäumen wieder, wurde mit jedem Echo leiser. Nicht aber Ricos Jaulen, die auf- und abschwellenden Töne, als er verletzt zu Boden ging und den Mann freigab. Nicole lief vorwärts. „Nein“, schrie sie, rannte jetzt und sah, dass sich der Mann von Rico fortbewegte. Sie sah das Zucken der rotbraunen Pfoten, wie der Dobermann sich mühsam hoch kämpfte, dem Mann hinterher kroch und noch den Fuß erwischte.
Noch ein Schuss.
Die Sirenen wurden lauter.
Das Jaulen endete und Rico lag still.
Nicole schlug die Hände vor den Mund. Die Tränen nahmen ihr die Sicht, ließen alles verschwimmen. Noch immer hatte sie das Jaulen im Ohr, als wollte es nie enden. Schritt für Schritt ging sie vorwärts, hörte die Rufe hinter sich, die klatschenden Schritte auf dem matschigen Rasen. Sie sah die Polizisten an sich vorbeilaufen, wie sie sich dem Mann am Boden näherten. Er hatte die Hände erhoben, die Waffe weggeworfen. Ein Beamter legte ihm Handschellen an, ignorierte den Schmerzensschrei des Mannes, dessen Unterarm blutig war, der Jackenärmel von Ricos scharfen Zähnen zerfetzt.
Ein anderer Officer kniete neben Rico nieder, streichelte über die muskulöse Brust, die sich langsam und unter rasselnden Geräuschen hob und senkte, mit jedem Atemzug einen Blutschwall entließ. Der Officer hob den Kopf und sah Nicole an. Er ging ihr entgegen, hielt die Arme ausgebreitet und schüttelte den Kopf. „Ist das ihr Hund?“
Nicole nickte langsam und sah über seine Schulter auf den dunklen Körper am Boden. Ihr Verstand weigerte sich zu begreifen. Ihr Herz noch viel mehr.
„Gehen Sie nicht hin.“
Sie sah den Mann mit brennenden Augen an. „Aber ... er lebt doch ... Ich muss zu ihm ...“
Wieder schüttelte er den Kopf, sah seinen Kollegen hilfesuchend an. Es war der Beamte vom Parkeingang. „Warten Sie hier“, meinte er und ging zu Rico. Er kniete sich neben seinen Kopf, streichelte darüber und redete mit ihm. Dann kam er zurück. Sein Gesicht war eine einzige Maske, starr und leichenblass. „Es tut mir leid“, meinte er, klang heiser und räusperte sich. „Er wurde zwei Mal getroffen. Das überlebt er nicht.“
„Lassen Sie mich zu ihm.“
„Moment!“ Er zog seine Jacke aus, ging vor und legte sie über den blutigen Körper des Hundes. Er blieb bei Nicole, als sie sich auf den Boden kniete und Ricos Kopf in ihre Hände nahm, ihr Gesicht an seine Schnauze drückte, redete, flüsterte, weinte und streichelte. Sie hörte das pfeifende Geräusch seiner Lungen, spürte die warme Zunge an ihrem Handgelenk und sah den Blick seiner dunkelbraunen, sanften Rehaugen.
Ein Schluchzen schüttelte ihren Körper durch. „Tun Sie bitte was! Er soll doch nicht leiden. Das hat er nicht verdient!“, flüsterte sie und sah den Officer hilfesuchend an. „Er darf nicht leiden!“, flüsterte sie wieder, vergrub ihr Gesicht in dem dunklen Fell und weinte.
Der Officer kämpfte mit sich. Ein Kollege kam, flüsterte ihm etwas ins Ohr und hielt die Hand fest, die die Waffe ziehen wollte.
Nicole sah es, sah flehend von einem zum anderen. „Lassen Sie ihn bitte nicht leiden“, wiederholte sie.
Der Officer schob die Hand seines Kollegen weg, zog Nicole hoch und schob sie fort, seinem Kollegen in die Arme. „Gehen Sie.“
Nicole wehrte sich nicht. Sie ließ sich wegführen und starrte stur geradeaus auf den Rasen. Ein einzelner Schuss zerriss die Stille und sie zuckte heftig zusammen. Zwei torkelnde Schritte weiter senkte sich das dunkle Tuch der Ohnmacht über sie.
Das Erwachen kam plötzlich. Aus Dunkel wurde hell, stach in ihre Augen, obwohl die Lider fest geschlossen waren. Dann kamen die Kopfschmerzen, zentriert auf nur einen einzigen Punkt am oberen Hinterkopf, als hätte jemand eine Stricknadel hineingepiekst. Die Übelkeit war erst gar nicht so schlimm und tat so, als ob sie gleich wieder verschwinden würde. Tat sie aber nicht. Kaum hatte Nicole sich dazu überreden können die Augen zu öffnen und ihren maßlos schlappen Körper aus den weichen Kissen zu pulen, da schoss ein Kloß ihre Kehle hoch, wurde vom Kehlkopf gestoppt und klammerte sich daran, als hinge sein Leben davon ab. Es folgte ein leichtes Würgen, ganz hinten auf der Zunge, die leicht zuckte und den bitteren, leicht brennenden Geschmack bereits Vorkosten durfte. Das war das absolut Letzte, was Nicole jetzt gebrauchen konnte. Das fehlte ihr noch, dass sie hier ins Bett kotzte. Der typische Krankenhausgeruch mogelte sich durch ihre Nase, den Riechnerv hoch und setzte sich irgendwo zwischen ihren grauen Zellen fest, wurde lokalisiert, als eklig eingestuft und das gab Nicole den Rest. Sie ließ sich einfach aus dem Bett kippen, stützte sich mit den Händen überall ab, wo sie hingreifen konnte und hangelte sich so zielstrebig und müden Fußes Richtung Toilettentür. Ihre Augen hatten sich inzwischen entschlossen, jedes für sich ein Bild zu zeigen, was bei ihrem schwankenden Gang nicht sehr nett war und der Übelkeit entgegen kam. Also schloss sie ein Auge und schaffte es. Die Tür aufmachen und sich nach vorne fallen zu lassen war eine Bewegung. Beinahe hätte sie den Toilettendeckel nicht rechtzeitig hoch bekommen und die ganze braune, übel schmeckende Soße hätte sich auf das weiße Plastik ergossen. So aber traf sie zielsicher, wurde von ihren eigenen Würgegeräuschen noch angespornt und ließ raus, was nicht länger bei ihr bleiben wollte. Immer und immer wieder musste sie Würgen und Husten, sog die Luft gierig und mit pfeifenden Geräuschen ein und ließ den Tränen freien Lauf. Der Erstickungstod rückte in weite Ferne, als der Magen leer und die Lunge mit übelriechender Luft gefüllt war. Nicole setzte sich auf den Fußboden, eine Hand am Toilettenbecken und bereit, sich sofort wieder darüber zu werfen, sollte es notwendig werden. Die andere Hand griff nach dem Toilettenpapier, riss einige Streifen ab und wischte über ihren Mund, ein weiterer Streifen trocknete die Tränen, die über ihre Wangen kullerten.
„Sie sollten doch im Bett bleiben“, erklang eine freundliche, aber bestimmte Stimme von der Tür.
Nicole öffnete die Augen, drehte ein wenig den Kopf und sah den Witzbold an. „Sie hätten mir einen Zettel hinlegen sollen, dann hätte ich selbstverständlich ins Bett gekotzt.“ Ihre Stimme klang schwach und etwas rau. Das Sprechen bereitete ihr Mühe und das Kratzen in ihrem gepeinigten Hals wurde schlimmer.
„Kommen Sie. Wenn Sie hier sitzen bleiben kommt noch eine Blasenentzündung dazu.“ Er griff nach ihrem Oberarm und wollte ihr auf die Beine helfen.
„Nehmen Sie die Finger weg“, fauchte Nicole und rupfte ihren Arm aus seiner Hand. „Ich kann alleine aufstehen.“ Und das versuchte sie dann auch. Ein Seitenblick zeige ihr, dass sich der weiß gekleidete Mann in der Tür nicht über die Art und Weise amüsierte, in der sie in die aufrechte Haltung wechselte.
Er beobachtete interessiert die Verrenkungen und diversen Fehlversuche, bis sie stand, machte dann aber Platz und wies mit einer einladenden Geste ins Krankenzimmer. „Nur zu. Wenn Sie es bis zum Bett schaffen, können Sie heute noch nach Hause gehen.“
„Pah“, machte Nicole, richtete sich kerzengerade auf und marschierte los. Sofort begann das Zimmer zu schwanken. Das hieß, das Bad in die eine Richtung und das Krankenzimmer in die andere. Sie hatte das Gefühl, als befände sich jedes ihrer Augen auf einem anderen Schiff mit hohem Seegang. Noch ein Schritt und sie geriet in Untiefen. Die Zimmer schwankten nicht mehr, jetzt kreisten sie. Nicole schloss die Augen, streckte die Hände aus und suchte die Wand. Wenigstens eine Wand, an der sie sich abstützen konnte. Sie fand keine. Ihr Gleichgewichtsorgan strich die Segel und verriet ihr nicht mal mehr, in welchem Winkel sie gen Fußboden flog – und mit welcher Geschwindigkeit. Aber noch bevor sie als Höhepunkt des Tages den Aufschlag genießen durfte, wurde sie aufgefangen. Plötzlich waren zwei starke Arme da, griffen fest zu und sie verlor den Boden unter den Füßen.
„Frauen“, knurrte ihr Besucher und trug sie zum Bett.
Nicole fühlte die kalten Laken unter sich, das flauschige Kopfkissen und die Bettdecke, die er über sie zog. Sie musste noch etwas warten, bevor sie sich traute, die Augen erneut zu öffnen. Sie starrte stur an die weiße Decke, wartete noch einen Moment und drehte langsam den Kopf. Mister Ich-wusste-es-doch-vorher stand neben ihrem Bett, ein Klemmbrett mit ihrer Krankenakte in der Armbeuge, und sah sie prüfend an. „Wieder besser?“
„Sind Sie Arzt oder Pfleger?“
Er hielt Klemmbrett und Stethoskop hoch. „Was denken Sie?“
„Nur weil Sie ein Stethoskop haben, heißt das noch lange nicht, dass Sie auch damit umgehen können.“
„Ich bin Dr. Andrew Cooper und übe seit Jahren mit dem Stethoskop. Und soll ich Ihnen was verraten? Ich bin kurz davor rauszufinden, was man damit alles machen kann. Und glauben Sie mir, ich habe schon einiges damit ausprobiert.“ Er sah es einen Augenblick an, so als fiele ihm gerade jetzt eine ziemlich abstrakte Idee ein, die er schon hinter sich hatte.
Aber Nicole hatte momentan keinen Sinn für Humor und konnte sich nicht mal zu einem ganz kleinen Lächeln hinreißen lassen. „Warum bin ich hier?“
„Sie sind ohnmächtig geworden, mit dem Kopf auf einen Stein gefallen und haben sich eine nette Gehirnerschütterung und eine kleine Platzwunde an der Stirn zugezogen. Die Wunde haben wir mit zwei Stichen genäht, aber an der Gehirnerschütterung dürfen Sie sich noch ein paar Tage erfreuen.“
Nicoles Hand wühlte sich unter der Bettdecke vor, tastete sich an ihrem Gesicht hoch und erkundete die Stirn. Sie war bandagiert. „Na Klasse“, seufzte sie. „Dann werde ich ja ein hübsches Andenken an ...“ Sie brach ab und sah den blonden Mann neben sich an. „Warum bin ich ohnmächtig geworden?“
Er runzelte die Stirn und setzte sich auf die Bettkante. „Woran können Sie sich noch erinnern?“
„Zuerst einmal daran, dass irgendjemand vor sehr langer Zeit Stühle erfunden hat“, schnauzte sie und boxte gegen seinen Oberarm. „Warum versuchen Sie nicht mal einen?“
„Danke, ich sitze bequem. Also?“
„Ich hatte gestern Abend ein Geschäftsessen mit einem Partner“, meinte sie langsam und kramte weiter in den chaotischen Resten ihres Gehirns. „Dann bin ich nach Hause gefahren und habe noch gearbeitet.“ Sie schwieg einen Moment und runzelte die Stirn, was weh tat und sie zu einem leisen „Au“ verleitete. „Heute Morgen war ich bestimmt joggen“, erklärte sie dann.
„Bestimmt? Glauben Sie das oder wissen Sie es genau?“
„Ich gehe jeden Morgen Joggen“, antwortete sie gereizt.
„Sie wissen es also nicht mehr“, meinte er und notierte etwas in ihrer Akte.
„Hey, was schreiben Sie da?“
„Das Sie Erinnerungslücken haben.“
„Habe ich nicht“, widersprach sie heftig. „Ich bin doch nicht verrückt, nur weil ich mich nicht erinnern kann, ob ich heute Morgen gejoggt bin. Die Erinnerung kommt schon wieder.“
„Das hat nichts mit verrückt zu tun.“ Er ließ das Klemmbrett sinken und sah sie ernst an. „Was nicht heißen soll, dass Sie nicht wirklich auf eine bestimmte Art und Weise verrückt sind.“
„Was soll das denn schon wieder heißen?“
„Sie sind Nicole Leah Baker. Auch bekannt unter dem Spitznamen Iron Virgin. Die eiserne Jungfrau.“
Sie kniff die Augen etwas zusammen. „Na und?“
„Und wer außer mir weiß, dass Sie diesen Titel zu Unrecht tragen? Dr. Julius Hartmann?“
Ihre Lippen formten den Namen ihres Hausarztes. Kein Laut drang dabei aus ihrem Mund. Ihr Gesicht fühlte sich plötzlich kalt an, blutleer. Sie schluckte und versuchte so den plötzlichen Druck auf den Ohren weg zu bekommen. Sie schüttelte den Kopf, erst langsam, dann heftiger, ihre Augen ruhten unverwandt auf dem Arzt. „Nein, ... das stimmt nicht.“ Sie zerrte an der Bettdecke, wollte sie wegschieben, aufstehen und nach Hause gehen. Nicht eine Minute länger würde sie hier bleiben. „Sie müssen mich verwechseln“, meinte sie und rupfte wieder an der Bettdecke. Aber er hielt sie fest, drückte die Decke fest auf die Matratze neben ihrem Körper und war ihr plötzlich so nah, dass sie zurückwich. Ihre Hände fuhren zu ihrem Hals, rieben über die Oberarme und wollten die Gänsehaut wegstreichen, die deutlich sichtbar war. Sie fröstelte, wiederholte leise „Das stimmt nicht“ und schüttelte dabei immer wieder den Kopf.
„Sie haben es mir vor drei Tagen erzählt.“
„Was?“
„Ron Simeons, der damalige Freund Ihres Stiefbruders. Sie waren vierzehn, als er betrunken zu Ihnen nach Hause kam und ...“
„Hören Sie auf! Hören Sie sofort auf!“, rief Nicole und presste die Hände auf die Ohren. Sie wollte nichts hören von dem, was er sagte, wollte sich nicht daran erinnern. Obwohl sie jede Nacht wieder davon träumte, wie er über sie hergefallen war, sie vergewaltigt hatte, sie zurück ließ, schmutzig, verängstigt und verletzt. Der Hass kam aber erst viel später, entwickelte sich über mehrere Monate, in denen sie vergessen wollte und allen aus dem Weg ging. Und dann kam die Nachricht, dass Ron Simeons bei einem Autounfall verunglückt war. Sie empfand es als eine gerechte Strafe. Aber seitdem hasste sie die Männer. Alle! Sie konnte es nicht ertragen von ihnen berührt zu werden und ekelte sich vor ihnen. Sie hatte lange Jahre gebraucht, um überhaupt wieder tanzen zu können und ihre Abscheu soweit unter Kontrolle zu haben, dass sie sich nicht bei der geringsten Berührung übergeben musste. Ihre Familie hatte keine Ahnung. Sie hatte ihnen nichts erzählt. Sie hatte sich nie jemandem anvertraut. Und Ron hatte ihr Geheimnis mit ins Grab genommen.
„Ich habe nach Ihrer Geschichte mit Dr. Hartmann telefoniert. Er erzählte mir, dass er seinerzeit Schürfwunden, Hämatome, Kratzer, ein blaues Auge und eine Gehirnerschütterung behandelt hat. Sie haben behauptet, dass Sie die Treppe runtergefallen sind. Aber er hat Ihnen nicht geglaubt.“
Nicole senkte den Kopf und schloss die Augen. „Lassen Sie mich alleine“, flüsterte sie.
„Möchten Sie lieber mit einer Ärztin darüber sprechen?“
„Nein“, schrie sie. Ihr Kopf zuckte hoch. Sie bekam Panik. „Sie haben es doch niemandem erzählt, oder? Wer weiß davon?“
„Nicht mal Dr. Hartmann. Er hat seinen Verdacht geäußert, aber ich habe ihm nichts erzählt. Er weiß also nicht mehr als damals.“
„Und da?“ Sie wies auf das Klemmbrett. „Steht da was drin?“
Er warf einen kurzen Blick auf ihre Akte und lächelte. „Nein. Kein Wort. Aber Sie werden darüber reden müssen. Sie können nicht ihr ganzes Leben ...“
„Überlassen Sie das gefälligst mir“, fauchte sie, zog die Knie an und umklammerte sie mit beiden Armen. „Lassen Sie mich einfach in Ruhe, okay? Es geht niemanden was an. Auch Sie nicht.“
„Sie sollten sich einem Psychologen anvertrauen.“
„Nein.“
„Dann werden wir darüber reden.“
„Nein.“
„Dann mache ich einen Vermerk in der Akte.“
Sie sah ihn an und schüttelte wieder den Kopf, presste einen Moment die Lippen fest aufeinander. „Okay, aber Sie behalten das für sich.“
„Natürlich.“
„Können wir das Gespräch auf später verschieben? Jetzt möchte ich alleine sein.“
„Ich schicke Ihnen eine Schwester, die Ihnen ein Beruhigungsmittel bringt. Dann können Sie noch etwas schlafen und fühlen sich heute Abend bestimmt besser. Ich werde dann noch mal nach Ihnen sehen.“ Er erhob sich, nahm das Klemmbrett unter den Arm und ging zur Tür.
„Doc?“
Seine Hand lag bereits auf der Klinke, aber er drehte sich noch mal um. „Ja?“
„Wie lange bin ich schon hier?“
„Vier Tage.“
„Vier Tage? Um Himmels Willen, ich muss ins Büro. Ich ...“
„Sie müssen gar nichts. Sie ruhen sich jetzt aus.“
Rico, fuhr es ihr durch den Kopf. „Rico“, wiederholte sie laut und sah den Arzt fragend an. „Mein Hund. Wo ist er? Es muss sich doch jemand um ihn kümmern.“
„Der Dobermann?“
„Ja.“
„Ich werde mich erkundigen. Und jetzt sollten Sie schlafen.“ Er ging so schnell, dass Nicole keine weiteren Fragen mehr stellen konnte.
Höchstens zwei oder drei Minuten später kam eine kleine, zierliche Schwester mit einem Tablett rein, gab ihr eine Pille und etwas Wasser und lächelte aufmunternd. Nicole schwieg, nahm das Medikament und starrte an die Decke, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Langsam wurde es dunkel in dem Zimmer. Die Decke wurde erst grau, dann immer dunkler, bis sie schwarz war. Nicoles Lider schlossen sich und sie fiel in einen unruhigen Schlaf, träumte wirres Zeug von einem Mann, der auf Rico schoss, von einem Polizisten, der auf Rico schoss, von dem Park, in dem sie immer joggte, von einer goldenen Armbanduhr, die mitten auf dem Weg lag und ihr bekannt vorkam ...
„Nein!“ Nicole fuhr hoch, das Gesicht tränenüberströmt. Sie schrie immer wieder, rief nach ihrem Hund und wusste doch, dass es umsonst war. Die Wahrheit hatte sich in ihre Träume geschlichen und ihr vor Augen geführt, was passiert war. Rico ist tot! Wieder schrie sie, spürte den festen Griff an ihren Oberarmen, das Schütteln, ihr Kopf wurde vor und zurück geworfen, die Tränen liefen immer noch, sie schluchzte laut auf, konnte sich nicht beruhigen, schlug um sich, als sie an einen warmen Körper gedrückt wurde und starke Arme sie umschlossen hielten. Eine Hand streichelte beruhigend über ihr Haar. Nicole würgte, hustete, schlug immer wieder in den warmen, weichen Körper, der sie trösten wollte. So lange, bis sie keine Kraft mehr hatte und ihre Hände auf die Bettdecke sanken. Sie drückte ihr Gesicht an die Brust des Mannes, der sie festhielt, nicht losließ, bis sie wieder vollkommen ruhig war und schweigend die Tränen vergoss für den einzigen Freund, den sie je gehabt hatte.
Dr. Cooper drückte sie zurück in die Kissen, deckte sie zu und reichte ihr innerhalb der nächsten Stunde schweigend ein Taschentuch nach dem anderen. Wechselweise nahm er ihr die benutzten Tücher ab und entsorgte sie. Er gab ihr eine Spritze, wahrscheinlich ein Beruhigungsmittel. Es machte sie müde und sorgte dafür, dass sie ruhiger und entspannter wurde und ihr Körper aufhörte zu zittern, ihre Zähne nicht mehr aufeinander klapperten.
Eine weitere halbe Stunde später lag sie ruhig in ihrem Bett. Der Herzschlag hatte sich normalisiert und ihre grauen Zellen funktionierten zwar langsam, aber einwandfrei. „Warum hat er das getan?“, fragte sie leise, drehte den Kopf und sah den Mann an, der die ganze Zeit an ihrer Seite gewesen war.
„Er war auf der Flucht“, meinte er, beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel, die Hände gefaltet. „Er wollte weglaufen und Rico hat ihn daran gehindert. Er hat Panik bekommen und keinen anderen Ausweg gesehen, als seine Waffe zu benutzen.“ Er schwieg einen Moment und sah sie wieder an. „Es tut mir Leid.“
„Ihnen? Es tut Ihnen Leid? Sie haben damit doch gar nichts zu tun.“ Nicole fand es erschreckend, wie nüchtern ihre Stimme klang. Aber sie fühlte nichts. Nicht einmal mehr Trauer oder Wut, die sie über all die Jahre genährt hatte. Es war nur noch eine dumpfe Leere in ihr, die Rico hinterlassen hatte. Er war nicht nur ein Freund gewesen, sondern viel mehr. Er war das einzige Lebewesen, vor dem sie sich nie versteckt hatte, dem sie ihr Geheimnis anvertraute, mit dem sie redete und in dessen Gegenwart sie weinen durfte. Er war das einzige Lebewesen, das sie schwach gesehen hatte. Er hatte sie getröstet, war stets an ihrer Seite, ein treuer Begleiter eben, wie sie keinen wieder finden würde.
„Der Bürgermeister hat sich nach Ihnen erkundigt. Er möchte Sie besuchen.“
„Der Bürgermeister? Was will der denn?“
„Sie haben ihm das Leben gerettet. Oder vielmehr Rico.“
„Der Mann mit der Uhr war ...?“
Dr. Cooper lächelte. „Sie haben ihn nicht erkannt?“
„Nein“, gab sie leise zu. „Ist doch auch egal. Ich will ihn nicht sehen.“
„Er will sich bedanken. Die Blumen sind auch von ihm.“
Nicole sah auf. Erst jetzt nahm sie die Unmengen von Blumensträußen und Gestecken, Luftballons und Plüschtieren wahr, die die gesamte Wand am Fußende des Bettes einnahmen. „Bringen Sie das alles bitte weg. Ich will das nicht“, meinte sie, senkte den Blick und starrte auf ihre Hände, die gefaltet auf ihren Oberschenkeln lagen.
„Er ist sehr betroffen darüber, dass Rico erschossen wurde. Das hat er nicht gewollt.“
Nicole schüttelte den Kopf und schloss die Augen.
„Ich bleibe dabei und breche das Gespräch nach ein oder zwei Minuten ab, okay? Geben Sie ihm eine Chance, sich zu bedanken.“
„Hat er was abgekriegt?“
„Zwei Messerstiche in die linke Schulter. Etwas tiefer und der junge Mann hätte sein Herz getroffen.“
„Ist er ein guter Mensch?“
„Sie sollten nicht sein Leben gegen das von Rico abwägen“, meinte er, gerade so, als ob er ihre Gedanken lesen könnte. „Aber ja, er ist ein guter Mensch. Und er meint es ehrlich, dass es ihm Leid tut. Ein Officer hat sich auch nach Ihnen erkundigt. Malcom hieß er. Er wollte wissen, ob er noch etwas für Sie tun kann. Sie haben eine Menge Freunde.“
„Nein“, flüsterte sie. „Ich hatte nur einen Freund.“
„Geben Sie mir Ihre Hand.“
Nicoles Blick zuckte hoch- Sie sah auf seine ausgestreckte Hand, rührte sich aber nicht.
„Meinst du nicht, dass du mir vertrauen kannst?“
Es war das erste Mal seit fast vierzehn Jahren, dass sie zu einem Mann freundlich sein und ihn nicht verletzen wollte. Ganz langsam bewegte sie ihre Hand, hob sie an und legte sie in seine. Sie spürte die Wärme, die weiche Haut, den lockeren Griff, mit dem seine Finger ihre umschlossen, sich seine andere Hand darauf legte und sie festhielten.
„Danke.“
Sie drehte den Kopf ein wenig, sah auf die Hände, wurde sich bewusst, dass ihre Hand in seiner lag und kribbelte.
„Nicht alle Männer sind schlecht“, meinte er leise. „Natürlich gibt es schlechte Menschen, Männer wie Frauen. Und der junge Mann, der den Bürgermeister überfallen hat, war auch nicht alleine. Er hatte eine Partnerin. Ein siebzehnjähriges Mädchen. Du hast sie nicht gesehen, weil sie nicht mehr weglaufen konnte. Rico hat ihr in den Fuß und den Unterschenkel gebissen und der Bürgermeister konnte sie festhalten. Die Polizei hat sie ein paar hundert Meter weiter eingesammelt. Wie du siehst, teilt sich die Welt nicht in Mann und Frau, sondern in Gut und Böse.“
„Ein Mann wurde überfallen. Deswegen musste Rico sterben. Ein Mann hat Rico erschossen. Und es war ein Mann, der mich zu dem gemacht hat, was ich bin.“
„Aber es war ein männliches Wesen, das dich getröstet und begleitet hat. Rico war dir ein treuer Freund, oder nicht? Er war männlich.“
„Er war kastriert, also war er neutral“, beharrte sie.
„Hast du dein Gegenüber je gefragt, ob er schwul oder impotent ist? Die wären dann nämlich auch neutral.“
Sie sah ihn an und lächelte ganz leise. „Vielleicht hätte ich diese Frage wirklich stellen sollen. Und Sie? Sind Sie schwul?“
„Nein“, lachte er. „Und impotent bin ich auch nicht. Und trotzdem kannst du mir vertrauen.“
„Kann ich das wirklich?“
„Die Frage kannst nur du allein beantworten.“ Seine Finger streichelten über ihren Handrücken.
Sofort versteifte sich Nicoles ganzer Körper und ihre Hand zuckte etwas zurück.
„Wovor hast du Angst?“
„Ich will nicht, dass man mir noch einmal so weh tut, wie ...“
„Wie Ron? Meinst du, jeder Mann dort draußen will dir weh tun?“
Wieder sah sie ihn an, herausfordernd diesmal, eine Spur von Spott in der Stimme. „Wollen Sie leugnen, dass jeder verdammte Kerl da draußen lieber mit mir ins Bett gehen will, als sich mit mir zu unterhalten?“ Der Spott wurde deutlicher. „Und Sie? Würden Sie nicht auch liebend gern mit mir schlafen?“
„Ich will nichts leugnen, Nicole. Das hast du selbst schon lange genug getan. Natürlich wollen viele Männer mit dir schlafen. Sieh in den Spiegel. Du bist attraktiv und hast einen schönen Körper. Aber ist es anders rum nicht genauso? Frauen denken doch auch darüber nach, wie sie einen Mann ins Bett bekommen, wenn er ihnen gefällt. Das Geschlecht ist in Sachen Sex vollkommen egal. Beide Seiten denken oft und gern daran. Und das ist bei dir nicht anders. Du denkst auch oft an Sex. Jedes Mal, wenn du einen Mann siehst. Nur verbindest du Sex mit einem sehr schmerzhaften Erlebnis. Aber Sex kann so schön sein. Und genau das leugnest du. Du willst dich nicht davon überzeugen lassen, wie schön die Liebe sein kann, ein Kuss, oder einfach nur eine Berührung. Du willst an deinem Bild festhalten.“
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“
„Ob ich mit dir schlafen will?“ Er sah auf ihre Hände, strich wieder darüber und lächelte, als sie diesmal keine Reaktion zeigte. „Ja, warum auch nicht?“ Nicole zog ihre Hand zurück, aber er hielt sie fest, hatte damit gerechnet und sah ihr in die Augen. „Aber ich werde es nicht tun, weil zwei dazu gehören. Und ich weiß, dass ich nicht der Mann bin, mit dem du gern schlafen möchtest. Ich bin dein Freund, Nicole. Und genau das möchte ich sein. Vergiss Ron. Lass nicht zu, dass er dein ganzes Leben beherrscht. Das ist er nicht wert. Du kannst mit mir reden und du kannst mir hundertprozentig vertrauen. Aber die Bereitschaft dazu muss auch von dir kommen. In den nächsten Tagen wirst du aus dem Krankenhaus entlassen. Aber ich hoffe, dass wir uns trotzdem wiedersehen und miteinander reden. Denn genau das brauchst du. Und ich würde mich freuen, wenn du erkennst, dass du mir vertrauen kannst.“
Es klopfte und er ließ ihre Hand los, lächelte aufmunternd. „Denk darüber nach, okay?“ Er ging zur Tür, ließ Kim, Luzie, Carol und Pia rein, die vollbeladen mit Teddys, Blumen und Konfekt das Zimmer stürmten, durcheinander redeten und alles wissen und gleichzeitig erzählen und trösten wollten. Nicole umarmte Kim, sah zur Tür – und schenkte Dr. Cooper ein Lächeln.
„Hey, das ist aber ein sehr, sehr gutaussehender Arzt“, meinte Luzie und grinste breit. „Passiert da etwa gerade was, das du uns erzählen willst?“
„Er ist Arzt“, meinte Nicole, kurz bevor sie die Tür ins Schloss fallen hörte. „Und ich gebe zu, ein sehr guter“, fügte sie etwas leiser hinzu, ignorierte das fröhliche Johlen ihrer Freundinnen und winkte ab, als es nicht enden wollte. „Erzählt mir lieber, was im Büro los ist.“
Nicole konnte nicht schlafen. Sie dachte darüber nach, was ihre Freundinnen erzählt hatten. Zumindest wollte sie das. Aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab und sie fragte sich, warum sie damals überhaupt einen Rüden zu sich genommen hatte. Der ganze Wurf bestand aus Weibchen, Rico war der einzige Rüde. Damals wollte sie ein männliches Wesen um sich haben, das sie beherrschen konnte. Sie hatte ihn kastrieren lassen, um ihm die Lust zu nehmen, sich Hündinnen zu nähern und das zu tun, was ihr weh getan hatte. Aber sie hatte ihn von Anfang an geliebt, ihn geradezu vergöttert. Ihre Termine und Bürozeiten wurden nach Ricos Bedürfnissen ausgerichtet. Es blieb immer genug Zeit für lange Spaziergänge und selbst beim schlechtesten Wetter war sie mit ihm durch den Park gelaufen. Sie hatte viel Zeit auf dem Hundeplatz verbracht, hatte zugesehen, wie er mit anderen Hunden spielte und glücklich war. Und genau das hatte ihr Freude gemacht. Und nun war Rico nicht mehr da. Ausgelöscht. Nichts weiter als ein Haufen Asche, den der Bürgermeister in eine hübsche Urne hatte stecken lassen, verziert mit dem Abbild eines Dobermanns und einem netten Spruch. Rico war im Moment der berühmteste Hund in der Stadt. Kim und Pia hatten Zeitungsausschnitte gesammelt und mitgebracht. Einen ganzen Schuhkarton voll. Auch über sie wurde geschrieben und darüber, dass der Presse keine Auskunft über ihren Gesundheitszustand gegeben wurde. Es gab viele Leute, die ihr einen neuen Hund schenken wollten, nicht nur Dobermänner. Aber Nicole würde keinen annehmen. Rico war einzigartig und nicht zu ersetzen. Und sie selbst würde wohl nie wieder so eine Beziehung zu einem Hund zulassen. Das wollte sie keinem Tier antun. Das hatte kein Tier verdient.
Ihr Leben hatte sich von einem Moment auf den anderen verändert. Sie würde ohne Rico joggen gehen, nie wieder aus Versehen ein Wassernapf mit der Schuhspitze anstoßen, dass ein fürsorglicher Kellner unter dem Tisch platziert hatte, zusammen mit einem leckeren Knochen, den Rico prinzipiell ignorierte. Und sie hatte mit einem Mann geredet. Und diese Gespräche gingen zweifellos über seinen Auftrag als Arzt hinaus, denn er war kein Psychiater. Er war ein Freund. Erstaunlicherweise war sie gern mit ihm zusammen und freute sich bereits darauf, dass er wiederkam, sie die Unterhaltung fortsetzen konnten und er lächelte. Und die Berührung seiner Hand war auch nicht unangenehm. Noch immer fühlte sie das Kribbeln in ihrer Hand, wenn sie daran zurückdachte. Was, wenn mehr passierte?
Die Tür ging auf, ließ einen schmalen Lichtstreifen auf den Boden fallen, der weiterkroch, das Bett hoch und am Fußende die Bettdecke und ihre nackten Füße aus der Dunkelheit hob. Nicole sah einen menschlichen Umriss, den dünnen Strahl einer Bleistiftleuchte, der über den Boden huschte, bis zu ihrem Bett und darunter verschwand. Sie tastete zum Lichtschalter über ihrem Kopf. Das Licht flammte auf und zeigte ihr als späten Besucher Dr. Cooper, in Jeans und einem weißem T-Shirt, den Kittel über dem Arm.
Er lächelte. „Entschuldigung. Ich wollte dich nicht wecken.“
„Ich war wach. Was ist los?“
„Ich habe meinen Pieper irgendwo verloren und wollte nachsehen, ob er hier liegt. Da ist er ja“, meinte er, kam zum Bett und beugte sich tief runter. Er hob die kleine Elektronik vom Boden auf, sah drauf und steckte ihn zufrieden ein. „Das war’s schon. Gute Nacht.“
„Dr. Cooper?“
„Ja?“
„Wie heißt du eigentlich mit Vornamen?“
„Andrew. Aber meine Freunde nennen mich Andy.“
„Meine Freundinnen nennen mich Nicki. Ist das nicht albern?“
„Nein. Irgendwie passt der Name zu dir.“
„Hast du Feierabend?“
„Ja.“
„Würdest du dich noch einen Moment zu mir setzen? Oder hast du etwas anderes vor? Dann ist es schon okay, ich meine, ...“
„Ich habe Zeit“, meinte er, ließ die Tür ins Schloss fallen und setzte sich neben sie auf die Bettkante. Den Kittel legte er über das Fußende, faltete die Hände im Schoss und sah sie an. „Deine Freundinnen sind recht ... lebhaft.“
„Ja. Luzie meint, dass du ein sehr gutaussehender Mann bist.“
„Richte ihr meinen Dank aus. Das finde ich übrigens auch.“
„Was? Das du ...?“
„Auch, ja. Aber Luzie ist doch diese kleine blonde mit der hohen Stimme, oder?“
„Ja.“ Warum störte es sie, was er über Luzie sagte? „Und die anderen? Kim? Blonde Löwenmähne“, erklärte sie.
„Warum fragst du?“
„Kim würde sofort mit dir ins Bett gehen“, platzte sie raus und spürte, wie ihr sofort das Blut in die Wangen schoss.
Andy lachte, griff nach ihrer Hand und sah sie an. Seine Augen funkelten vergnügt. „Das ist sehr schmeichelhaft für mich.“
„Aber?“
„Kein aber.“
„Dann würdest du ...? Ich meine, dann willst du auch ...?“
„Nein, ich würde und will nicht“, meinte er und strich mit dem Finger über ihre Wange. „Ich sagte nur, dass ich es schmeichelhaft finde, wenn eine Frau mit mir schlafen will.“
„Ist es das? Schmeichelhaft?“
„Für mich schon. Ich finde, dass es eins der schönsten Komplimente ist, die man bekommen kann. Und als solches sollte man es auch annehmen. Was man daraus macht, bleibt jedem selbst überlassen.“
„Dann hast du mir heute auch ein Kompliment gemacht, als du sagtest, dass du gern mit mir schlafen würdest?“
„Natürlich.“
„Aber du willst es nicht.“
„Doch, ich will es schon. Aber du nicht. Trotzdem bleibt es ein Kompliment. Von mir, von deinen Geschäftspartnern und von der Presse. Wusstest du, dass du für die Menschen interessanter bist als die First Lady? Für Männer und Frauen, wohlgemerkt. Wenn das kein Kompliment ist.“
„Sie schließen Wetten ab, wer mich als erstes rumkriegt. Und wann.“
„Na und? Es ist nur ein Spiel, Nicole. Du magst es als lästig empfinden. Aber das ändert sich, wenn du dieses Spiel mitspielst. Das wird lustig, glaub mir.“
„Soll ich etwa auch wetten?“
„Das würde zweifellos für Aufsehen sorgen. Aber, nein, das meine ich nicht. Ein Beispiel.“ Er zog das linke Knie auf das Bett und wandte sich ihr zu. „Ich habe dich im Fernsehen gesehen, als du in dieses Restaurant gegangen bist. Der Sprecher meinte, dass du dich dort mit Jonathan Dunmore triffst. Deinem zukünftigen Geschäftspartner und ein Schürzenjäger, wie er im Buche steht. Und schon liefen wieder Wetten, ob er es schafft, dich rumzukriegen. Du hast vor dem Restaurant kein Interview gegeben. Aber was, wenn du es doch getan hättest? Was, wenn du dich an den Spekulationen beteiligst? Zum Beispiel hättest du dir ein Bild von ihm zeigen lassen können und gesagt Gut sieht er ja aus der Bursche. Aber wir wollen doch mal sehen, ob er mit dem Kopf genauso viel anfangen kann wie mit seinem Unterleib. Verstehst du? Stell sie einfach alle öffentlich auf den Prüfstand. Die Medien werden dir dankbar sein und du wirst eine Menge Spaß dabei haben. Die Männer werden sich nicht ändern, denn sie wollen dir gefallen. Gestern, heute und morgen auch noch.“
Nicole musste tatsächlich lachen. „Und so was soll ich sagen? Vor laufender Kamera?“
„Natürlich. Wo bleibt denn sonst der Spaß für dich? Treib es mit ihnen genauso bunt wie sie mit dir. Ruf in der Redaktion irgendeiner Zeitung an und beschwer dich darüber, dass dich noch nie jemand nach einem privaten Interview gefragt hat. Das spekuliert wird, aber niemand nachsehen will, wie du wirklich bist. So bestimmst du wesentlich die Richtung und die Informationen mit, die veröffentlicht werden. Und wenn die Reporter merken, dass du dieses Spiel mindestens genauso gut beherrscht, werden sie dich auch nicht bei jeder Gelegenheit belagern, sondern sie werden freundlicher sein und die Informationen nehmen, mit denen du sie fütterst.“
„Und das funktioniert?“
„Probier es aus.“
„Ich weiß nicht ...“
„Du traust dir einfach viel zu wenig zu. Im Geschäftsleben bist du ein Draufgänger und zeigst jedem, was du willst und du bestimmst, wo es langgeht. Warum nicht auch außerhalb des Büros oder der Konferenzräume? Du bist in der Position, um genau das zu bestimmten. Wo es lang geht. Wenn du dich versteckst und ein Geheimnis aus dir und deinem Leben machst, wist du verfolgt, ausspioniert und es wird gedruckt, was in deine Termine und dein Verhalten hineininterpretiert wird. Tu doch einfach was du willst und steh dazu. Das Leben hier draußen ist nicht anders als das in deinem Büro. Es ist nur ein anderer Spielplatz.“
„Bist du sicher, dass du kein Psychiater bist?“, lachte sie und umschloss mit den Fingern seine Hand. Ein eigenartiges Gefühl. Aber schön.
„Wieso? Höre ich mich wie einer an?“
„Fast.“
„Fast? Na, dann habe ich ja noch eine Chance.“
„Ja“, flüsterte sie, zog ihre Hand aus seiner und strich ganz vorsichtig über seine Wange. Die Haut war rau von den Bartstoppeln, gleichzeitig warm und weich, angenehm, nein, aufregend anzufassen. Sie sah fasziniert zu, wie ihre Hand ihn streichelte, ihre Finger die Konturen seines Gesichts nachzeichneten und es auf eine ganz andere, intime Art kennenlernten. Sie schluckte, vergaß zu lächeln und sah nur mit großen Augen zu, was sie tat.
Andy griff nach ihrem Ellenbogen, ließ seine Finger über ihren Unterarm hoch zu ihrer Hand streichen und löste damit ein eigenartiges Gefühl bei ihr aus. Er legte seine Hand auf ihre, schob sie vor seinen Mund und küsste sie ganz sanft in die Innenfläche und auf ihre Fingerspitzen. Dann nahm er ihre Hand in seine, hielt sie mit beiden Händen fest und lächelte. „Ich gehe jetzt besser. Und du solltest versuchen zu schlafen.“
„Warum? War es falsch, dass ich ...?“
„Nein, nein, bestimmt nicht. Aber es gibt etwas, das du wissen solltest.“
„Was? Bist du verheiratet?“ Grausamer Gedanke.
„Nein.“
„Verlobt? Hast du eine Freundin?“
„Nein, und nein, weder noch.“ Wieder strich seine Hand über ihre Wange und seine Augen funkelten. Trotzdem sah er ein wenig traurig aus, als täte ihm Leid, was er zu sagen hatte.
„Dann will ich es nicht wissen. Es ist egal.“
„Nein, es ist nicht egal.“
„Ich will es nicht wissen“, wiederholte sie, schob die Bettdecke weg und kniete sich hin. Ihr Bein war kaum eine Handbreit von seinem entfernt. Sie konnte durch den dünnen Stoff des Pyjamas seine Körperwärme spüren, sah die Überraschung in seinem Gesicht. Und noch bevor er Gegenmaßnahmen ergreifen oder sie es sich anders überlegen konnte, umarmte sie ihn. Sie drückte ihr Gesicht in seine Halsbeuge, hielt ihn ganz fest und seufzte, als er die Umarmung erwiderte, zögernd, als wäre er sich nicht sicher, dass es richtig war. Aber genau das war es. Die Wärme, die plötzlich ihren Körper ausfüllte, eine Geborgenheit, die sie noch nie so empfunden hatte, ließen sie lächeln. Sie seufzte, hob den Kopf an und strich wieder über sein Gesicht, fühlte ihn intensiv und genoss diese Berührung. Eine gänzlich andere Art von Gefühl machte sich in ihrem Busen bemerkbar, der über seinen Brustkorb rieb und bei jedem Atemzug kribbelte. Und dieses Kribbeln wanderte weiter, breitete sich aus und erreichte ihren Schoss, je länger sie ihn im Arm hielt. Sie sah ihm in die Augen, sah die Überraschung, fühlte seine Hände auf ihrem Rücken, die vollkommen still lagen und sie hielten. Ganz langsam beugte sie sich vor, strich mit den Lippen über seinen Mund, so wie er es bei ihrer Hand getan hatte – und seufzte ob des wohligen Gefühls, das sie augenblicklich ergriff. Ihr Kuss war sanft, eine Frage und Antwort zugleich, forderte eine Reaktion, die prompt erfolgte. Seine Arme umschlossen sie fester, zogen sie an seinen Brustkorb und seine Lippen drückten sich fest auf ihre. Seine Zungenspitze kam hervor, begehrte Einlass und erforschte ihren Mund. Nicole wusste gar nicht, wie ihr geschah. Es passierte einfach – und sie ließ es geschehen. Es war berauschend. Schöner noch, als sie mit ihrem Po von den Fersen auf die Matratze rutschte, sich zur Seite beugte und ihn mit sich zog. Ganz vorsichtig kam sie auf dem Rücken zu liegen, hielt ihn fest, wollte nicht loslassen, nur noch fühlen, was er mit seinen Händen und Lippen tat. Und eben diese begaben sich auf Wanderschaft, fuhren über ihren Hals zum Brustansatz. Automatisch bog sie den Rücken durch und hob sich ihm entgegen, seufzte wieder. Seine Hand wanderte zu ihrer Hüfte, strich darüber und kam ganz langsam weiter nach oben, schob dabei das Pyjamaoberteil hoch, erreichte den Gummizug ihrer Hose und fuhr darüber direkt auf ihre nackte Haut. Nicoles Bauchmuskulatur zuckte. Im Bruchteil einer Sekunde bekam sie Panik, verkrampfte sich und wurde stocksteif. Der Zauber war gebrochen.
Andy löste sich von ihr, küsste sie noch einmal kurz auf die Stirn, zog ihr Oberteil wieder herunter und lächelte. Dann stand er auf, sah sie aber immer noch an. „Wow“, sagte er und sein Lächeln wurde breiter. „Du bist eine gefährliche Frau, Nicole.“
Sie setzte sich im Schneidersitz auf das Bett und strich überflüssigerweise die Bettdecke zur linken glatt. „Es tut mir Leid, Andy. Ich wollte nicht ...“
„Nein“, unterbrach er sie, nahm sie bei den Schultern und beugte sich vor, sah sie von unten herauf an. „Mir tut es Leid. Ich hätte mich nicht darauf einlassen dürfen“, meinte er etwas leiser und lachte. „Aber wie kann man einer Frau wie dir widerstehen? Nur, glaub mir, ich bin wirklich nicht der Richtige für dich. Nicht, weil ich es nicht will, sondern weil du etwas Besseres verdient hast.“
„Sag so was nicht, bitte.“
Er strich ihr über die Wange und sah sie zärtlich an. „Gute Nacht. Träum was Schönes.“
„Gute Nacht.“ Nicole sah ihm hinterher, blieb noch sitzen und wartete, worauf auch immer. Und dann lächelte sie, fuhr sich mit den Fingern über die Lippen und ließ sich zur Seite kippen. Sie kuschelte sich in ihre Bettdecke und schlief mit einem Lächeln ein.